Bürgernahe Politik: „Provinziell und konservativ“ oder „gläubig“?

Wenn wir den amerikanischen Wahlkampf aus europäischer Fernsicht betrachten, fassen wir uns in regelmäßigen Abständen europäisch vernünftig an den Kopf. Zu haarsträubend sind Ansichten wie etwa, dass ein Krieg eine Aufgabe Gottes, Ehe gleichgeschlechtlich Liebender unnatürlich oder ein Krieg gegen Russland eine normale Option sein soll.

Wenn Europäer den amerikanischen Präsidenten wählen dürften, würden sie regelmäßig den Kandidaten der Demokraten wählen und ihn mit Ergebnissen, wie wir sie seit dem Ende der DDR nicht mehr kennen, ins Amt hieven und den republikanischen Kandidaten auf den Mond schießen.

Nun ist uns das leider nicht vergönnt. Wir bleiben fragend zurück und wundern uns, wie es möglich ist, dass John McCain die Wählerumfragen anführt. John Stewart bringt all diese Verwunderung gegen Mike Huckabee treffend zum Ausdruck, in dem er ihn fragt: „Do you fell like your Party is the only one [that] can fix the damage, that your Party has done?“ Als Profi stellt er sie so, dass Huckabee gar nicht mehr in Verlegenheit kommt, antworten zu müssen. (siehe hier)

Sind die Amerikaner tatsächlich so dumm? Ist ihre Weltsicht so eingeschränkt, dass sie nicht darüber nachdenken wollen, was die 2 Mrd. Dollar, die wöchentlich im Irak sprichwörtlich verpulvert werden, bedeuten könnten, wenn man sie im Inland, für sie, einsetzt?

Diese Fragen werden der Situation und ihrer Protagonisten natürlich nicht gerecht. Auf der einen Seite gibt es in Amerika eine bürgerliche kritische Masse, die weltweit ihres Gleichen sucht. Es gibt „das andere Amerika“, das Rekrutierungszentren der Armee blockiert, sich in Gemeinschaften organisiert, einfach „vernünftig“ lebt und drängende Fragen öffentlich stellt. Es gibt politisch interessierte und engagierte Menschen, die die Parteitage stürmen, Briefe an ihre Gouverneure schreiben, ihren Sheriff mit bedacht wählen, auch manchmal vor dem Rathaus im Kreis demonstrieren und ihre Meinungen bekunden.

Es gibt aber eben auch diejenigen, die all dies nicht tun und schlicht McCain wählen werden. Leute, die über Bundespolitik nicht groß nachdenken, die nicht wissen, dass es zwischen Irak und Pakistan keine Grenze gibt, die noch nie in New York, Boston, Los Angeles oder San Francisco waren und ihrem Arbeitsplatz am Fließband hinterhertrauern, wenn sie ihn verlieren. Das sind Menschen, wie wir sie in Deutschland auch haben, die wir als „dumm“ oder gleichbedeutend aber anders ausgedrückt als „konservativ“ und „provinziell“ beschreiben.

Die beiden Begriffe sind nicht grundsätzlich negativ besetzt. In weiten Teilen der Jugend und Nicht-CDU/CSU-Wähler haben sie aber eine eindeutige Konotation. Wertfrei betrachtet bedeuten „konservativ“ und „provinziell“ jedoch nur, dass die eigene Lebenswelt möglichst so bleiben soll, wie sie ist. Lebenswelt bezieht sich auf „provinziell“ und meint, die Umwelt, die unmittelbar erlebt werden kann, für die man keinen Fernseher oder andere Massenmedien und keine Organisationen braucht. Die Provinz ist der Ort, der den Sinnen direkt zur Verfügung steht. Der Alltag als ganze Welt. Alle sozialen Bezüge ergeben sich hier allein durch Interaktion, wie im antiken Griechenland.

Dies lässt sich heute natürlich kaum mehr ermöglichen. „Globalisierung“, Konkurrenz, Leistung, usw. sind die neuen semantischen Triebfedern, die das und-so-weiter bedeuten. Nur wird bei der Diskussion dieses Gegensatzes, vor allem von denen die „provinziell“ und „konservativ“ als quasi-Schimpfwort benutzen, eins vergessen: Alles was hinter dem Horizont der Provinz liegt, ist nur durch Glaube erreichbar.

Irak-Krieg: gut oder schlecht? Geht es um Öl oder um Demokratie? Sollten sich die Investmentbanken selbst retten oder sollte der Staat, und damit alle, die 300 Mrd. bezahlen? Sollten alle 300 Mio. Amerikaner verpflichtend krankenversichert werden oder nicht? Lebten die Dinos vor 6000 Jahren mit uns oder starben sie schon vor 65 Mio. Jahren aus? All das sind Glaubensfragen. Bei politischen Links-Rechts-Debatten, wissenschaftlichen Methodenstreiterein, medizinischen Diagnosen und Behandlungsempfehlungen oder pädagogischen Engagements für private Ganztagsschulen handelt es sich nicht um Fragen nach Wissen oder der Intelligenz sondern um puren Voodookram. Alle Wirtschaftswissenschaftler, die dieser Tage auf Nachfragen zur Finanzkrise nicht mit „Ich glaube, dass …“ beginnen, sind besserwisserische Lügner.

Es ist also absolut natürlich und verständlich, wenn sich Amerikaner ohne höhere Bildung, ohne Karriereambitionen und ohne gesellschaftliche Voraussicht nicht um die Kandidaten fürs Präsidentenamt sondern um ihre Provinz sorgen aber dennoch entscheiden, wenn sie gefragt werden. Viel unnatürlicher und beinah absurd ist es, von jedem zu verlangen, sich Gedanken über die Belange von 300 Mio. Amerikanern und den Rest der Welt machen zu müssen.

Wer als Amerikaner Probleme mit seiner Lebenswelt, also in seiner Provinz, hat, geht zum Bürgermeister oder dem ebenfalls von ihm gewählten Sheriff und redet mit ihm. Falls es um weiterreichende Angelegenheiten geht, schreibt man einen Brief an seinen Gouverneur, der mit hoher Wahrscheinlichkeit persönlich unterschrieben antwortet. Der Präsident spielt allenfalls als Wahlkämpfer oder in Filmen eine Rolle. Die eigene Lebenswelt wird von ihm nicht tangiert. Es sei denn, er kommt mal zu Besuch. Dann ist für diesen Moment die Provinz jedoch nicht wiederzuerkennen. Die alltägliche Lebenswelt und der Präsident – das sind in Amerika unterschiedliche Kategorien, die sich gegenseitig ausschließen.

Die „provinziellen“ und „konservativen“ Meinungsführer sitzen im amerikanischen Wahlkampf also grundsätzlich an einem längeren Hebel. Wer zum Thema Irak mehr als „Victory“ zu sagen hat, hat es schwer. Eine aufgezwungene Pflichtversicherung aus dem fernen Washington ist ebenfalls nicht zu erreichen. Viel lieber setzt man sich höchstpersönlich direkt mit seinem Arbeitgeber auseinander. Usw.

All das ist nicht auf individuelle Dummheit, „Provinzialität“ und „Konservativismus“ zurückzuführen, sondern eine strukturbedingte Eigenheit amerikanischer Lebensführung, die wir in Europa nicht kennen und daher auch nicht wirklich verstehen.

1 Kommentar

  1. Enno Aljets sagt:

    Interessant an der Unterscheidung der Ausrichtung der Lebenswelt provinziell/globalisiert, ist doch die moralische Konnotation von gut, bzw. klug und schlecht, bzw. dumm. Als wenn das eine nicht das andere bedingen würde! Globalisierte Anforderungen führen nicht selten zu lokaler Verwurzelung oder gar Abschottung. Das globalisiert Amerika bietet dafür wohl das beste Anschauungsmaterial. Mal davon abgesehen, dass Richard Sennet den Amerikanern eine effektive Analphabeten-Quote von ca. 30% unterstellt, ist die USA das Volk, das sich neben den Nordkoreanern am wenigsten mit dem Phänomen der Globalisierung auseinandersetzt, wenn man das Handeln der Einzelnen betrachtet. Insofern passt deine Analyse bestens in das Bild. Die eigenen Angelegenheiten werden vor der Haustür geregelt, den Rest erledigen andere.

    Zum Vergleich zwischen Europa und den USA, bzw. der Frage, wer wen wählen würde, wäre noch hinzuzufügen, dass der Europäer, der lokal verängstlicht, vermeintlich dumm zuhause sitzt, auch bei der Wahl zuhause bleibt und sich nicht beteiligt. Dementsprechend fallen die Meinungsumfragen aus: Nichts als nichtssagende Statistik…

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