Zwei Portionen Kulturoptimismus

Maschinen helfen nur bei bekannten Problemen

Die Überlegungen zum „Kulturpessimismus“ (hier sollte eigentlich auf einen Text von Kathrin Passig verlinkt werden, der Merkur hat ihn aber depubliziert) bekamen für mich die letzten Wochen neue Attraktivität, seit ich gelesen habe, wie deutsch dieses Phänomen ist. Ängste und Vorbehalte werden der deutschen Kultur ja in vielen Bereichen unterstellt, doch hier scheint es noch besonderer zu sein. Immerhin gibt es New Yorker Autoren, die ganze Bücher zu ihrem kulturpessimistischen Erleben schreiben und dann von einer deutschen Zeitung per Interviewfrage erfahren, dass es dazu im alten Europa bereits eine in Jahrhunderten kondensierte Geisteshaltung gibt. Die Begeisterung darüber ist dann, zumindest in dem Einzelfall, so groß, dass der Titel „Kulturpessimist“ direkt mit auf den Grabstein soll. In Amerika beginnt man, sich Gedanken zu machen. Was Manufakturen, Maschinen und Metropolen nicht schafften, erledigt jetzt die Computerisierung: gesellschaftliche Debatten zu „Moral Panic“.

Es ist aber nicht verkehrt, das Phänomen (Computerisierung) in einen großen historischen Kontext zu betten. Das, was uns die letzten 30 Jahre lehren, wird besser greifbar, wenn man es in den Rahmen der letzten 300 Jahre einspannt. Und es ist auch nicht verkehrt, die Erklärungen zur Etablierung der Computer mit dem heutigen Verständnis der Erfindung des Druckens zu konturieren. Denn vieles, was heute zu sehen und kritisch zu begleiten ist, ist überhaupt nur erkennbar, weil der Buchdruck die Problemperspektive eröffnet hat. Ein ganz zentraler, interessanter Widerspruch ist folgender: Erst das Drucken ermöglicht die Trennung von Botschaft und Überbringer, erst durch ihn entsteht das Phänomen der eindeutigen Autorenschaft und mit ihm die gesellschaftstragende Idee der Autorität. Aber, die Einführung des Autoren in die Kommunikation hat ihn gleichsam entmachtet und alle Deutungshoheit dem verstehenden (und abwesenden) Leser zugeteilt. Die Idee der Kontrolle und ihre Zuschreibung dem Autoren hat die gesellschaftliche Kommunikation wahrscheinlich so sehr fasziniert, weil sie immer im krassen Widerspruch zur gesellschaftlichen Struktur stand und man sich immer dachte: Das kann doch eigentlich gar nicht sein. Mittlerweile, da das Internet eine Aufgabe der Massenmedien übernimmt, und die Gesellschaft immer mehr thematisiert wird, ohne dass („alte“) Autoren und Autorität im Mittelpunkt stehen, erkennt man, welcher Voraussetzungen es bedarf, die Gesellschaft massenmedial tatsächlich zu steuern. Allenfalls Figuren wie Rupert Murdoch und Leo Kirch konnten zählbaren, gesellschaftlichen „Manipulationserfolg“ erzielen, unter Einsatz riesiger, diktatorisch geführter Organisationen und zehnstelligen Finanzbewegungen. Diese Zeiten sind jetzt jedoch vorbei. Zeitungen wie die BILD kleben noch in der Vergangenheit, machen sich damit aber eher lächerlich.

Die neue Welt ist anders, sie hat sich von der Idee der Autorität verabschiedet. Google, Facebook, Apple stellen nur noch Rahmen bereit und überlassen den Inhalt beinah vollständig „dem Nutzer“. Und die Fragen, die nun gestellt werden, richten sich zurecht auf diese Rahmen. Bei Google sind es die Algorithmen, bei Apple ist es das wahnsinnige 70% / 30% – Geschäftsmodell. Es gilt zu klären, wieviel gesellschaftliches Steuerungspotenzial sich durch die Organisationsentscheidungen der neuen Big Player ergibt. Darüber ist zu reden. In Deutschland tut das mit massenmedialem Nachdruck eigentlich nur Frank Schirrmacher. Und obwohl ich sein Problembewusstsein umfänglich teile, würde ich einer Idee (die ich allerdings mit meinem obigen Problemaufzug reformuliere) mittels kurzer These widersprechen: Die „alte“ Autorität der Massenmedien wurde nicht in eine „neue“ Autorität der google‘schen Algorithmen-Schreiber transformiert. Oder: (historisch neutral / absolut beobachtet, weil auch Schirrmacher hier keine Transformation unterstellt) Google verändert die Gesellschaft fundamental, hat aber selber auch keine Kontrolle darüber.

Es ist sozusagen eine sehr kulturoptimistische Sicht auf die aktuellen, akuten Veränderungen, wenn man in Google noch eine (bzw. die richtige) Adresse sieht, um ins Geschehen eingreifen zu können.

Die großen Firmen, die immer wieder genannt werden (Apple, Facebook, Google), haben die Fähigkeiten, Geld zu verdienen. Jedes Mal, und das trifft besonders auf Eric Schmidt zu, wenn sie sich inhaltlich äußern, erkennt man in ihnen aber einen – so frech bin ich – kindlichen, naiven Größenwahn, als ob sie nie vom Zauberlehrling gehört haben. Ich rechne das dem Umstand zu, dass man als Google-(Ex-)Chef im eigenen Unternehmen nur noch mit unabhängigen, unkontrollierbaren Spezialpersonal zu tun hat und von daher selbst das größte Alphatier spielen muss, das sich dann immer wieder mit wahnwitzigen aber die Legenden untermauernden Sprüchen profiliert.

Sofern man sich ausschließlich für gesellschaftliche Folgen der Digitalisierung interessiert, was nur geht, wenn man keine eigenen Werke einem Apple-Vertriebsmodell oder einem Google-Algorithmus aussetzen muss, kann man die Akteure und ihr Gerede ignorieren. Frank Schirrmacher machte das letzten Sonntag. Da ging es nicht um Google und Facebook, sondern um die Zeit selbst. Aber auch hier ist es, historisch-soziologisch, kein prinzipiell, sondern nur inhaltlich neues Phänomen. Dass die Gesellschaft ihre einheitliche Moral/Vernunft in mannigfaltige Rationalitäten aufgelöst hat, ist die Erfahrung der letzten 150 Jahre. Zu dieser sachlichen Dezentralisierung gesellt sich heute, beinah sprungartig, die zeitliche Desynchronisierung. Die Trennung von Haus und Hof, die Unterscheidung von Organisation und Gesellschaft, die Aufspaltung von Freunde und Familie bekommt nun ihr i-Tüpfelchen mit der Trennung von sinnlichem und technologievermitteltem Erleben, das in jedem Lebensbereich Einzug erhält.

Es passt vieles nicht mehr ins gewohnte Bild und die Frage, ob es nun innerer oder äußerlicher Anpassung bedarf, ist noch nicht entschieden und gehört wohl auch zu den unentscheidbaren aber stets Handlungsdruck erzeugenden Fragen. Darüber wird viel zu wenig diskutiert. Im Deutschsprachigen dominiert zuweilen der Kulturpessimismus. Der häufig zurecht als Technikverweigerung markiert wird. Auf der anderen Seite jedoch, enteilen die wenigen Early Adopters die es hierzulande gibt, ihrem eigenen Erleben so sehr, dass sie gar nicht beschreiben können, was sie eigentlich tun. Statt über sich selbst, ihr Erleben und Verhalten zu reden, konturieren sie sich in der Beschimpfung der „Internetnichtversteher“. Manchmal bekommt man den Eindruck, man müsste den Begriff Herdentrieb ummünzen. Seit Rivva wieder da ist, kann man bei jeder Sau, die durchs gar nicht so globale Dorf getrieben wird, sehen, dass es immer wieder neu einen konstruktiven Aufhänger gibt, dann einen Beschimpfungstweet von Mario Sixtus und 150 Leute, die ihn retweeten. Das ist dann die Diskussion. Ab und an blinzelt man dann kurz, fragt sich, warum man als Hypermoderner-Internetnutzer keine Relevanz hat und keine Resonanz erzeugt aber bevor es eine zweite Antwort auf diese Frage gibt rollt der nächste Verlegerkopf durch die Szenerie und lässt die alte Mechanik wieder einrasten.

Es ist schon bezeichnend, dass gerade im Internet nur dann Kritik möglich ist, wenn sie vom prominentesten, reichweitenstärksten und auffälligsten Akteur kommt. Denn außer Sascha Lobos fulminanter Spiegel-Online-Kolumne, ist man nicht bereit, irgendwas oder irgendwen als kritisch und intern (inhaltlich anschlussfähig) zu beobachten. Aber solange eine Diskussion derart auf Ideologie (Sixtus) und Autorität (Lobo) angewiesen ist, um überhaupt ein Fünkchen konstruktiv zu sein, gilt als Fundamentalkritik eines: Wir leben nicht mehr in den 80ern. (Und Sebastian würde zurecht anmerken: „Ja, ich meine 1880!“)

Vielleicht ist es so, und ich lasse mich da nicht durch meine eigene journalistische Zukunft zu Verklärungen hinreißen, wie es der letzte prognostizierende Gedanke des Schirrmacher-Zeit-Textes vorwegnimmt:

Es könnte sein, dass Zeitungen und Zeitschriften und die seriösen Nachrichtensendungen eine ganz andere Zukunft haben. Sie wären das letzte verbliebene Kommunikationsmittel, die in einer elektronischen Welt die Zeit biologisch organisieren: gleichsam mit Aufgang und Untergang der Sonne.

Denn durch die Privatmeinungskultur des Internets erhalten die Massenmedien ihre Kontur von außen. Sie müssen nämlich nicht mit Twitter und Facebook mithalten, sich nur wenig um ihre Distribution nach der Bezahlung kümmern und dem Echtzeit-Stress folgen – sie müssen aber genau das beobachtend ergänzen. Vielleicht schält sich die nächsten Jahre eine ganz neue normative Journalismustheorie heraus. Die würde dann nicht mehr auf Begleitung und Ermöglichung demokratischer Diskussion und Teilhabe hinauslaufen, sondern auf Chaosbewältigung und Orientierungshilfe. Und auch wenn diese Grundlegung wie jede gute normative Theorie der tatsächlichen Welt widerspricht, lassen sich doch genügend Handlungsempfehlungen aus solchen Überlegungen ableiten, um ein Jahrhundert Sinn und Zweck organisierter Massenmedien zu rechtfertigen. Und damit wäre dann gerade das kommende Jahrhundert gemeint.

(Diese Nachbereitung der Schirrmacher-Überlegungen, die Christoph Kappes initiiert hat, sind interessant zu lesen und darüberhinaus interessant zu finden.)

(Bild: Jeremy Page)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

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