Wir sind alle noch viel mehr wert

Warum wird ein erfolgreiches Geschäft eigentlich als „Abschluss“ bezeichnet? Es kann doch der Beginn einer langen Beziehung sein. Diese Frage stellte sich Amazon, als es Andreas Weigend beauftragte, mit einem Team den „Kunden-kauften-auch“-Algorithmus zu entwickeln. Jeder Abschluss war fortan ein Anfang. Zufriedene Kunden gaben Amazon recht und die Firma dachte weiter. Heute fragt sich Amazon, ob Kunden nicht auch Produkte sein können. Aus der Idee, Menschen zu verkaufen, hat Google immerhin ein noch größeres Geschäft gemacht als Amazon mit dem Absatz von Waren. Amazon schweigt, doch die Strategie ist erkennbar. 500 Millionen Dollar Umsatz mit Kundendaten, das ist nur der Anfang.

Ein guter Grund für Google aufzurüsten. Bislang schöpfte das Unternehmen seinen Datenschatz aus der Katalogisierung von Suchbegriffen. Die Menschen lernten es schnell: Wer Häuser suchte, fragte Google nach „Haus“ und wer wissen wollte, was in Stuttgart im Kino läuft, suchte nach „Kino Stuttgart“. Der Verkauf attraktiver Substantive reicht Google aber längst nicht mehr. Die Suche soll stattdessen in die Gehirne der Menschen eingebaut sein, sagt Larry Page, ein Google-Gründer, vor einer halben Ewigkeit. Jetzt soll es so weit sein. Über die Telefone lassen sich die Datenbanken bereits per Sprache erreichen und demnächst, so die praktische Idee, wird der „Knowledge Graph“ die 500 Millionen meistgesuchten Dinge mit Kontext versehen und stets passend antworten.

Darauf, dass Google seine Antworten tatsächlich bald, wenn auch nicht ins Gehirn, so doch direkt vor es liefert, wies auch Sergey Brin in dieser Woche noch einmal hin. Als U-Bahnfahrer streckte er in New York die Datenfühler seiner Firma ins Alltagsgetümmel aus. Was seine Brille genau kann, wissen wir bis heute nicht. Aber sie scheint zu funktionieren. Wird dadurch jeder Angestarrte zum gläsernen Menschen? Vielleicht. Es sei denn, man bekämpft die Brille mit einer Brille, die sich allerdings nicht so dezent an den Kopf schmiegt. Isao Echizen, ein japanischer Informatiker, zeigte, wie man sich vor unsichtbarer Beobachtung schützt, aber wohl viele unmittelbare Blicke auf sich zieht.

Sich zu verstecken wird die Herausforderung der Zukunft. Als Übungsfeld dafür hat sich auch Facebook empfohlen. Die neue Idee, künftig jedes noch so unbedachte „Like“ als politisches Statement zu werten, fand Wired in seiner Version von PR-Journalismus gar nicht so schlecht. Ein bisschen Kollateralschaden wird wohl verursacht, bevor sich herausstellt, ob Facebooks neue „Graph Search“ funktioniert. Es soll in Teheran Männer geben, die Männer mögen – Facebook will das jedenfalls ziemlich genau wissen und scheut nicht davor zurück, es allen mitzuteilen. Ob Facebook sich damit einen Bärendienst erweist oder doch neugierigen Journalisten unter die Arme greift, ist noch nicht entschieden. Erst einmal scheint es eine Win-Win-Situation zu sein, bevor dann alle verlieren.

Ans Verlieren wird aber einstweilen nicht gedacht. Obwohl die Einschläge näher rücken. Sollte die Suche nach den neuen Mustern doch noch nicht so glücken, wie sich die Big Players es erhoffen, bleibt noch das Wachstum auf einem anderen Feld. Google und Facebook investieren entschieden mehr in ihr eigenes Lobbying. Dass aber auch verwirklichte Träume nicht zwingend vor Enttäuschung schützen, darüber informiert uns in dieser Woche Google mit seinem Blick auf Apple.

(Bild: Ion Chibzii)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

1 Kommentar

  1. dieterbohrer sagt:

    Ach Stefan, faul war ich ja im Leben auch nie, genau genommen ein ziemlicher Streber, doch das Multitasking-Format, was Du hier öffentlich sichtbar hinlegst, ist doch verblüffend:

    Da hat einer eine abgeschlossene Ausbildung und kann sein angemessenes Diplom vorzeigen. Er heuert bei Deutschlands berühmtester, also auch anspruchsvollster Zeitung an (selbstreferenziell und fremdreferenziell gesehen), darf die schönsten Reportagereisen machen und schreibt darüber in einem Stil, den ich schon im Stillen als die spezifischen Stefan-Schulz’sche-Beobachtungs-Perspektive erkenne. Ich mach zur Zeit nur Sport, sagt er bescheiden, aber seine Beobachtungspalette ist viel weiter gespreizt. Er darf schon ganze Seiten über amerikanische Pseudo- bzw. Äquivalenz-Funktions-Politik schreiben, und so quasi nebenbei, man ahnt kaum, wann er wie viel Zeit dafür investieren kann, und muss, schreibt er an einer gewaltigen Dissertation, denn wer bis ins 12. Jahrhundert hinein recherchieren muss, und zwar nicht erwartbare Adelsquellen, sondern die Lebensäusserungen der unbekannten, also eigentlich unbeobachtbaren Bauern ermittelt um ihre wahre soziale Lage zu profilieren, der kann wohl zu recht ein Bohrer dicker Bretter genannt werden, um Max Weber zu zitieren. So einer ist auch noch verheiratet und bringt genügend Zeit auf, um seiner schnell größer werdenden kleinen Tochter mit der Fotoapps seines Smartphons immer genügend und ausreichend dokumentarisch auf den Fersen zu bleiben. Dass auch Eheleben Zeit erfordert wird hier taktvoll und höflich nicht erwähnt. Und wer ihn dann trifft – auch Verabredungen kosten ja seine Zeit – der trifft ihn lachend an und muss an Albert Camus denken, an das, was dieser große Schreiber und Stilist über seine Lieblingsfigur, den Sisyphos, gesagt hat: Man muss sich einfach diesen Stefan Schulz als einen glücklichen Menschen vorstellen.

    Rudi K. Sander alias dieterbohrer aka @rudolfanders in respektvoller Perspektive.

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