Wer bürgt für unsere digitale Identität?

Facebook kennt alle Menschen auf der Welt, sogar diejenigen, die selbst keinen Facebook-Account mehr haben. Aber wohin soll Facebook als nächstes wachsen? Was soll es mit dem Wissen anfangen?

Als Mark Zuckerberg in der vergangenen Woche vor Entwicklern über das kommende Jahrzehnt von Facebook sprach, führte der Erbauer seines ärgsten Konkurrenten, Google Plus, Bewerbungsgespräche. Vic Gondutra hatte eine Woche zuvor Google verlassen, wiederum einen Tag nachdem Facebook Rekordzahlen verkündete: 1,23 Milliarden aktive Nutzer bedeuten 160 Milliarden Dollar Unternehmenswert. Auf Facebook tobt das Leben. Google Plus dagegen gilt als Geisterstadt. Doch das so einheitliche Bild, das Beobachter daraus ableiteten, ist nicht vollständig, geschweige denn richtig. Mark Zuckerberg weiß, dass das Wachstums seines Unternehmens, anders als Googles, in Amerika an ein Ende gelangt ist. Deswegen hat er höheres, geradewegs Hoheitliches vor.

Nach zwei Jahrzehnten des Scheiterns sucht die amerikanische Regierung ein funktionierendes digitales und verpflichtendes Identitätssystem für ihre Bevölkerung. Facebook will es betreiben. Zuckerbergs Ankündigung, dass es ihm von nun an „zuerst um die Menschen“ gehe und dass Facebook nicht nur für deren Identität, sondern künftig auch für ihre Anonymität bürgen wolle, war insgeheim eine Bewerbung bei der Amerikanischen Regierung. 2011 verkündete sie die „National Strategy for Trusted Identities in Cyberspace“ (Nstic). Facebook ist nun das erste Unternehmen, das vielen der Anforderungen entspricht. Die zu lösenden  Probleme wurden allerdings nicht erst durch die Digitalisierung aufgeworfen. Schon die Stabilisierung unserer analogen Namens- und Adresssysteme hat Jahrhunderte in Anspruch genommen.

Der am ehesten mit der Erfindung des Internets vergleichbare historische Einschnitt ist tatsächlich Christoph Kolumbus Landgang in Amerika, vor 522 Jahren. Er warf die Frage auf: Wie kann ein König über ein Land regieren, von dessen Bewohnern er nichts weiß, außer, dass sie ihn nicht kennen? Das anstrengende aber bewährte Reisekönigtum war plötzlich an seine Grenzen gelangt. Die Folgen beschrieb der Weimarer Historiker Bernhard Siegert 2006. Schon der Titel des Buches ist treffend: „Passagiere und Papiere“. Anonyme Mobilität wurde schlicht verboten.

Durch die recht junge Erfindung des Papiers wurde die schriftliche Bürokratie das Betriebssystem der modernen Staatlichkeit. Pergament war Adel und Klerus vorbehalten. Papier bedeutete Dokumente für alle. Bald waren sie aussagekräftiger als Kleidung, Besitz, Narben und Farben. Seit dem Konzil von Trient gilt die Vorschrift Roms, Taufen zu dokumentieren. Die Kirche funktionierte als analoges Facebook, bevor die Registraturen im 17. Jahrhundert säkularisiert wurden.

Geschaffen wurden Behörden und Archive, als Wissensinstrumente, die Auskunft gaben, wer wo ist und mit wem er kommuniziert. Die Population wurde ein politischer Wissensgegenstand, nach Foucault ging es um die Beschreibung und Bewertung der Existenzgründe des Staates. Das analytische Instrumentarium bot Herrschern die Möglichkeit, die Kräfte ihrer Bevölkerung in Erfahrung zu bringen und politische Entscheidung in ein Verhältnis zu ihren Wirkungen zu setzen – also Politik zu planen. Schon damals wurde über dieses neue Wissen des Staates kritisch diskutiert, beispielsweise Anfang des 18. Jahrhunderts in der Policeywissenschaft.

Noch vor dem Patent auf das Namenssystem wurde nach dem Westfälischen Frieden die Hausnummer erfunden. Die Logik: Jeder Haushalt ein Mann. Über das stehende Heer wurde auf Papier politisch verfügt, schon bevor es aufgestellt wurde. Wieder sagt schon der Titel eines Buches vielsagendes. Der Wiener Historiker Anton Tantner schrieb über die Musterung der Bevölkerung: „Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen“.

Erst mit der Französischen Revolution wurde dann das Namenssystem per Gesetz etabliert. Jeder Bürger erhielt einen Vor- und Zunamen, der Zivilstatus einer Person wurde an sie geknüpft, wie auch das Versprechen auf Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Das Deutsche Reich vereinheitlichte die Personennamen auf dieselbe Weise. Anders hätte die Sozialversicherung hundert Jahre später nicht eingeführt werden können. Einzelne Namen bedingen den gemeinsamen Staat. Sie sind eine der Grundlagen moderner Gesellschaft – weil sie das Ende des Primats der Herrschaft über soziale Ordnung bedeutete, indem sie politische Entscheidungen von ihrer gewaltsamen Durchsetzung entkoppeln.

Wer einen Namen hat und den der anderen kennt, kann Verträge schließen, deren Druckmittel die postalische Adresse ist. An sie lassen sich ohne Rücksicht auf Person Vorladungen schicken. Selbst für Tote gilt heute die Namenspflicht. Niemand wird unbekannt beerdigt, egal wie lange die Forensik braucht, um einen unbekannten Körper nachträglich lesbar zu machen. Auch Totgeburten sind heute meldepflichtig, sie werden per Geburtsurkunde und Totenschein dokumentiert.

Das staatliche Identitätssystem war vollständig stabilisiert und galt lückenlos – bis das Internet erfunden wurde. Adressen wurden plötzlich mobil, sie waren nicht mehr über die Zeit stabil und jede Person hatte unzählige. Zwar lässt sich digitale Kommunikation hervorragend überwachen, Rückschlüsse darüber, wer mit wem kommuniziert ergeben sich daraus allerdings nicht automatisch.

Zwischen Personen und Tastaturen gibt es eine Lücke, wie sie der Luzerner Historiker Valentin Gröbner schon zuvor zwischen Personen und Dokumenten beschrieben hat. Nur sind die Fälschungen von Zeugnissen, die Ungenauigkeiten bei der Angabe von Haar- und Augenfarben in Pässen oder die Undeutlichkeit von Unterschriften Anomalien in funktionierenden Systemen; Ausnahmen, mit denen gelernt wurde umzugehen. Das Internet dagegen sollte Rechenleistung verteilen. Dass nun jedermann per vernetztem Gerät Konsum- und Kommunikationsbedürfnisse stillt, war ungeplant. Alle technischen Anbauten, die Kommunikation vereinfachen sollten, sind für den Betrieb selbst nicht nötig.

Eine der wichtigsten Nachrüstungen ist der Cookie, die kleine, hochindividuelle Datei, die Webserver auf heimischen Computern und Telefonen speichern und zur Wiedererkennung auslesen. Der unsichtbare, winzige Cookie ist die Grundlage eines gigantischen digitalen Identitätssystems. Bislang ruhen darauf aber vor allem ökonomische Potenziale; beispielsweise der Milliardengewinn von Google. Zu mehr als neunzig Prozent hängt er davon ab, per Cookie Werbung zu adressieren. Alles, was Google macht, kann es, weil es die Macht über eine nahezu vollständige Registratur der Weltbevölkerung hat. Google hat die Technologie, um von Geräten auf Menschen, die sie bedienen, zu schließen. Das macht die Marktmacht des Unternehmens aus. Über Monopole ist hierbei nicht zu diskutieren, das ist altes, analoges Denken.

Von dem möchte sich die Politik befreien. Doch alle Versuche, digitale Identitätssysteme politisch zu nutzen, sind bislang gescheitert. Die eindeutige Adressierbarkeit von Personen im Digitalen war früh, schon 1993, die Leitidee der Clipper-Chip-Initiative der Clinton-Regierung. Jedes technische Gerät, Telefone und Computer, sollten einen Kryptographie-Chip erhalten, der digitale Kommunikation verschlüsseln, vor allem aber die an ihr Beteiligten authentifizieren sollte. Das Gesetzesvorhaben scheiterte, da die NSA, die das System entwickelte, auch eine dritte politische Anforderung verbaute, eine legale Abhörschnittstelle.

Die Kohlregierung hatte aus dem amerikanischen Debakel Konsequenzen gezogen. 1997 debattierte sie über ein Multimediadatengesetz. Das Bürgerliche Gesetzbuch war gerade 100 Jahre alt geworden, als der Paragraph 126 modernisiert wurde. Unterschriften mussten bis dahin eine Spur des Körpers sein und „eigenhändig“ geschrieben werden. Nun wurde die „elektronische Form“ aufgenommen. Die Autoren des Signaturgesetzes nahmen allerdings weder auf technische noch ökonomische Limitierungen Rücksicht. Die Anforderungen an elektronische Unterschriften waren so hoch, dass sie praktisch unerfüllbar waren. Die Juristen schafften es nicht, ökonomisch akzeptable Bedingungen für sichere digitale Kommunikation zu schaffen.

Und so wich der Gesetzgeber aus. Die aktuellen digitalen Identitätssysteme des Staates zielen auf Systeme, denen sich der Bürger nicht entziehen kann: Die elektronische Gesundheitskarte, der neue Personalausweis und der inzwischen gescheiterte elektronische Entgeltnachweis (Elena). Den jüngsten politischen Versuch in Europa bringt die Europäische Union voran. Es ist ein Vorschlag des Europarpalaments und des Rats „über die elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt“. Der Text umfasst heute 60 Seiten, fast nichts ist entschieden.

Die amerikanische Strategie Nstic ist bereits konkret formuliert. Sie wählt, wie häufig in Amerika, die Kooperation zwischen Staat und Unternehmen. Die Regierung schuf ein Umfeld aus Hunderten Personen und Organisationen, die sich dem Vertrauensproblem in digitaler Kommunikation annehmen. Unternehmen, die dort tätig sind, jagen Vic Gondutra. Zwar blickt Google auf eine Geschichte erheblichen Scheiterns zurück, weder Google Talk, noch Google Wave oder Google Buzz waren Erfolg und Lebensdauer vergönnt. Doch mit Google Plus gelang es, über die gesamte Onlinekommunikation des Unternehmens mit seinen Nutzern ein Identitätssystem zu stülpen, das eine Mehrheit der Nutzer wahrnimmt und weitgehend akzeptiert. Nun wird der Abstand zwischen Gerät und Mensch stetig verringert. Samsungs neuste Telefone mit Googles Betriebssystem nutzen Fingerabdruckscanner, Herzschlagsensoren und Gesichtserkennung.

Das ist, womit sich auch die NSA befasst. Fast alles, worüber Edward Snowden bisher Aufschluss gab, fällt unter die Kategorie digitale Forensik. Die NSA rekonstruiert Adressen und Beziehungen aus dem eigentlich undurchschaubaren Wirrwarr der Kommunikation. Metadaten sind wichtiger, als tatsächliches Gerede. Am Donnerstag enthüllte der Journalist Ryan Gallagher auf „The Intercept“ den Namen der Metadaten-Datenbank der NSA mit „mehreren Hundert Milliarden Einträgen“. Sie heißt, so steht es in Dokumenten aus dem Fundus Edward Snowdens, „Ghostmachine“. Der Name verweist auf das zentrale Problem: Die NSA erledigt ihre Arbeit heimlich, weil ihre Mittel in keinem Verhältnis zu ihren Zwecken steht.

Die drängende Frage, die unter anderem Vic Gondutra beantworten kann, lautet: Lässt sich ein politisch notwendiges digitales Identitätssystem der Weltgesellschaft entwickeln, das technisch so gestaltet ist, dass es von den Betroffenen grundsätzlich akzeptiert werden kann? Oder bleibt es dabei, dass gigantische und intransparente private Unternehmen die Hoheit über die digitalen Archive der Weltbevölkerung behalten. Mark Zuckerberg arbeitet daran. Am Donnerstag sagte er, er wolle die Datensilos aufbrechen und Facebook-Identitäten als „die wahre Identität“ für alle überall nutzbar machen. Die amerikanische Regierung wird aufmerksam hingehört haben. Dass Facebook aber bald als offizieller Anbieter digitaler Identitäten auftritt, kann nicht die Lösung der Identitätskrise sein. Irgendwer muss eine Form digitaler Identität finden, die politische Grundrechte wahrt und vor ökonomischer Ausbeutung schützt, koste es, was es wolle.

Dieser Text ist in enger Zusammenarbeit mit Christoph Engemann entstanden. Der Medienwissenschaftler ist Interims Junior Direktor der Kollegforschergruppe Medienkulturen der Computersimulation an der Leuphana Universität Lüneburg sowie Mitglied im Forschungsnetzwerk „Der digitale Bürger und seine Identität“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Seine Dissertation zum Thema befindet sich im Druck. Einen Vortrag zum Thema hielt er beim 30C3.

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

4 Kommentare

  1. Sinnweltentheorie sagt:

    Zwar kann ich diesem Text noch halbwegs verstehend folgen, aber ich kann hier nicht mehr „auf Augenhöhe“ kreativ artiklulierend folgen.

    Als Mitdenker scheide ich also mit 85 Jahren resignierend aus.

  2. lxgac sagt:

    Sehr interessanter Artikel, insbesondere die historische Betrachtung des Identitätsbegriffs.

    Einige Ungenauigkeiten bzgl. der Geschichte des Internets lassen allerdings aufmerken. (Ursprünglicher Zweck des Internets ist militärische Kommunikation, nicht das Verteilen von Rechenleistung. Der Absatz über Cookies wirft WWW und Internet begrifflich in einen Topf.) Hoffentlich ist der historische Abriss besser recherchiert. ;)

    Inhaltlich bleibt nur zu sagen: Alle, die Facebook, Google, WhatsApp und Co. skeptisch gegenüberstehen und versuchen, deren Dienste zu meiden (auch wenn es manchmal schwerfällt), sehen von Tag zu Tag mehr, warum sie am Ende vielleicht ein wenig ruhiger schlafen können — leider wirklich nur ein wenig.

  3. Sensibelchen sagt:

    oder menschlich NOT-wendiges VERNUNFT-Bildungssystem?!
    Haben Sie schon einmal tief über die Vokabel „NOT-WENDIG“ nachgedacht?
    Eine Empfehlung von mir, bevor Sie über „digitale“ Not-wendigkeiten schreiben.
    Denken Sie über die „Not-wendigkeit“ der menschlichen Vernunft-Identität nach,
    eine lohnenswerte Aufgabe, im Gegensatz zur digitalen.

    „Mensch-Vernunft-Identifizierung“, das ist vorrangiger Mensch-Mangel.

    MfG
    P.S.

  4. Sinnweltentheorie sagt:

    Zwra glaube ich schon, noch verstanden zu haben, was hier intelligent und erfahrungsreich verhandelt wird.

    Aber meine eigene kleine digitale Welt (mit eigener Website, als Blogger und Twitterer) vermag ich in diesem Text nicht mehr als abgebildet beschrieben zu entdecken. Ich suche die Schuld einfach bei mir selber: mit 85 Jahren bin ich anscheinend doch zu alt, um die geschilderte Problematik noch nachvollziehen und kreativ artikulierend auffangen und für mich fruchtbar werden zu lassen.

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