Wenn drei sich streiten

Fragestellungen zu politischen Phänomenen sind immer wieder gerade dann besonders interessant, wenn die Politikwissenschaft nicht mehr in der Lage ist, sie zu behandeln. Ich vermute es liegt daran, dass sich Politikwissenschaftler zu wenig als Historiker und zu viel als Berater verstehen. Sie erklären, wie man überall auf der Welt Demokratie herstellen könnte, ohne verstehen zu wollen, was Demokratie im Kern ausmacht. Sie erklären, wie man Korruption bekämpft, ohne verstehen zu wollen, warum es sie gibt. Und sie erklären, wie man die Bindestrichkrise in Europa abwickeln könnte, ohne viele Gedanken dafür zu nutzen, zu verstehen, was von Europa bleibt, wenn „die Krise“ überwunden wäre.

Die Idee, dass Europa derzeit einen Krisenmechanismus institutionalisiert um handlungsfähig zu bleiben stimmt, kann als Paradigma jedoch ausgebaut werden. Zumindest ist die Beobachtung von Europa in einer Krise nur insoweit als Ausgangspunkt für Diagnosen verwendbar, wie man dem realen, krisenbeladenen Europa kein herbeigeträumtes, ideales Europa gegenüberstellt. Es ist eine kaum merkliche aber fundamentale Unterscheidung Europa nicht als Garant für Frieden, sondern als Abwehrmechanismus gegen Krieg und Gewalt zu sehen. Wenn man Letzteres als Paradigma verwendet, wird sichtbar, dass es Europa per Definition mit einem Ausgangsproblem zu tun hat, dass sich nicht grundsätzlich, sondern nur immer wieder neu lösen lässt: das Abwenden von Gewalt auf der Straße.

Diese soziologische Idee, empirische Phänomene nicht nur als historisch und menschengewollt zu verstehen, sondern (zusätzlich) auf ein Problem zurückzuführen, finde ich, bezogen auf ihre Attraktivität, überraschend wenig in andere sozialwissenschaftliche Erklärungsansätze übernommen. Das ist schade. Aber auf kleinen Webseiten wie dieser lässt sich mit wenig Mühe etwas dagegen tun. Für das Folgende werde ich das Prinzip der Problematisierung etwas überstrapazieren. Es geht um ein empirisches Phänomen, aus dessen Beobachtung die historischen und personen-, biografiegetriebenen Aspekte mit Absicht etwas herausgerechnet werden.

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In der F.A.Z. war die Woche ein Interview mit Jens Weidmann, dem neuen Bundesbankpräsidenten. Es ging um die üblichen aktuellen Fragen, doch anstatt die Interviewsituation zu nutzen, inhaltlich Politik zu machen, verwies er immer wieder auf laufende Prozesse der Krisendiagnose und –intervention und in einem Ausschnitt sprach er von der Troika aus EU, IWF und (Europäische) Zentralbank und ihre gemeinsame Anstrengung, die Situation mit Griechenland zu bewältigen.

In der Auseinandersetzung mit politischen Problemen und ihren Institutionen begegnet einem dieses Troika-Modell immer wieder. Beispielsweise ganz allgemein in der Dreigliedrigkeit der Gewaltenteilung, in vielen Ländern im Zusammenspiel von Parlamenten und Regierungen (Bundesrat, Bundestag, Bundesregierung; Senat, Repräsentantenhaus, Präsiden; Oberhaus, Unterhaus, Regierung) und auch die EU, die sich ohne konkretes Vorbild mit Institutionen ausgestattet hat, bildet sie in der Unterscheidung von EU-Parlament, EU-Rat und EU-Kommission ab.

Wieso immer drei? Man könnte natürlich sagen, es handele sich schlicht um eine sehr elegante Lösung des Souveränitätsparadoxes. Es darf keinen einsamen Herrscher geben. An seine Stelle treten gleichrangige aber unterscheidbare Personen/Institutionen, die sich auf Entscheidungen einigen, indem sie „Willkür“ durch Verfahren ersetzen. Dieses einfache Prinzip gelänge jedoch schon unter zweien oder unter vieren und mehreren. Wieso etabliert sich so oft eine Troika?

Es gibt darauf soziologische Antworten, die viele Ebenen tiefer interaktionssoziologisch erarbeitet wurden aber in gewissem Rahmen übertragbar sind. Man kennt, aus eigener Erfahrung, den Unterschied von Gesprächen zu zweit und zu mehreren. Zu zweit vermengen sich Sozial- und Sachdimension. Konfliktpotenziale werden gesteigert. Konflikte generalisiert. Man ist stets entweder Autor oder Adressat und findet keine Rückzugsmöglichkeiten. Man muss mit riskantem Taktverhalten und aufwendiger Aufmerksamkeit dienen, um die Situation zu meistern. Ein Gespräch unter zweien erhält beinah von selbst den Charakter von Intimität. (Es handelt sich um eine soziologische Beobachtung. Auch wenn sich die Zwei nicht auf emotionaler Ebene „intim“ begegnen, sind sie doch auf besondere Weise einander ausgeliefert und aufeinander angewiesen – interessanterweise gerade, wenn sie sich relativ unbekannt sind.)

Unter Dreien ist vieles anders. Ein Gespräch kennt auch unter mehreren nur ein Thema. Die Zurechnung von Autoren bleibt erhalten, aber schon die Adressatenfrage kann offenbleiben. Es antwortet entweder der eine oder der andere. Für den Fall, dass konkret adressiert wird, erhält der Dritte eine Publikumsrolle und damit angenehmen Rückzug, in der Präsenz. Ein Gespräch unter dreien ist/sind ein bisschen 3 Gespräche unter zweien, die sich in rasanter Folge und kaum steuerbar immer wieder gegenseitig ablösen und dabei entlasten und irritieren. Das kann als sehr angenehm empfunden werden, sofern das Thema genug Beiträge provoziert und keine Organisation grob strukturierend eingreift. Es handelt sich dann um Geselligkeit.

Die Geselligkeit, mit Publikum und Rückzugsmöglichkeiten, erlaubt mutigere Selbstdarstellungen, mehr Spielerei, mehr Variation, die auch mal kurz, ohne weitere Folgen, scheitern darf. Wenn Kreativität und Inspiration gefragt sind, ist die Geselligkeit geeigneter als die Intimität. Soweit die Interaktionssoziologie.

Sind diese Merkmale übertragbar auf Institutionen die Weltpolitik betreiben? Ich denke, ja, sogar in einem erstaunlich großen Maße. Auch Institutionen kennen den Gesichtsverlust, benötigen Rückzugsmöglichkeiten, ohne dass die Kommunikation dadurch stoppt, und müssen Themen und Beiträge „in den Raum werfen“ können, ohne Adressierungszwang. Dies und Weiteres gelingt nur, wenn Kommunikation aus der Oszillation befreit wird und mindestens drei potenzielle Adressaten/Autoren für Zirkulation sorgen. Erst dann wird es möglich, Themen und Beiträge risikoarm auf Resonanzfähigkeit hin zu testen.

Man kann das an der Troika zum Griechenlandthema beobachten. Es sind viele Ideen („Reprofilierung“, „sanfte Umschuldung“, „Umschuldung“, „Liquidierung von weiterem ‚Staatsbesitz‘“, „Schuldenerlass/Haircut/Gläubigerbeteiligung“, usw.) im Umlauf. Sie werden in den Raum geworfen und es wird gewartet was passiert. Die Argumente der EU (der reichen, großen EU-Mitgliedsstaaten) orientieren sich an ihrer politischen Rationalität. Die Argumente des IWF orientieren sich an wirtschaftlicher Rationalität. Und die Argumente der EZB sind vergleichsweise streng wissenschaftlich. Ihr geht es nur in zweiter Linie um erfolgreiche Zahlungen oder politische Harmonisierung, sie ist viel grundsätzlicher an Stabilität und Erwartungssicherheit interessiert und ignoriert den großen Haufen Schrottstudien aus fremden Häusern.

Wenn man, wie oben gesagt, von historischen und personellen Angelegenheiten absieht, kann man sehen, wie diese Troika politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Angelegenheiten, die sich im Problem aufzeigen, Schritt für Schritt und immer wieder mit Überraschungsmomenten sich selbst gegenüber allmählich in eine Problemlösung fortentwickelt. Jeder bekommt Aufmerksamkeit und Gestaltungsspielraum. Es stehen sich Zahlungsfähigkeit (IWF), Glaubwürdigkeit (Politik) und Stabilität (Zentralbank) gegenüber und alle sind gespannt, was dabei herauskommt.

Ob so eine Analyse stimmt und was sie bringt? Hm. Man könnte vielleicht sehen, wie trotz großer, riesiger, krisenhafter inhaltlicher Probleme die Problemlösungsstrategie eigentlich gut funktioniert (und dass man lange überlegen müsste, wollte man Verbesserungen formulieren). Dies gilt jedenfalls so lange, bis die Gewalt auf die Straße zurückkehrt – was derzeit bereits der Fall ist. In Griechenland schon eine Weile und seit heute auch in Spanien. Vielleicht ist die Troika zuungunsten politischer Glaubwürdigkeit schon aus ihrer Balance geraten… (Man könnte dann aus dem Konzept ablesen, wie sich die Balance wieder herstellen ließe: Freiwillige Gläubigerbeteiligung / Haircut – nachdem dies die Politik fordern würde. Politische Glaubwürdigkeit auf kosten wirtschaftlicher Zahlungsfähigkeit. O. ä.)

(Bild: Anderson Mancini)

5 Kommentare

  1. Stefan Schulz sagt:

    Ach, diese Kommas… das nächste Mal geb ich mir mehr Mühe.

  2. Roger Burk sagt:

    warum solls dir besser gehen als mir? ;)
    Von dem Thema wollten meine Leher seinerzeit nix wissen und haben die Kommataregelungen einfach totgeschwiegen :-)

  3. […] Wenn man Ratingagenturen (namentlich oder generell) kritisiert, müsste man also stets eine Ersatzinstitutionalisierung anbieten, die sich gegen die Logik der Ratingagentur stellt aber trotzdem die Logik einer Troika beachtet. Und das ist schwierig. (Ausführlicheres zur Troikalogik hier.) […]

  4. Julia sagt:

    Es ist doch was mit der Zahl Drei… – Ich denke, man kann noch einen Schritt weiter gehen in der soziologischen Beleuchtung. Die Zahl drei scheint ein symbolisches ordnungsprinzip zu sein (ebenso wie die vier), das gerne immer wieder bemüht wird. Man denke etwa an die Dreifaltigkeit, die drei göttlichen Gebote innerhalb der zehn, die (historisch unrealistische) Trias von Mutter-Vater-Kind, die drei Stände,… und schließlich die drei Gewalten. Möglich, dass unbewusst die Klassifizierung in drei Gruppen vorgenommen wird, weil es kulturell irgendwie logisch, anschlussfähig, vernünftig etc erscheint.

  5. Stefan Schulz sagt:

    Ja, die 3 ist eine historisch-mathemagische Zahl. Die erste, die die Binarität durchbricht ;-)

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