Ein Hort der Stabilität und der Stagnation
Nach der Bundestagswahl wird sich wahrscheinlich das politische Programme der Regierung an zentralen Punkten ändern. Aber eine Sache wird gleichbleiben – die Art, in der in den einzelnen Ministerien gearbeitet wird und die Form, in der die Ministerien miteinander kooperieren. Die Aufteilung der Arbeit in einem Ministerium auf Referate, die zeitaufwändige Abstimmung in der ministerialen Hierarchie bis hoch zur politischen Leitung und die Formen der Rekrutierung von Ministerialbeamten wird dieselbe bleiben.
Das „organisationale Betriebssystem“ der deutschen Regierung hat sich in ihren Grundzügen über die letzten hundert Jahre nicht verändert.[1] Ein Referent, der Anfang der 1950er Jahre im Bundesjustizministerium seine Karriere begonnen hat, hätte bei einem Programm zur Reaktivierung pensionierter Ministerialbeamter keine Schwierigkeiten, sofort wieder auf seiner alten Stelle einzusteigen. Und vermutlich würde sich selbst ein Referatsleiter, der in den 1920er Jahren im Reichsministerium des Innern für Förderung des Spitzensportes zuständig gewesen ist, problemlos in die aktuelle Arbeit des Bundesinnenministeriums einfügen können. Die „Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien“, die die Arbeit in und zwischen den „Häusern“ regelt, unterscheidet sich kaum von der in der Weimarer Republik und im NS-Staat als Arbeitsgrundlage dienenden „Gemeinsamen Geschäftsordnung der Reichsministerien“.[2]
Der Grund dafür ist, dass sich die Fachreferate seit dem Deutschen Kaiserreich systematisch als das organisationale Rückgrat der Ministerien etabliert haben. Die Abgeordneten der Parlamente und ihre Mitarbeiter haben in der Regel nicht die Kompetenz für die Erarbeitung von Gesetzesvorlagen und die Entwicklung strategischer Initiativen. Den politischen Spitzen der Ministerien fehlt es an Zeit, sich im Detail um die Erarbeitung von Gesetzesvorlagen zu kümmern. Zwar werden Entscheidungsvorlagen am Ende von der politischen Spitze abgesegnet und – jedenfalls in der Demokratie – die Gesetze vom Parlament verabschiedet, zentral sind für sie aber Vorbereitungen auf der operativen Ebene der Ministeriumsreferate.[3]
Die Aufgaben eines Ministeriums werden dabei über Geschäftsverteilungspläne in die einzelnen Abteilungen und schließlich in die verschiedenen Fachreferate der Ministerien verteilt. Den spezialisierten Fachreferaten werden so klar voneinander abgegrenzte Zuständigkeitsbereiche zugewiesen. Das hat zur Folge, dass die Referate sich bei der Entwicklung von politischen Problemlösungen auf ihren unmittelbaren Zuständigkeitsbereich konzentrieren. Referate vermeiden so Konflikte mit anderen Referaten, wenn sie darauf achten, dass ihre Arbeit nicht die ‚Reviere‘ anderer Organisationseinheiten berührt. „Ein guter Beamter“, so der regelmäßig zu hörende Spruch in Ministerien, prüft deswegen als erstes, „ob er zuständig ist“. Mehr „Scheuklappe“ geht nicht.
Die Referate sind in eine stark ausgeprägte Hierarchie eingebunden. Die hierarchischen Entscheidungskompetenzen werden in den Ministerien auf die Ebenen von Staatssekretären, Abteilungsleitern, Unterabteilungsleitern und Referatsleitern delegiert. Staatssekretäre und Abteilungsleiter übernehmen dabei als politische Beamte im Auftrag des Ministers oder der Ministerin zentrale Koordinationsaufgaben innerhalb des Ministeriums. Sie haben starke Durchsetzungsmöglichkeiten gegenüber den ihnen unterstellten Referatsleitern, stoßen aber zwangsläufig an Grenzen, wenn es um die Abstimmung zwischen Referaten geht, die nicht in ihrem Bereich liegen.
Bei der ressortübergreifenden Erstellung von Gesetzesvorlagen und Verordnungsentwürfen findet die Kooperation auf der Ebene von Referaten statt. Dabei besteht eine Fähigkeit von Referenten darin, die Meinung der politischen Hausleitung zu antizipieren und in die Vorlagen einfließen zu lassen. Die Ebene der Hierarchie in den Ministerien wird immer dann relevant, wenn auf der Ebene der Referate keine Einigung erzielt werden kann. Die Konfliktpunkte werden dann schrittweise von der Ebene der Referatsleitungen auf die der Unterabteilungsleitungen, der Abteilungsleitungen, Staatssekretäre und Ministerien gezogen.
Der Aufbau deutscher Ministerien hat einen großen Vorteil – Stabilität. Es ist für eine Kanzlerin möglich, eine Ministerin zu entlassen und durch einen anderen zu ersetzen, ohne dass es dadurch einen Bruch gibt. Die Beantwortung parlamentarischer Anfragen, die Mitarbeit bei der Gesetzesvorbereitung oder die Abstimmung mit Ministerien anderer Länder wird weitgehend unbeeindruckt durch den Personalwechsel fortgeführt. Eine Partei, die bei der Aufteilung der Ministerien in der Koalitionsregierung aus Proporzgründen noch das Entwicklungshilfeministerien zugeschlagen bekommt, kann einen fachfremden Minister besetzen, weil der „Apparat“ schon dafür sorgt, dass dieser nicht zu viel Unheil anrichtet.
Aber es gibt einen großen Nachteil dieser über Jahrzehnte stabilen Struktur von Ministerien – Stagnation. Das Zusammenspiel der Referate verschiedener Ministerien führt dazu, dass man sich in der Abstimmung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigt. Die Bestrebungen der Referate ist es, über die Häuser hinweg eine abgestimmte Vorlage zu erstellen und so eine Eskalation des Themas bis auf die Ebene der chronisch überlasteten Minister zu verhindern. Der Effekt ist, dass am Ende eine zwar durchverhandelte, aber häufig ambitionslose Vorlage in die Kabinettssitzung und dann ins Parlament eingebracht wird. Der Effekt der Struktur der deutschen Ministerien ist die systematische Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner.[4]
Es hat immer wieder Versuche gegeben, die Struktur der deutschen Ministerialverwaltung zu reformieren, um agiler und effektiver auf politische Herausforderungen zu reagieren. Statt eine Vielzahl von Ministerien zu haben, die jeweils ihre „Ressortegoismen“ pflegen, wurde mit dem Konzept von Superministerien experimentiert, durch die kritische Fragen innerhalb eines Hauses geklärt werden sollten. Statt nur aus wenigen Mitarbeitern bestehenden Referate zu bilden wurde an die Einrichtung von größeren Einheiten gedacht, in denen Mitarbeiter in Projektgruppen flexibel eingesetzt werden konnten. Statt Ministerialbeamte als Fachexperten in einem Ministerium zu halten, wurde mit der Idee gespielt, den hierarchischen Aufstieg an einen regelmäßigen Wechsel zwischen Ministerien zu binden, um so wenigstens auf der Arbeitsebene den informalen Austausch zwischen den Häusern zu erleichtern. Aber letztlich sind alle diese Reformversuche versandet.[5]
Es ist deutlich einfacher, so jedenfalls die frustrierte Beobachtung reformorientierter Ministerialbeamter, das Grundgesetz zu ändern, als die für eine effektive Verwaltungsarbeit so wichtige gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien zu modifizieren. Der Grund dafür ist ein einfacher: Eine grundlegende Veränderung der Arbeitsform müsste über die Häuser hinweg vereinbart werden, würde aber auf erhebliche Beharrungskräfte in anderen Ministerien treffen. Kein an kurzfristigen Erfolgen ausgerichteter Minister ist so dumm, sich an ein auf die innere Verwaltung ausgerichtetes Reformprojekt heranzutrauen, von dessen unwahrscheinlichem Erfolg letztlich nur seine Nachfolger profitieren würden.
Die breite Öffentlichkeit interessiert sich für diese strukturell bedingte Reformblockade in der Zusammenarbeit in Ministerien nicht, weil eine legalistische Sichtweise davon ausgeht, dass die relevanten Gesetze in den Parlamenten entwickelt werden. Dabei sind diese letztlich in den meisten Fällen das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen den nach einer sehr eigenen Logik funktionierenden Ministerien, die durch das Parlament nur noch ratifiziert werden. Das wird sich gar nicht verhindern lassen, weil Parlamentsabgeordneten das Wissen und die Zeit fehlt, ein am Ende auch funktionierendes Gesetz zu formulieren. Wenn man ambitioniertere Gesetze will, sollte man sich deswegen bei allen Schwierigkeiten mit einer Reform der Ministerialverwaltung auseinandersetzen.
Stefan Kühl ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld und forscht zurzeit über Ministerien im NS-Staat und in der Bundesrepublik Deutschland.
[1] Für Frankreich im 19. Jahrhundert liegt eine ausführliche Studie vor. Siehe Thuillier, Guy (2004): La vie quotidienne dans les ministères au XIXe siècle. Paris: Comité pour l’Histoire Économique et Financière de la France.
[2] Siehe dazu Reichsministerium des Innern: Gemeinsame Geschäftsordnung der Reichsministerien. Allgemeiner Teil. Berlin 1926.; dass.: Gemeinsame Geschäftsordnung der Reichsministerien. Besonderer Teil. Berlin 1924. Zum Vergleich Bundesregierung: Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien. Berlin 2020.
[3] Die prägnanteste Darstellung der Struktur der deutschen Ministerialverwaltung ist vermutlich immer noch Renate Mayntz: Soziologie der öffentlichen Verwaltung. Heidelberg, Karlsruhe 1978, S. 181–210.
[4] Siehe zu dem Effekt negativer Koordination einschlägig Fritz W. Scharpf: Positive und negative Koordination in Verhandlungssystemen. In: Adrienne Héritier (Hrsg.): Policy Analyse 1993, S. 57–83. Für eine theoretische Neukonzeption ders.: Interaktionsformen. Akteurszentrierter Institutionalismus in der Politikforschung. Opladen 2000. Zur Einordnung des Konzepts lesenswert ders.: Fritz W. Scharpf im Gespräch mit Adalbert Hepp und Susanne K. Schmidt. In: Adalbert Hepp, Susanne K. Schmidt (Hrsg.): Auf der Suche nach der Problemlösungsfähigkeit der Politik. Fritz W. Scharpf im Gespräch. Frankfurt, New York 2017, S. 15–96.
[5] Besonders prominent natürlich die Reformversuche in der ersten sozial-liberalen Koalition Anfang der 1970er Jahre. Siehe dazu Winfried Süß: „Wer aber denkt für das Ganze“? Aufstieg und Fall der ressortübergreifenden Planung im Bundeskanzleramt. In: Matthias Frese (Hrsg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik. Paderborn, München 2005, S. 349–377. Als Darstellung aus der Perspektive der wissenschaftlichen Begleitung besonders Fritz W. Scharpf, Renate Mayntz: Policy-Making in the German Federal Bureaucracy. Amsterdam 1975.
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