Die Konzeption des ersten Managementkonzepts in der Bundesrepublik Deutschland
Während der NS-Zeit dominierte die Vorstellung, dass die in der Volksgemeinschaft eingebetteten Menschen eine mit Sinn aufgeladene Tätigkeit erfüllen würden. So wurde von den Vertretern eines nationalsozialistischen Führungskonzepts propagiert, dass jede Tätigkeit im NS-Staat einen Sinn habe, wenn sie „der Allgemeinheit zum Nutzen gereicht“. Gemeinnutz, so der Slogan der Nationalsozialisten, geht vor Eigennutz. In der modernen Managementsprache würde man die Organisationen im NS-Staat als „Purpose-Driven Organizations“ bezeichnen.
Die Orientierung an einem durch die nationalsozialistische Ideologie festgelegten Sinn machte selbstverständlich die Definition von konkreten Zielen nicht überflüssig. Unternehmen konnten nicht auf die Vorgabe von Absatzzielen verzichten, Verwaltungen nicht auf die Spezifikation von zu erreichenden Zwecken, Armeen nicht auf die Festlegung militärischer Ziele. Aber die Festlegung dieser konkreten Ziele fand im Rahmen einer mit nationalsozialistischer Ideologie aufgeladenen Sinnbestimmung der Arbeit in Organisationen statt, die es ermöglichte, die Ziele auch immer wieder entsprechend zu variieren.
Es fällt auf, dass Reinhard Höhn, einer der führenden Staatsrechtler im NS-Staat und Erfinder des wichtigsten Führungskonzepts in der Bundesrepublik, in seinem Führungsmodell nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Rhetorik einer durch Sinn bestimmten Tätigkeit verzichtete. Der Ansatzpunkt für die Motivation der Mitarbeiter war für ihn in der Nachkriegszeit nicht mehr die am Allgemeinwohl orientierte Sinnhaftigkeit einer Tätigkeit, sondern die Möglichkeit, im Rahmen der vorgegebenen Ziele selbständig tätig zu werden.
Zentraler Gedanke des von Höhn entwickelten Harzburger Modells ist, dass (unabhängig von der Sinnhaftigkeit einer Tätigkeit) die Kompetenzen in der Organisation an diejenigen Mitarbeiter delegiert werden, die am besten einschätzen können, wie eine Aufgabe zu bewältigen ist. Entscheidungen sollten nicht mehr von „einigen wenigen Männern an der Spitze“ getroffen werden, sondern „von den Mitarbeitern auf den Ebenen, zu denen sie ihrem Wesen nach gehörten“. Die Mitarbeiter sollten „nicht mehr durch einzelne Aufträge vom Vorgesetzten geführt“ werden, sondern konnten vielmehr in einem genau definierten Bereich „selbständig handeln und entscheiden“.
Konsequenterweise liegt die Verantwortung für die Aufgabenerledigung dem Harzburger Modell zufolge einzig und allein bei den Mitarbeitern. In ihrem Verantwortungsbereich können diese die Mittel, die zur Erledigung einer Aufgabe nötig sind, selbst bestimmen. Weil ein Mitarbeiter „im Rahmen seiner Aufgaben und Kompetenzen selbständig“ handeln und entscheiden könne, würde er dazu angehalten, sich ständig zu fragen, „wie das Bestehende verbessert werden“ könne. In letzter Konsequenz würde er sich in seinem Bereich „unternehmerisch verhalten“.
Die genaue Festlegung des Aufgabenfelds ermöglicht es nach Auffassung der Vertreter des Harzburger Modells jedem Mitarbeiter, „unzulässige Eingriffsversuche“ von „seinen Kollegen“, besonders aber auch von „seinen Vorgesetzten“ zurückzuweisen. Mit der Aussage „das ist mein Delegationsbereich“ könne jeder Mitarbeiter darauf hinweisen, dass er Handlungsverantwortung nur dann übernehmen könne, wenn Vorgesetzte nicht in seinen Delegationsbereich eingreifen.
Um die Delegation von Verantwortung an Mitarbeiter gewährleisten zu können, müsse man die Ziele in einem Aufgabenbereich „klar umreißen“. Nur wenn ein „festumgrenzter Aufgabenbereich“ definiert, die Ziele festgelegt und der Mitarbeiter mit „entsprechenden Kompetenzen“ ausgestattet würde, könne er „die volle Verantwortung“ dafür tragen, „was er tut oder zu tun unterlässt“.
In der Sprache der Organisationstheorie handelt es sich bei der Delegation von Handlungsverantwortung durch die Bestimmung von zu erreichenden Zielen um eine Steuerung der Organisation über Zweckprogramme. Zweckprogramme legen fest, welche Zwecke – oder alltagssprachlich: Ziele – erreicht werden sollen. Diese Zwecke können „einen mehr oder weniger weiten Umfang“ haben und durch „Vorschriften über zulässige und unzulässige Mittel eingeengt werden“ – aber innerhalb dieser Beschränkungen gibt es „einen Spielraum verschiedener Entscheidungsmöglichkeiten“. Kurz: Bei Zweckprogrammen hat man innerhalb definierter Grenzen die freie Wahl der Mittel.
Damit unterscheiden sie sich grundlegend von Konditionalprogrammen. Diese legen detailliert fest, was getan werden muss, wenn in einer Organisation ein bestimmter Impuls wahrgenommen wird. Bei Konditionalprogrammen gibt es mithin eine feste Kopplung zwischen der Bedingung einer Handlung – dem „Wenn“ – und der Ausführung einer Entscheidung – dem „Dann“. Dabei ist die Vorgehensweise genau festgelegt: Das Programm bestimmt, was zu tun ist – und was nicht ausdrücklich erlaubt ist, ist bei Konditionalprogrammen verboten.
Bei der für das Harzburger Modell typischen Zweckprogrammierung trägt die verantwortliche Person die Schuld, wenn das Ziel nicht erreicht wird. Das erklärt, weswegen der Definition der Zwecke – in der Sprache des Harzburger Modells: den „Zielen“ und den „Aufgaben“ – eine so große Aufmerksamkeit geschenkt wird. Wenn der Zweck unerreichbar, nicht genau bestimmt oder nicht deutlich gegen andere Zwecke abgegrenzt ist, wird die Möglichkeit zur Verantwortungsübernahme – und damit zur Zuweisung von Schuld – unterlaufen. Erst wenn der Zweck erreichbar, genau bestimmt und sauber gegen andere Zwecke abgegrenzt ist, kann eine Verantwortlichkeit eindeutig zugewiesen werden.
Durch Zweckprogrammierung erlangt die Organisation somit eine gewisse Elastizität, die sie bei einer reinen Konditionalprogrammierung nicht hätte. Sie eröffnet der Organisation eine „begrenzte Beweglichkeit“. Das System wird durch seine für jeden Mitarbeiter definierten Zwecke „im Großen und Ganzen am Seil geführt, aber doch nicht auf einer genau vorgezeichneten Spur“. Diese Kombination von Kontrolle und Freiheit durch Zweckprogrammierung machte das Harzburger Modell für Führungskräfte attraktiv, weil zwar die Zwecke für die Mitarbeiter vorgegeben werden, aber durch die freie Mittelwahl ebenso auf veränderte Anforderungen reagiert werden konnte.
Auszug aus Stefan Kühl „Führung und Gefolgschaft. Management im Nationalsozialismus und in der Demokratie“ (Suhrkamp 2025, 24,- Euro).
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