Die Wiederkehr des Gemeinschaftsgedankens in der Debatte über die Organisationskultur

Nachdem in der frühen Bundesrepublik auf formale Steuerung abzielende Konzepte im Managementdiskurs dominierten, erlebte die informale Steuerung ab den 1970er Jahren im Rahmen der Debatte über Organisationskultur eine Renaissance. Bei der Propagierung der Organisationskultur als Erfolgsfaktor wurden Vorstellungen von Gemeinschaft reaktiviert, die schon in der Idee der Werksgemeinschaft in der Weimarer Republik und später im Konzept der Betriebsgemeinschaft im NS-Staat eine wichtige Rolle gespielt hatten.

Anders als in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus entstanden diese Vorstellungen von Gemeinschaft aber nicht maßgeblich in Deutschland, sondern sickerten aus dem US-amerikanischen Managementdiskurs ein. Nach einer weitgehenden Immunisierung in der Nachkriegszeit öffnete sich das deutsche Management ab den 1970er Jahren zunehmend für Konzepte aus den USA: Deutsche Übersetzungen US-amerikanischer Managementpublikationen verdrängten zunehmend Publikationen deutscher Autoren, Managementkonzepte aus den USA dominierten den Diskurs in Deutschland und bildeten so die Basis für die Rezeption von Konzepten der Organisationskultur.

Die Grundidee des Konzepts der Organisationskultur ist es, die Kultur einer Organisation so zu gestalten, dass ein starkes Gemeinschaftsgefühl entsteht. Dieses Gemeinschaftsgefühl dürfe sich nicht auf den Zusammenhalt innerhalb einer Berufsgruppe oder Hierarchiestufe beschränken, sondern müsse alle Mitarbeiter in einer Organisation erfassen. Die Kultur einer Organisation sei, so eine bekannte Metapher der Verfechter des Gedankens, der „Klebstoff“, der als „Quelle für die Identität und Stärke“ der Organisation diene.

Aus einer wissenschaftlichen Perspektive bezeichnet Organisationskultur im engeren Sinne die informalen Erwartungsstrukturen, die sich zwangsläufig im Schatten der formalen Struktur einer Organisation ausbilden. Aus dieser Perspektive macht es wenig Sinn, von guten oder schlechten, nützlichen oder schädlichen Organisationskulturen zu sprechen. Im Gegensatz zu dieser in der Wissenschaft verwendeten deskriptiven Perspektive wird im Managementdiskurs der Begriff der Organisationskultur normativ verwendet und die Organisationskultur wird als zentraler Erfolgsfaktor von Unternehmen betrachtet.

Ähnlich wie die Verfechter der Idee der Werks- und Betriebsgemeinschaft versprechen auch die Verfechter des Ansatzes der Organisationskultur, dass Organisationen gleichzeitig zu einemHort von Menschlichkeit und wirtschaftlicher Exzellenz werden, wenn man darauf achtet, dass sich eine Gemeinschaft in ihnen ausbildet. Nur Organisationen mit einer „starken Kultur“ gelinge es, Mitarbeiter langfristig zu binden und so die Effizienz und Innovationskraft zu steigern.

Weil die Organisationskultur eine „kollektive Programmierung des Geistes“ ermögliche, ließen sich, so die Vorstellung im Management, Organisationen auch bei zentrifugalen Kräften einheitlich ausrichten. Weil sich über die Organisationskultur die „Herzen, die Seele und der Geist“ managen ließen, müssten Manager Organisationen nicht mehr über hierarchische Weisungen und präzise Programmierungen zusammenhalten. Letztlich gebe es „keine effizientere Steuerung als eine ausgeprägte, in sich stimmige Unternehmenskultur“.

Diese Annahme erklärt, weswegen in den Konzepten der Organisationskultur die Ausbildung von Gemeinschaft gepriesen wird. Es sollen „Gemeinschaftsrituale“ praktiziert werden, um den Mitgliedern einer Organisation „Nestwärme“ zu geben. Organisationen werden als „verschworene Gemeinschaften“ konzipiert, deren Mitarbeiter füreinander einstehen. Es ist die Rede vom Unternehmen als „Wertegemeinschaft“, die einem sinnstiftenden und gemeinschaftsbildenden Orientierungsmuster“ folgt.

Weiteren Ausdruck findet diese Gemeinschaftsorientierung durch die Bezeichnung von Organisationen als Clans, Familien oder Stämme. Der Mensch soll nicht auf eine Rolle reduziert, sondern als ganze Person angesprochen werden. Statt sich auf eine formal genau definierte Rolle zurückzuziehen, soll ein Mitarbeiter mit all seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen von der Organisation vereinnahmt werden.

Im Diskurs über Organisationskultur wurde der Führung durch das Leitungspersonal eine zentrale Rolle bei der Etablierung einer Gemeinschaftsorientierung zugeschrieben. Manager würden durch die glaubwürdige Vertretung von Werten und deren Vorleben die Kultur der Organisation prägen. Über die Fragen, die sie ihren Mitarbeitern stellen würden, über die Themen, die sie mit ihnen besprächen, und über die Probleme, die ihnen wichtig seien, könnten die Manager unmittelbar Einfluss auf die Organisationskultur nehmen. Man kann geradezu von einer „Renaissance der Führer“ im Diskurs über die Organisationskultur sprechen.

Ausgangspunkt waren die gleichen Fragen, die schon Jahrzehnte zuvor in der Führungsdiskussion gestellt wurden: Wie gelingt es einigen Führern, ihre Anhänger dazu zu motivieren, Leistungen jenseits einer reinen Pflichterfüllung zu erbringen? Warum messen Anhänger mancher Führer deren Visionen und Missionen mehr Bedeutung zu als eigenen Zielen? Wie schaffen es einige Führer, ihre Anhänger für aufopferungsvolles Verhalten zum Wohle der Allgemeinheit zu gewinnen? Gesucht wurde ein Führungsansatz, der aus einer auf Dienst nach Vorschrift gepolten Belegschaft inspirierte, motivierte und energetisierte Anhänger machen würde.

Die Elemente, aus denen sich dieser Führungsansatz zusammensetzt, sind weitgehend die gleichen, die im Rahmen der Gemeinschaftsideologie vor dem Zweiten Weltkrieg propagiert wurden. Führungskräfte sollen ihren Anhängern den Sinn ihrer Tätigkeiten verdeutlichen. Sie sollen eine Vision für die Zukunft ihrer Organisation haben und dadurch ihre Anhänger inspirieren und motivieren, kreative Wege zur Erreichung ihrer Ziele zu finden. Dabei müssen sie sich als Berater, Coaches, Lehrer und Mutterfiguren um die individuellen Bedürfnisse ihrer Anhänger kümmern.

In den Mittelpunkt rückt dabei die Vorstellung von Führung als Dienstleistung gegenüber den Geführten. Hierfür seien verschiedene Charaktereigenschaften bei der Führungskraft notwendig. Es bedürfe der Bereitschaft und Freude, anderen zu dienen; man müsse bereit sein, sich für die eigene Gefolgschaft – aber auch für die Gemeinschaft als Ganzes – aufzuopfern. Voraussetzung sei ein hohes Maß an emotionaler Intelligenz, die es einem ermögliche, die Gefühle anderer zu erfassen und darauf zu reagieren. Die Führungskraft solle zudem über moralische Integrität verfügen und auch unter Druck ihrem eigenen moralischen Kompass folgen. Wenn die Geführten diese dienende Führung zu schätzen wüssten und die dadurch möglichen Freiräume nutzen würden, könne sich eine Organisationskultur gegenseitigen Vertrauens ausbilden, in der sich alle gegenseitig fordern und fördern würden.

Weil sich der Begriff der charismatischen Führung in der Diskussion verbraucht hatte, setzte sich für diese Prinzipien neben Bezeichnungen wie begeisternde, emotionale und heroische Führung besonders der Begriff der transformationalen Führung durch. Die Abgrenzung zur charismatischen Führung war dabei nicht primär inhaltlich begründet, sondern diente vorrangig zur Reaktivierung der Ideen der charismatischen Führung durch einen neuen Begriff. Wie für die mit Kontrastierungen arbeitenden Managementkonzepte üblich, wird dem Konzept der transformationalen Führung das vermeintlich überholte Konzept einer transaktionalen Führung gegenübergestellt. Bei letzterer werde die Gefolgschaft lediglich über die Erreichung von formal vorgegebenen Zielen motiviert. Zwischen dem Vorgesetzten und seinen Mitarbeitern bestände die Vereinbarung, dass diese für die Erreichung der Ziele belohnt würden, während bei Nichterreichung Sanktionen bis hin zur Entlassung drohten. Letztlich handelt es sich bei transaktionaler Führung um eine Tauschbeziehung, die aufgekündigt werden kann, wenn eine Seite die Verpflichtung nicht erfüllt.

Wie stark die Idee der transformationalen Führung frühere gemeinschaftsorientierte Modelle von Führung aufgreift, wird daran deutlich, dass es ursprünglich am Beispiel politischer und religiöser Bewegungen entwickelt und dann als Erfolgsrezept für Organisationen übernommen wurde. Ähnlich dem Führungsverständnis im frühen 20. Jahrhundert orientiert es sich an politischen oder religiösen Bewegungen, in denen die Motivation über einen gemeinsamen Wert, die Erzeugung von Anhängerschaft über mitreißende Auftritte der Führung, das Zulassen von Gestaltungsmöglichkeiten und das Eingehen auf die Bedürfnisse der Anhängerschaft eine zentrale Rolle spielen. Diese Vorstellung wird auf Organisationen übertragen, denen mit der Formulierung von formalen Erwartungen andere Mechanismen zur Herstellung von Gefolgschaft zur Verfügung stehen.

Die Ausbildung des Diskurses über Organisationskultur war letztlich eine Reaktion auf die starke Betonung der Formalstruktur, die in den 1950er und 1960er Jahren weite Teile des Managementdiskurses dominierte. Besonders der wirtschaftliche Erfolg Japans in den 1970er und 1980er Jahren führte dazu, dass debattiert wurde, wie das auf einer starken Vereinnahmung des Personals basierende japanische Modell durch europäische oder amerikanische Organisationen kopiert werden könne. Die Formalstruktur wird in der Literatur zur Organisationskultur nicht ignoriert, sie spielt aber nur als Rahmen eine Rolle, in dem sich die für den Erfolg zentralen informalen Prozesse entwickeln können.

Bei dem von Praktikern vertretenen Ansatz zur Gestaltung der Organisationskultur handelt es sich letztlich um die Reaktivierung einer alten Steuerungsphantasie – der Managementtraum, über informale Netzwerke und implizite Denkschemata die Gemeinschaft der Mitarbeiter so zu gestalten, dass sie die Organisation erfolgreicher machen. Mit dem Begriff der Organisationskultur konnten Manager einerseits den klassischen, auf der formalen Struktur basierenden Steuerungsvorstellungen abschwören, aber andererseits die Vorstellung einer – wenn auch schwerer zugänglichen – Steuerung von organisationalen Ordnungen aufrechterhalten.


Auszug aus Stefan Kühl „Führung und Gefolgschaft. Management im Nationalsozialismus und in der Demokratie“ (Suhrkamp 2025, 24,- Euro).

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