Kommt ein Hospitant in die Kaffeeküche, um die Pause der Belegschaft dafür zu nutzen, einen Vorschlag zu machen. Er brennt ihm schon eine Weile unter den Nägeln. Die vielen älteren Leute werkeln vor sich hin, und der junge Neuling fragt sich, warum man der quälenden Excel-Tabelle nicht eine Nutzeroberfläche voranstellt. Statt einer Tabelle, die man ewige Seiten herunterscrollen muss, sieht man nur noch zwei Felder für Text und ein Dropdown-Menü. Keine wusste, dass es geht. Niemand weiß, wie es geht. Der Hospitant hatte gerade gelernt: Das morgendliche Einchecken bei seinen vorherigen Stationen sah nur schöner aus, tatsächlich hat er seine Anwesenheit in ein profanes Excel-Blatt geschrieben. Was ihm jetzt auffiel, war: Es ging auch viel schneller.
Ich nehme leider nur noch wenig an universitärer Soziologie teil, dafür umso mehr an der, die in Podcasts stattfindet. Zumindest dort höre ich immer wieder Erklärungen, dass die Pause, das zufällige Gespräch, die unbeabsichtigte Erkenntnis auch für die Soziologie interessant sei, nicht nur der Chef, seine Hierarchie und das Meeting. Diese Zaghaftigkeit schlägt sich häufig in der neuen Gattung Linked-In-Soziologie nieder. Sie zeichnet sich dadurch aus, händeringend etwas Neues sagen zu wollen, ohne jemandem Älterem damit auf die Füße zu treten. In unserem Fall würde man in diese Richtung abbiegen und schreiben: „Warum wir in Unternehmen mehr Gestaltung brauchen!“ Niemand kann etwas gegen Gestaltung haben. Ein Hospitant (Nichtmitglied) steht in der Kaffeeküche (Informalität) und macht einen Vorschlag (Innovation). Das ist Anlass genug, um sich noch einmal stundenlang zu versichern, dass das ein Fall für die Soziologie ist, den man dann so und so ausleuchten kann. Dann werden viele Posts über neue Begriffe geschrieben.
Oder aber man fasst all seinen Mut zusammen und reklamiert die zentralsten und am höchsten bewerteten Grundbegriffe für sich, die sowohl das Feld als auch die Wissenschaft prägen. Judith Muster sprach ja kurz vor der Publikation der dazugehörigen Texte in Corporate Therapy darüber, dass für solch einen jungen Hospitanten in der Kaffeeküche durchaus das Wort „Führung“ angebracht ist. In meinem Buch Kinderwüste griff ich diese Idee auf und nutzte sie für die Pointe, dass für unseren Blick auf Familien ja ganz Ähnliches gilt. Das Private ist nur etwas ungetrübter von einer Grundbegriffslandschaft, wie sie die Arbeitswelt prägt. Es ist völlig klar, dass man sich zur Liebe gegenseitig indirekt verleiten muss, dass Kinder auf Befehle wenig hören und dass die Küche der wichtigste Ort des Hauses ist. Die Führung und die Verführung liegen ganz nah beieinander.
Wenn es aber so einfach fällt, das Private auf diese Weise zu behandeln – also über Dating, Pädagogik und Feiern am Wochenende zu schreiben –, warum klebt man beim Blick auf Arbeitsorganisation so sehr am Chef, dem Zweck, den Budgets und der Befehlskette? Einfache Antwort: Weil man so etwas in Excel-Blätter schreiben kann. Und ja, da bleibt es auch stehen, wenn man die Benutzeroberfläche hübsch macht. Aber deswegen sollte man noch nicht gleich alles andere in Linked-In-Soziologie und Gestaltungsworkshops auslagern, sondern es so beschreiben, wie es ist: Das Überleben der Firma hängt davon ab, dass der Hospitant eine gute Idee hat. Hat man nur einen Chef, nur einen Befehl und nur die Zielvergabe, reicht es nicht, weder für die Firma, noch für die Soziologie.
Also, mehr Mut zur sanften Feder und dem Vorschlaghammer. Will man von den Fortschritten im Alltag erzählen, muss das passende Besteck herausgeholt werden. „Die Führungskraft hat innoviert.“ Ich möchte nichts Weichgespültes zum Thema Partizipation oder Innovation mehr lesen. Organisationen sind nun mal der Widerspruch an sich. Sie organisieren Kommunikationsverbote über Hierarchien, sie verteilen Arbeitszeit und Aufgaben, sie trennen Mitarbeiter von Kundschaft. Warum sie aber Partizipation mühsam planen; dass informelle Gespräche Wirkungen entfalten; dass Hospitanten ein Gewinn sind und Kunden tatsächlich Könige, sollte nicht ständig neu überraschen. Den Begriff „Führung“ vom Begriff „Vorgesetzter“ zu lösen war in meinem Blick von außen einer der größten Gewinne, den die Soziologie zuletzt für sich und mich verbucht hat. Welche Begriffe entkoppeln wir als Nächstes?

Schreibe einen Kommentar