Die Geschichte der frühen Bundesrepublik ist deswegen spannend, weil in der Nachkriegszeit Millionen von überzeugten Nationalsozialisten ihre Einstellungen und ihr Verhalten so änderten, dass sie sich nicht nur mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung arrangierten, sondern nicht selten auch an zentralen Stellen in Politik, Recht, Wissenschaft, Wirtschaft und in den Massenmedien zu ihrer Stabilisierung beitrugen. So wie es dem NS-Staat gelang, eine breite Unterstützung der Bevölkerung zu erlangen und Hunderttausende von Deutschen dazu zu motivieren, sich an der Verfolgung, Deportation, Erschießung und Vergasung von ethnischen oder religiösen Minderheiten, politisch Andersdenkenden, geistig Behinderten und psychisch Kranken zu beteiligen, schien es in der Nachkriegszeit zu gelingen, ehemals überzeugte Nationalsozialisten in eine Demokratie zu integrieren.
Die Interaktionssoziologie hat überzeugend nachgewiesen, dass Personen ihre Meinungen nicht ohne weiteres ändern können, weil sie unter Konsistenzzwängen stehen. Eine einmal zur Schau gestellte Selbstdarstellung verpflichtet eine Person, im Folgenden an diese anzuschließen. Wer sich einmal als Vegetarier eingeführt hat, kann nicht einfach einen Schweinsbraten bestellen. Das schließt Veränderungen in der Selbstdarstellung nicht aus, aber man muss in diesem Fall Versicherungen abgeben, dass man trotz der Veränderungen dieselbe Person geblieben ist. Das erfordert in der Sach-, Sozial- und Zeitdimension ein anspruchsvolles Management der Selbstdarstellung.
Gerade politische Selbstdarstellungen sind mit einem erheblichen Konsistenzdruck verbunden. Wenn man sich erfolgreich als Nationalsozialist eingeführt hat, gerät man unter Rechtfertigungszwang, wenn die Lieblingsspeise Matzeknödel sind, man homosexuelle Neigungen pflegt und diese dann auch noch mit Personen auslebt, die nicht den Rassekriterien eines guten Nationalsozialisten entsprechen. Schließlich erwarten Beobachter, dass sich politische Einstellungen nicht nur auf das Wahlverhalten auswirken, sondern auch erkennbare Spuren in der Berufswahl, dem Konsumverhalten und im Sexualleben hinterlassen.
Bei der Veränderung politischer Grundpositionen entstehen Begründungspflichten. Wer sich in der frühen NS-Zeit mit der Propagierung des Führungsprinzips profiliert hat, steht unter Rechtfertigungszwängen, wenn er mit dieser Position später nicht mehr identifiziert werden will. Man kann darauf hoffen, dass Wortbeiträge vergessen, Publikationen übersehen werden und sich Beiträge im Rundfunk versendet haben – aber wegen den allgemein akzeptierten Konsistenzerwartungen muss man immer damit rechnen, dass man an früher eingenommene Positionen erinnert wird und dann Stellung beziehen muss.
Mitgliedschaften in Organisationen entlasten teilweise von solchen Darstellungszwängen, weil man auf die Notwendigkeit des Geldverdienens verweisen kann und deswegen nicht unbedingt mit einer Tätigkeit als Straßenkehrer, Pharmavertreter oder Medienanwalt identifiziert werden muss. Dies funktioniert bei Mitgliedschaften in politischen Organisationen jedoch nur begrenzt. Zwar kann man darauf verweisen, dass man Handlungen nur ausgeführt hat, weil dies von einem als Organisationsmitglied verlangt wurde. Aber anders als die Übernahme einer Lohntätigkeit kann man sich den Eintritt in Organisationen wie der NSDAP, der SS oder der SA nur mit erheblichem argumentativem Aufwand nicht als eigene und damit begründungspflichtige Entscheidung zurechnen lassen. Man mag die Mitgliedschaften damit erklären, dass andere für einen die Mitgliedsformulare unterschrieben haben oder dass im Rahmen eines Masseneintritts ganze Jahrgänge ungewollt zu Mitgliedern geworden sind. Für den Beobachter wirkt das aber doch sehr bemüht.
Von entscheidender Bedeutung ist, wem gegenüber man eine bestimmte Form der Selbstdarstellung gezeigt hat. Die Trennung von Lebenskreisen in der modernen Gesellschaft ermöglicht es, sich den Kollegen gegenüber anders zu präsentieren als den Kameraden im Sportverein, den Genossen in der Partei oder den Mitgliedern der eigenen Familie. Das setzt aber voraus, dass es gelingt, das Publikum der eigenen Selbstdarstellung zumindest teilweise zu segregieren. Wenn sich die Mitglieder in der Arbeit, im Verein, in der Partei und in der Familie zu sehr überschneiden, fällt eine solche Segregation schwer und die Erwartungen an die Konsistenzen in der Selbstdarstellung nehmen zu.
Gerade in der Nachkriegszeit wurde die Publikumssegregation zur Rechtfertigung des eigenen Verhaltens genutzt. Es wurde darauf verwiesen, dass man in seiner offiziellen Rolle in einem Ministerium, einer Verwaltung, einer Polizei, einer Universität oder einem Unternehmen zwar gezwungen gewesen sei, sich als überzeugter Nationalsozialist zu präsentieren, dass man sich aber in privaten Kreisen als Kritiker des Nationalsozialismus hervorgetan habe. Die offizielle Rolle habe man nur eingenommen, um seine Karriere oder gar sein Leben nicht zu gefährden, während die im Privaten eingenommene kritische Position als die eigentliche Haltung zum Nationalsozialismus zu verstehen sei.
Diese Rechtfertigungsstrategie wirkt jedoch unplausibel, wenn man sich öffentlich positioniert. Aufgezeichnete Vorträge vor einem großen Publikum, Artikel in Propagandaschriften der Nationalsozialisten oder Bücher in von den NS-Zensurbehörden abgesegneten Schriftenreihen lassen sich nur begrenzt mit spezifischen Anforderungen an Vortragende, Journalisten oder Autoren rechtfertigen. Öffentliche Äußerungen, die im Prinzip von jedem wahrnehmbar sind, werden der Person als Haltung zugerechnet, von der sie sich nur schwer mit Verweis auf eine in der Hinterbühne eingenommenen Meinung distanzieren kann.
Dies machte es für die NS-Ideologen besonders herausfordernd, ihre Haltungen zu rechtfertigen. Während ehemalige Angehörige der Ordnungspolizei, des Sicherheitsdienstes, der SS oder der Zivilverwaltung darauf hoffen konnten, dass ihre Beteiligung bei der Deportation, Ghettoisierung und Erschießung von Juden nicht thematisiert würde, weil ihre Kameraden kein Interesse an einer Thematisierung hatten und ihre Opfer in den allermeisten Fällen tot waren, mussten die Ideologen damit rechnen, dass ihre Veröffentlichungen jederzeit wieder an die Öffentlichkeit kommen konnten.
Unter welchen Bedingungen war es möglich, aus diesen Konsistenzzwängen auszubrechen?
Beobachter erwarten, dass man sich über die Zeit konsistent präsentiert. Ausnahmen bilden lediglich die ersten beiden Lebensjahrzehnte, in denen grundlegende Veränderungen nicht nur zugestanden, sondern bis zu einem gewissen Maße auch erwartet werden. Niemand geht davon aus, dass ein Kleinkind später noch an den Hosenzipfeln seines Vaters hängt. Eine zu große Selbstdarstellungskonsistenz in dieser frühen Lebensphase wird als Entwicklungsverzögerung angesehen und als Fall für pädagogisches Spezialpersonal betrachtet.
Wenn man jedoch erst einmal als Erwachsener „durchsozialisiert“ ist, wird Konsistenz in der Selbstdarstellung erwartet. Die Aussage, „Du hast Dich aber verändert“, ist häufig in dieser Altersphase nicht als Kompliment gemeint, sondern bringt die Irritation über die veränderte Selbstdarstellung des Gegenübers zum Ausdruck. Wenn man seine Positionen zu häufig wechselt, wird man als erratisch wahrgenommen und gemieden.
Selbstverständlich sind auch Veränderungen in der Selbstdarstellung möglich. Aber dann muss man auf Nachfrage auskunftsfähig sein. Man muss auf den Leichtsinn der Jugend, die Naivität im eigenen Denken oder einschneidende Erlebnisse verweisen, um eine Änderung begründen zu können. Damit bestätigt man aber auch, dass man früher eine andere, problematische Haltung eingenommen hat. Unter diesen Umständen ist es häufig angenehmer, sich nicht allzu genau daran erinnern zu lassen, wofür man früher einstand.
Auszug aus Stefan Kühl „Führung und Gefolgschaft. Management im Nationalsozialismus und in der Demokratie“ (Suhrkamp 2025, 24,- Euro).
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