Die nationalsozialistische Ideologie der Volksgemeinschaft

In der deutschsprachigen Diskussion wurde die Idee der „Gemeinschaft“ sehr früh mit dem Konzept des „Volkes“ verknüpft. Die „Volksgemeinschaft“ war, so die Vorstellung, nichts anderes als das „Volk in Gemeinschaft“. „Gemeinschaftsgedanke“ und „Volksgedanke“ fielen faktisch zusammen. „Das Volk“ sei die Gemeinschaft, „in welcher der Deutsche sich erfüllt“.

Mit dem Ersten Weltkrieg wird der Begriff der Volksgemeinschaft in Deutschland zu einem „inflationär gebrauchten“, häufig „irrational aufgeladenen“ Begriff, mit dem das Streben „nach einer neuen Form des gemeinschaftlichen Lebens“ zum Ausdruck gebracht werden sollte. Die Volksgemeinschaft wurde eine „politische Sehnsuchtsformel“, mit der die Aussicht auf ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl verbunden werden konnte. Darin wurde die Hoffnung nach neuen „Bindungen der Sitte, des Stils, der Kultur“ und damit eng verbunden „der Kameradschaft, des Führertums und der Gefolgschaft“ zum Ausdruck gebracht.

Als „beherrschende politische Deutungsformel“ nach dem Ersten Weltkrieg war das Konzept der Volksgemeinschaft an eine Vielzahl von politischen und religiösen Diskursen anschlussfähig. Es wurde von fast allen politischen Parteien und religiösen Richtungen in der Weimarer Republik genutzt. Anarchisten, Sozialdemokraten und Liberale verwendeten es genauso wie Konservative und Nationalsozialisten. In der katholischen Soziallehre spielte es genauso eine Rolle wie in der evangelischen Ethik und in den jüdischen Moralvorstellungen.

Auch wenn der Begriff der Volksgemeinschaft die Bevorzugung des Volkes gegenüber dem Individuum hervorhob und eine Zugehörigkeit jenseits von Klassengrenzen suggerierte, blieb er doch unbestimmt genug, um an unterschiedliche politische und religiöse Diskurse anzuschließen. Mit Claude Lévi-Strauss kann man bei der Volksgemeinschaft von doppelten „flottierenden Signifikanten“ sprechen. Sowohl die Bedeutung des „Volkes“ als auch des Begriffs der „Gemeinschaft“ sind so nebulös, so flottierend, dass damit ganz unterschiedliche Vorstellungen assoziiert und die Begriffe von Kontext zu Kontext unterschiedlich benutzt werden können.

Zweifellos waren die Nationalsozialisten diejenigen, die den Begriff der Volksgemeinschaft am konsequentesten in ihrer eigenen Ideologie verankerten. Die Volksgemeinschaft werde, so der Staatssekretär im Reichsministerium des Inneren Wilhelm Stuckart, „vom Nationalsozialismus in den Mittelpunkt allen Seins gestellt“. Sie sei die „einzige menschliche Gemeinschaft, die umfassend und selbständig ist, die für sich besteht und sich aus sich selbst erneuert“. „Nationalsozialistische Volksgemeinschaft“ sei, so Joseph Goebbels, „die erzielte Verständigung der Volksgenossen untereinander, mithin der Ertrag sozialistischen Denkens.“

Die nationalsozialistische Ideologie baute auf einer Bestimmung der Volksgemeinschaft als „einer rassisch bestimmten Blutsgemeinschaft“ auf. So spricht sich Reinhard Höhn als einer der prominenten Verfechter der nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsidee dafür aus, dass das Konzept der „Volksgemeinschaft“ zwangsläufig über die Kategorie der Rasse zu bestimmen sei. Voraussetzung für das „Recht in der Gemeinschaft leben zu können“, sei die „Einheit des Blutes“. Darin „liege die ungeheure Bedeutung der Rasse und des Blutes für die Gemeinschaftsbildung“.

Die Ideologie der Nationalsozialisten basierte auf der Ausgrenzung von vermeintlich „Gemeinschaftsfremden“ aus der von ihnen über Rasse und Blut definierten Volksgemeinschaft. Wenn die „Volksgemeinschaft“ als „Rassegemeinschaft“ verstanden wird, fallen in der Logik der Nationalsozialisten automatisch alle Personen heraus, die den mehr oder minder willkürlich bestimmten Rassekriterien nicht entsprechen. Im Sinne der rassistischen Ideologie der NS-Zeit könne man nicht mit einem aus Afrika stammenden Menschen das „Erlebnis der Volksgemeinschaft“ haben, weil „gleiches Denken, Fühlen und Handeln in einem Volk“ von „rasse- und artmäßigen Anlagen bedingt“ werde.

Bei der rassistischen Aufladung des Konzepts der Volksgemeinschaft macht sich die für die nationalsozialistische Ideologie typische Verknüpfung von ethnischem und eugenischem Rassismus bemerkbar. Der ethnische Rassismus richtete sich gegen Personengruppen, die als „rassisch andersartig“ definiert werden. Dazu wurden im NS-Staat in einer schon damals eigenwilligen Interpretation von Rasse auch Personen gezählt, deren Eltern oder Großeltern jüdischen Glaubens gewesen waren. Der eugenische Rassismus richtete sich gegen Personen, die von den Nationalsozialisten zur eigenen Rasse gezählt wurden, aber aufgrund von körperlichen und geistigen Behinderungen, psychischen Erkrankungen oder sexueller Orientierung als genetisch minderwertig betrachtet wurden. Für Höhn war es selbstverständlich, dass der Staat durch Zwangssterilisation und Heiratsverbote in „das Leben des Einzelwesens“ eingreifen müsse, wenn „seine Erbmassen dem Gesamtvolkstum schädlich“ seien.

In dieser durch ethnischen und eugenischen Rassismus geprägten Ideologie der Volksgemeinschaft war die Option angelegt, dass Personen, die nicht den vorgegebenen Rassekriterien entsprachen, vernichtet werden müssen. „In der eigenen Volksgemeinschaft“, so der Soziologe Helmut Schelsky kurz nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, zeige sich der nationale Sozialismus „als Liebe zum Ganzen, nicht aber als Mitleid mit dem einzelnen Menschen“. „Wahrer Sozialismus“ sei es, „Leute, die für das Volk ihre Leistung nicht erfüllen oder es gar schädigen, auszuschalten oder sie sogar zu vernichten“.

Die Idee der Volksgemeinschaft musste nach den Grundgedanken ihrer nationalsozialistischen Verfechter durch eine rassisch begründete Gemeinschaft im Kleinen erlebbar gemacht werden. Das „Gemeinschaftserlebnis“ könne, so Höhn, zwar auch in der Masse des deutschen Volkes erfahren werden, konkret spürbar sei es aber erst in kleinen Gemeinschaften. Der NS-Staat lege „mit guten Gründen“ „großen Wert auf die politische Übereinstimmung, auf einen gleichen Gemeinschaftsgeist im staatlichen Leben“. Dazu sei es nötig, den „Gemeinschaftsgeist auf allen Gebieten des Lebens entstehen zu lassen“, den „Menschen also möglichst stark, überall, wo er handelt und wirkt im Gemeinschaftsgeist zu erfassen“.

In der Sprache der NS-Ideologen drückt sich das in der Vorstellung aus, dass die kleinen „Sturmtruppen des Geistes“ als Gemeinschaften für eine rassisch begründete Volksgemeinschaft funktionieren sollten. In „kleinen Gemeinschaften“ müsste, so Höhn, das durchgemacht werden, „was das deutsche Volk, ehe es zur Volksgemeinschaft kommt“, noch durchzumachen habe. Konsequent müsse das, was in „kleinen Gemeinschaften an Kämpfen und Widerständen erlebt“ werde, für den „Staat, der auf Volksgemeinschaft aufgebaut werden soll“, genutzt werden.

Das Prinzip der Gemeinschaft konnte nach der Vorstellung der NS-Ideologen in unterschiedlichen sozialen Gebilden festgemacht werden. In der SA, der SS, der Nationalsozialistischen Frauenschaft, der Hitler-Jugend oder dem Bund Deutscher Mädel würde, so Höhn, Gemeinschaft durch „die gemeinsamen Strapazen zur Erreichung des Zieles, die Verteidigung gegen die politischen Gegner“ entstehen. Der „Gemeinschaftsgeist trete aber auch in einer „religiösen Gemeinde“ auf, die „das religiöse Erlebnis zum Inhalt“ habe. Er könne ebenfalls in einer Familie entstehen, die „die gemeinsamen Sorgen und Freuden des Alltags, die Erziehung der Kinder und die tägliche Arbeit“ meistert. Aber auch in den Betrieben wäre das Gefühl der Gemeinschaft präsent.

Die durch die Nationalsozialisten initiierten „kleinen Gemeinschaften“ – „in der SA, im Arbeitslager, in der SS“ – würden, so Höhn, helfen, die „Stände- und Klassengegensätze im Volk“ zu überwinden. Das „Erlebnis des Lagers“ festige und stärke die „Gemeinschaft des Bundes“. In einem „Arbeitslager“ sei erlebt worden, dass es nicht darauf ankomme, „was für einen Titel und Rang jemand hat, oder was sein Vater ist“, sondern nur darauf, dass „es gilt im Kreis seiner Kameraden als deutscher Mann und Soldat der Arbeit“ zu wirken und „Träger des Geistes deutscher Volkgemeinschaft“ zu werden. Im gleichen Sinne arbeiteten in der Betriebsgemeinschaft „der Unternehmer als Führer des Betriebs, die Angestellten und Arbeiter als Gefolgschaft gemeinsam zur Förderung der Betriebszwecke“ und „zum gemeinen Nutzen von Volk und Staat“ zusammen. Das „Gemeinschaftsdenken“ trete an die „Stelle des Interessendenkens“.

In der Ideologie der Nationalsozialisten war die Ausbildung von Gemeinschaften eng mit der Identifikation mit einer übergeordneten Moralvorstellung verbunden. „Sinnloses Arbeiten“ in Betrieben sei „undeutsch“, so das Postulat von Karl Arnhold, einem der zentralen Verfechter der Anwendung der nationalsozialistischen Gemeinschaftsideologie. „Der deutsche Arbeitsmann“ müsse davon überzeugt sein, dass „das, was er tut, einen besonderen Sinn“ habe. Im Nationalsozialismus komme es nicht darauf an, Arbeit als eine rein „technische Angelegenheit“ oder als ein „Mittel“ zum Brotverdienst zu verstehen. Vielmehr entstehe eine tiefe Befriedigung durch die Möglichkeit, „an einem großen Werk“ mitschaffen zu dürfen.

Arnhold illustriert die übergeordnete nationalsozialistische Arbeitsideologie mit einer schon in der Weimarer Republik verwendeten, dann aber im NS-Staat expansiv genutzten Parabel einer Gruppe von Steinmetzen. Auf die Frage an den Ersten, was er hier eigentlich mache, antwortet dieser entgeistert, dass das doch einfach zu erkennen sei – er müsse „hier Steine behauen, sauber und ordentlich“. Ein Zweiter reagiert ärgerlich und verdrossen, man solle ihn in Ruhe lassen, er müsse hier schließlich „Geld verdienen“. Der dritte Steinmetz antwortet, ganz im Sinne der von Arnhold favorisierten Arbeitsmotivation, mit leuchtenden Augen, dass er an einem Dom mitbauen dürfe.

Diesem Beispiel zufolge rückt die Gemeinschaft den Menschen „in den Mittelpunkt“. Wenn man auf Gemeinschaft setze, werde der Mensch zum „beseelten Motor des Betriebsgeschehen“. „Der schaffende Mensch“, so die Auffassung, sei „der Urquell jeder Leistung“ – „nicht die Maschine, nicht die Organisation und nicht das Geld“. „Sein Arbeitskönnen, sein Leistungswille und seine Arbeitsgesinnung“ seien der Ausgangspunkt für „all die Kräfte“, die durch intelligente Organisationen „einzufädeln“ seien.

Betont wird dabei, dass erst durch Adolf Hitler die Arbeit in Organisationen wieder mit einem höheren Sinn ausgestattet worden sei. „Das Letzte und Höchste“ könne, so Arnhold, „der Mensch erst dann hergeben, wenn er für ein Ideal kämpft“. „Dieses Ideal“ sei aber lange Zeit nicht vorhanden gewesen, weshalb der Mensch „bestenfalls für sich“ gearbeitet hätte. Es habe erst mit Hitler „der Mann kommen müssen, der das Auge“ „vom Ich“ auf „ein Höheres“ hingelenkt hätte, für dass es sich lohne, „nicht nur die Stunden zu messen und in die Lohntüte zu gucken“.

In der von den Nationalsozialisten propagierten Ideologie herrschte die Vorstellung, dass sich die Erwartungen in gemeinschaftsorientierten Organisationen informal ausbilden. Gemeinschaften, so Höhn, könne man „nicht organisieren“, sie müssten vielmehr „organisch wachsen“. Die Aufgabe der Führer könne nicht darin bestehen, eine Gemeinschaft zu verordnen, sondern darin, „Hindernisse aus dem Weg zu räumen“, „dem Wachstum zu lauschen“ und „Formen zu schaffen, in denen sich auf Grund einer gewissen Erfahrung Gemeinschaftsleben bildet“. In der Volksgemeinschaft komme es im Großen wie im Kleinen darauf an, die „Bedingungen für ihr Wachstum“ zu bilden – denn auch der Gärtner könne „nicht sagen, er habe die Pflanze geschaffen“; sie sei vielmehr „geworden“. Er habe aber „mit kluger Hand den Boden bereitet und ihr die Bedingungen für ihr Wachstum gegeben“.

Hinter dieser Ideologie steckte eine große Skepsis gegenüber der Anwendung formaler Mechanismen zur Steuerung von Organisationen. Für die Nationalsozialisten war die Vorstellung formaler Planung Ausdruck „jüdischen Denkens“. Dieses „jüdische Denken vom Rechenzettel her“ habe sich in der Weimarer Republik, so der Leiter der nationalsozialistischen Deutschen Arbeitsfront Robert Ley, „auf das gesamte Volk“, „auf den Staat und auf die Wirtschaft ausgedehnt“. Man sei dazu gekommen, „alles zu organisieren, was irgendwie in Erscheinung trat“. Erst durch die Nationalsozialisten sei dieser Hang zur Formalisierung zurückgedrängt worden.

In seiner programmatischen Schrift Mein Kampf hatte Hitler erklärt, dass er „ein Feind von zu schnellem und zu pedantischem Organisieren“ sei, weil dabei „meist nur ein toter Mechanismus“ herauskäme und eher „selten eine lebendige Organisation“. Im Nationalsozialismus wurde das formale Organisieren als „ein notwendiges Übel“ angesehen, dass bestenfalls einen groben Rahmen für die Ausbildung informaler Erwartungen bilden könne.Es komme nur darauf an, das zu organisieren, „was man organisieren muss, nicht aber auch das, was man organisieren kann“.[1] Nationalsozialisten seien, so Ley, „keine Rechenmenschen“.


Auszug aus Stefan Kühl „Führung und Gefolgschaft. Management im Nationalsozialismus und in der Demokratie“ (Suhrkamp 2025, 24,- Euro).


[1] Ley, „Menschenführung und Sachwaltung“, S. 32. Zur Rolle Leys im NS-Staat siehe knapp Ronald Smelser, „Eine „braune Revolution“? Robert Ley, Deutsche Arbeitsfront und sozialrevolutionäre Konzepte“, in: Wolfgang Michalka (Hg.), Der Zweite Weltkrieg. Analysen – Grundzüge – Forschungsbilanz, München, Zürich 1989, S. 418-429; Ronald Smelser, „Robert Ley – Der braune Kollektivist“, in: Ronald Smelser, Enrico Syring u. a. (Hg.), Die Braune Elite I. 22 biographische Skizzen, Darmstadt 41999, S. 173-187.

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