Das Prinzip der Hierarchie wurde selbstverständlich in der Praxis des NS-Staates nicht aufgegeben. In der Wehrmacht dominierten die über Jahrhunderte etablierten militärischen Rangordnungen, die Ministerialverwaltungen waren nach den üblichen hierarchischen Prinzipien untergliedert und in den Unternehmen wurden aller Rhetorik der Betriebsgemeinschaft zum Trotz die Vorgesetzten-Untergebenen-Verhältnisse beibehalten. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass jenseits der gelebten organisatorischen Praxis in der nationalsozialistischen Führungsideologie die Bedeutung der formalen Hierarchie zur Absicherung von Führungsansprüchen aufgeweicht wurde.
So waren für Reinhard Höhn, einem der führenden Staatsrechtler im Nationalsozialismus, die aus der Gemeinschaft heraus entstehenden Führer den aufgrund von formalen Rechten eingesetzten Führern weit überlegen. Der „eingesetzte Führer“ sei zunächst nichts weiter als ein „Vorgesetzter“. Erst wenn sich um den „Vorgesetzten“ und „seine Leute“ ein „Gemeinschaftsgeist“ schlinge, werde er zum Führer. Der „eingesetzte Führer“ stelle bei einer „umsichtigen höheren Führung, die um die Gesetze der Gemeinschaft weiß, keine Gefahr“ dar. Denn sie werden immer sehen, „ob er in der Lage ist, mit dem ihm anvertrauten Leuten eine Gemeinschaft zu bilden und so vom Vorgesetzten zum Führer zu werden“. Anderenfalls werden sie „ihn wegnehmen und einen anderen an seine Stelle setzen“. Sonst zeige sich die „sehr eigentümliche Erscheinung“, dass neben dem „eingesetzten Führer“ in „der Gemeinschaft unmerklich Führer“ entstünden, die „den Gemeinschaftsgeist“ in sich trügen, „richtungsgebend für die Gemeinschaft“ seien und den „eingesetzten Führer“ zu einer „rein äußerlichen, dekorativen Figur“ verkommen ließen.
Der Begriff der Führung wird im Nationalsozialismus im Kontrast zur Hierarchie geschärft. „Ein die Allgemeinbelange förderndes Zusammenarbeiten“ werde, so Müller, „noch lange nicht dadurch erreicht, daß man einem Vorgesetzten die formale Gewalt über den Untergebenen verleiht“. Das sei „lediglich eine organisatorische Maßnahme, die Zwang bedeutete, aber noch keine Vernunft zu sein braucht“. „Ein Zwangsgefühl“ bringe „stets Reibung und Kräfteverlust mit sich“, „die Vernunft“ sei dagegen „das natürliche Öl im Räderwerk des täglichen Lebens“.
In der nationalsozialistischen Ideologie wurde dabei das Konzept der Führung mit dem des Managements kontrastiert. Wichtig sei, so Heinrich Himmler, die „geistige Haltung“, die „menschliche Haltung“ und das „Führen“. In vielen Organisationen würde man, so Himmler mit Rückgriff auf die Klage von zu viel Management und zu wenig Führung, „nur verwalten und nicht führen“. Die Nationalsozialisten könnten mit dem deutschen Volk „alles machen“, wenn sie dieses „führen“ würden. Im Nationalsozialismus, so Höhn, werde „nicht regiert“, „sondern geführt“.
Man darf die Rhetorik der Nationalsozialisten nicht für bare Münze nehmen. Organisationen der Partei und des Staates waren häufig nicht durch ein harmonisches Zusammenwirken in einer durch die nationalsozialistische Ideologie beeinflussten Gemeinschaft geprägt, sondern durch heftige Machtkämpfe. Die Idee der Führung als Dienst an der Gemeinschaft konnte häufig nur mühsam kaschieren, dass gerade die nationalsozialistische Funktionärselite sorgsam darauf bedacht war, persönliche Vorteile zu erlangen. Organisationale Erwartungen wurden häufig nicht durch die Überzeugungskraft charismatischer Führer durchgesetzt, sondern durch die Ausübung brutaler Gewalt. Nichts desto trotz prägte die nationalsozialistische Rhetorik maßgeblich, wie über Führung gesprochen werden konnte. Es ist deswegen nicht überraschend, dass auch der Untergang des NS-Staates erheblichen Einfluss darauf hatte, wie über Führung nachgedacht wurde.
Auszug aus Stefan Kühl „Führung und Gefolgschaft. Management im Nationalsozialismus und in der Demokratie“ (Suhrkamp 2025, 24,- Euro).
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