Die Wiederentdeckung der Hierarchie in der Nachkriegszeit

Der Wandel von Führungskonzepten vom Nationalsozialismus zur Bundesrepublik Deutschland

Während der NS-Zeit dominierte die Vorstellung, dass sich die Führungsfrage wie von selbst aus der Gemeinschaft ergebe. Führer sei, so der Staatsrechtler Reinhard Höhn zu Beginn des NS-Staates, derjenige, „der, aus der Gemeinschaft gewachsen, am stärksten die Gemeinschaftsgehalte in sich“ trage und „für die Gesamtheit richtungsgebend“ handle. Wenn man Jungen „auf der Straße beim Spielen“ beobachte, so die Illustration seiner Position, dann würde man immer erkennen, „daß einer nach kurzer Zeit die Führung in der Hand“ habe. Dieser sei „meisten nicht gewählt“, sondern es ergebe sich faktisch „von selbst, daß er der Führer ist“, weil er „am besten und stärksten das, was die Gemeinschaft will, auszudrücken“ verstände und „in dieser Richtung“ handle.

Die Führer fänden sich unter den Persönlichkeiten, die den Geist der Gemeinschaft am eindeutigsten verkörperten. „Wer am stärksten in der Gemeinschaft zu leben und zu handeln“ verstehe, so die Kurzformel Höhns während der NS-Zeit, sei eine „Persönlichkeit“. Genauso „wie das Fronterlebnis einen völlig neuen Typus Mensch schuf“, genauso, „wie der Kampf der nationalen Erhebung neue Typen von Persönlichkeiten, die von diesem Gemeinschaftsgeist angefüllt sind“, schuf, so bilde „jede Gemeinschaft aus sich heraus“ die Führer, die am besten in der Lage sind, den „Gemeinschaftsgeist in sich zu tragen und in diesem Geist zu handeln“. „Überall da, wo wahre Gemeinschaft“ entstehe, seien „Persönlichkeiten“ vorhanden, „die in ihnen lebend die Gemeinschaftsgehalte am schärfsten in sich“ trügen.

Im Harzburger Modell, das Reinhard Höhn in der Nachkriegszeit entwickelte, änderte er seine Auffassung grundlegend. Statt auf einen sich aus der Gemeinschaft herausbildenden Führer setzte er jetzt auf durch die formale Hierarchie abgesicherte Vorgesetzte, deren Aufgabe sich auf die „Führungsverantwortung“ beschränkt. Dazu gehört die Auswahl der geeigneten Personen für Stellen, die im Aufgabenbereich des Vorgesetzten liegen, die Festlegung der Ziele für die Mitarbeiter, die stichprobenartige Kontrolle, ob die Aufgaben von den Untergebenen erledigt werden, die Versorgung der Mitarbeiter mit relevanten Informationen und – falls nötig – die Koordination unterstellter Mitarbeiter.

Der zentrale Gedanke des Modells lautet, dass Vorgesetzte im Delegationsbereich ihrer Mitarbeiter keine eigenen Entscheidungen treffen dürfen. Mitarbeiter übernähmen nur dann wirkliche Handlungsverantwortung, wenn Vorgesetzte in ihrem Bereich nicht intervenieren würden. Die Organisation müsse, so die Vorstellung, Vorsorge treffen, dass Vorgesetzte nicht in die schlechte Angewohnheit eines Mikromanagements zurückfallen.

Dazu gehört auch, dass Mitarbeiter davon abgehalten werden, ihre Vorgesetzen an Entscheidungen in ihrem Bereich zu beteiligen. Die Übernahme der Handlungsverantwortung durch die Mitarbeiter ist so zentral, dass das Harzburger Modell es Mitarbeitern untersagt, die an sie delegierte Handlungsverantwortung an den Vorgesetzten zurückzugeben. Führungskräfte sollen konsequent die Bitten ihrer Mitarbeiter um Ratschläge, Rückfragen zur Einschätzung einer Entscheidung und Anforderung zur Genehmigung von Vorgehensweisen ablehnen, weil damit das Prinzip der Delegation von Handlungsverantwortung unterlaufen wird. Das Verbot der Rückdelegation an den Vorgesetzten stellt für Höhn die Grundlage der Handlungsdelegation dar.

Die Ausrichtung auf Ziele und die Delegation von Verantwortung macht Kontrolle nach Auffassung von Höhn nicht überflüssig. Im Gegenteil: „Alles, was delegiert worden ist“, so ein Mantra des Harzburger Modells, „muß auch kontrolliert werden“. Die „Delegation von Verantwortung“ durch die Einrichtung von Zielen sei „keine weiche Welle“, sondern ein Prinzip in der Leistungserbringung, die selbstverständlich kontrolliert werden müsse. Dazu diene neben der Dienstaufsicht, die in Form von Stichproben durchgeführt wird, besonders die Erfolgskontrolle, bei der der Zielerreichungsgrad festgestellt wird.

Die Delegation der Handlungsverantwortung auf die Mitarbeiter führt nicht zu einer Auflösung des hierarchischen Grundprinzips in Organisationen. Umgestellt wird lediglich die Form, mit der innerhalb der Hierarchie geführt wird. An die Stelle einer „Führungspersönlichkeit“, die bis ins Detail vorgibt, was gemacht werden soll, tritt, so der Grundgedanke, eine „Führung von Amts wegen“. Die Führung durch einen autoritären „Alleinregent“ wird im Harzburger Modell durch eine Führung mit Hilfe von „Dienstweg und Richtlinie“ ersetzt.

Dabei bedient sich das Modell eines Vorteils, der in der Formalstruktur hierarchischer Führung gegenüber eher informalen Formen der Führung verankert ist. Der Clou der Hierarchie besteht darin, dass die Führungsansprüche in Organisationen nicht wie bei der Führung von Gruppen oder Bewegungen jederzeit neu ausgehandelt werden müssen, sondern in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht generalisiert werden. Generalisierung bezeichnet den Prozess, mit dem eine Orientierung von einem Einzelereignis unabhängig gemacht, von der Tagesform befreit und gegenüber Störungen immunisiert wird. Das mag auf den ersten Blick kompliziert klingen, wird aber schnell deutlich, wenn man sich anschaut, wie Führungsansprüche in Hierarchien generalisiert werden.

Anders als in der Idee der Gemeinschaft wird durch die Etablierung von Hierarchien Führung zeitlich unbegrenzt eingerichtet. Das Harzburger Modell weist Modelle von zeitlich begrenzter Vertretung von Vorgesetzten auf. Aber jedes Organisationsmitglied kann davon ausgehen, dass der Vorgesetzte von heute auch der Vorgesetzte von morgen ist. Gerade weil zeitweilige Übernahmen von Vorgesetztenpositionen als Stellvertretungen markiert werden, wären Mitarbeiter hochgradig irritiert, wenn der Chef sich nach seinem Urlaub nicht wieder als Chef präsentieren würde.

Die Hierarchie legt darüber hinaus eindeutig fest, wer wem in der Organisation sozial unterstellt ist. Ein hierarchisch aufgebautes Organigramm reguliert die maßgeblichen sozialen Beziehungen aller Mitglieder und trägt so dazu bei, das Verhalten der einzelnen Organisationsmitglieder zu koordinieren. Bei Höhns Modell ist vorgesehen, dass für jeden Mitarbeiter festgelegt ist, welcher vorgesetzten Stelle er rechenschaftspflichtig ist und welche Stellen ihm selbst im Rahmen seiner Vorgesetztenfunktion unterstellt sind. Ergeben sich Widersprüchlichkeiten oder Unklarheiten in der Zuordnung von Mitarbeitern, ist es die Aufgabe „des Leiters der Organisationsstelle“, mit Hilfe der direkten Vorgesetzten die Sache wieder in (die) Ordnung zu bringen.

Weiterhin werden durch die Hierarchie die sachlichen Zuständigkeiten in der Organisation genau verteilt – nicht nur horizontal zwischen den Abteilungen auf gleicher Ebene, sondern auch vertikal zwischen den einzelnen Hierarchiestufen. Dabei ist anders als in anderen Führungsmodellen – im Harzburger Modell die prinzipielle Möglichkeit stark begrenzt, ein Thema von unten nach oben zu eskalieren. Vorgesetzte dürfen in dessen Logik dezentral angesiedelte Verantwortungen nur an sich ziehen, wenn ein „außergewöhnlicher Fall“ vorliegt, bei dem die Behandlung noch nicht an den Mitarbeiter delegiert worden ist. Nur diese präzise Verteilung von sachlichen Zuständigkeiten ermögliche es, bei einem Problem die Verantwortlichen präzise zu benennen.


Auszug aus Stefan Kühl „Führung und Gefolgschaft. Management im Nationalsozialismus und in der Demokratie“ (Suhrkamp 2025, 24,- Euro).

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