Wenn man die luhmannsche Systemtheorie in den Punkten, in denen sie Gesellschaft beschreibt, abstrakt und streng auslegt, sich also von Empirie nicht allzu sehr verunsichern lässt und eher auf der Suche nach symmetrischer Harmonie ist, kommt man schnell zu dem Gesellschaftsbild, das gleichrangige und unterschiedliche, mit klaren Grenzen versehene Funktionssysteme beschreibt, die sich evolutionär und damit nicht beliebig, sondern funktionsorientiert ausdifferenzierten. „Ausdifferenzierung“ nimmt dabei Bezug auf die Zeit und verweist auf einen gleichen Ursprung und Gründe für die Entwicklung.
Man findet in Bruchstücken auf ein paar Texte verteilt Hinweise, wie diese Funktionssysteme genauer zueinander stehen. Eigentlich sagt man: „die Funktionssysteme gleichen sich in ihrer Ungleichheit“. Das ist kein Zitat, sondern ein geliebter Spruch derjenigen, die sich mit geliebten Sprüchen zufrieden geben. In die unterstellte, funktionsorienterte „Symmetrie der Gesellschaft“ einzusteigen ist nicht einfach, Luhmann selbst hat dazu wenig aber mindestens an einer Stelle Denkwürdiges geschrieben. In „Die Realität der Massenmedien“ schreibt er (S. 175): „Die Aufteilung kognitiv / normativ auf Wissenschaft und Recht kann jedoch niemals den gesamten Orientierungsbedarf gesellschaftlicher Kommunikation unter sich aufteilen und damit abdecken.“
Ein einfacher und hier vom Kontext befreiter Satz. An ihm lässt sich festhalten, dass eine Unterscheidung von „kognitiv und normativ“ für gesellschaftliche Kommunikation wichtig ist, die ein „entweder, oder“ beschreibt und damit allumfänglich ist. Auf jede Erwartungsenttäuschung (Orientierungsbedarf) lässt sich entweder normativ oder kognitiv reagieren. Die Enttäuschung ändert die ihr vorraus gegangene Erwartung oder tut es nicht, andere Möglichkeiten bestehen nicht. Luhmann verteilt diese beiden Formen des Umgangs mit Erwartungen, die Angelegenheiten sowohl sozialer wie auch psychischer Systeme sein können, auf die Funktionssystemen Wissenschaft und Rech. Wer mit Erwartungsenttäuschungen kognitiv umgeht, der lernt – das Grundprinzip der Wissenschaft, „trail and error“. Normativer Umgang mit Erwartungsenttäuschung ist dagegen notwendig, wenn die Freiheit des einen die Freiheit des anderen beeinträchtigt. Was rechtens ist wird zwar auch „erlernt“, die Normen des Rechts lassen sich jedoch nicht auf gleiche Art überwinden, wie die Grenzen des Wissens. Was wissenschaftlich wahr ist, muss in der Natur ermittelt und ins Lehrbuch geschrieben werden.Was rechtens ist, steht bereits in den Gesetzbüchern und muss aus ihnen heraus erlernt und in der Natur/ der Gesellschaft angewendet werden.
Trotz Allumfassendheit der Unterscheidung kognitiv/normativ ist diese nicht ausreichend um den Orientierungsbedarf in der Moderne abzudecken. Nur wird kognitiv/normativ nicht um eine dritte Alternative ergänzt, sondern es werden mehrere andere und gleichrangige Unterscheidungen eingeführt. Es wären dann nicht die Funktionssysteme selbst in ihrer Ungleichheit gleich, sondern die binären Unterscheidungen zwischen je zwei Funktionssystemen.
Welche weiteren Unterscheidungen könnten das sein? Es gibt neben dem obigen Zitat keine weiteren expliziten Angaben von Luhmann (zumindest kenne ich keine). Allerdings noch eine Unkonkrete. In Kapitel 9 in „Politik der Gesellschaft“ beschreibt er ein spezifisches Verhältnis von Politik und Kunst, das Folgendes bedeuten könnte: Die Funktion der Politik ist das Verabschieden von Gesetzen. Politik gibt damit die normativen Grenzen von Erwartungen vor, die nur durch Entscheidung verändert werden können. Die Politik konstruiert damit eine knallharte und überindividuelle Realität, die für alle, kollektiv bindend, gilt. Die Kunst konstruiert ebenfalls Realität. Künstler manifestieren das, was ansonsten verborgen bleibt. Sie erschaffen aus anderen Kontexten betrachtet sinnloses, unnotwendiges und unnützes. Aber sie erschaffen. Ihre Realität funktioniert jedoch ohne Gesetzeskraft und gilt so nur höchstpersönlich. Die Realität der Kunst funktioniert mittels Geschmack und Gefallen, die der Politik durch Gesetze. Politik und Kunst könnten sich damit ebenso diametral gegenüberstehen wie Wissenschaft und Recht.
Weitere Möglichkeiten, solche Funktionssystempaare zu beschreiben wären: Religion – das Hoffen auf das Jenseits / Protestbewegung – das Hoffen auf das Diesseits; Medizin – Krankenversorgung / Wirtschaft – Gesundheitsversorgung; Sport – Gemeinschaft durch Leistung / Familie – Gemeinschaft durch Zuschreibung; … Diese Verhältnisse haben das Niveau von Vorschlägen und sind vor allem auf die psychischen Systeme als Instanz gemünzt. Eine weitere Diskussion könnte Freude und Erkenntnis bringen.
Festzuhalten bleibt, dass die Möglichkeit besteht, dass sich die Funktionssysteme nicht in ihrer Ungleichheit gleichen, sondern dass einige in ihrer Unterschiedlichkeit unterschiedlicher sind als andere. Binarität zieht sich beinah durch das gesamte Gefüge der soziologischen Systemtheorie und augenscheinlich auch auf der Ebene der Funktionssysteme. In ihnen sowieso, vielleicht aber auch zwischen ihnen.
Manche mögen sagen: “die Funktionssysteme gleichen sich in ihrer Ungleichheit”, aber was im Einzelfall dahinter verstanden wird…. da habe ich oft meine Fragezeichen. Dass völlig heterogene Systeme auf die selben Kriterien hin abgefragt werden können, so nach dem Motto: was ist gleich im Verschiedenen? Das ist natürlich als solches auch nur eine Paradoxie, die ohne einen weiteren theoretischen Bezug erstmal garnichts sagt, und die perspektivisch entfaltet werden will… Wer also damit irgendetwas zu erklären meint, der hat wohl – wie Du ja andeutest – nicht so richtig einen Zugang zur Theorie gefunden….
Naja ich kommentiere im Prinzip wegen anderen Stellen. Und meiner Schwierigkeit den Text kohärent zu lesen :)
Und zwar zitierst Du:
“Die Realität der Massenmedien” schreibt er (S. 175): “Die Aufteilung kognitiv / normativ auf Wissenschaft und Recht kann jedoch niemals den gesamten Orientierungsbedarf gesellschaftlicher Kommunikation unter sich aufteilen und damit abdecken.”
So weit so gut… Dann komme ich im dritten Absatz aber nicht mehr mit.
Erst deutest Du an, dass die Unterscheidung kognitiv/normativ „allumfassend“ verwendung findet. Du führst dann (für mich noch nachvollziehbarer) den Erwartungsbegriff ein, der dies unterfüttert… und ja auf derselben Abstraktionsebene liegt wie z.B. doppelte Kontingenz. ….
Aber dann verbindest Du noch im selben Absatz exklusiv die Unterscheidung normativ/kognitiv mit den Funktionssystemen Wissenschaft und Recht und forcierst diesen Gedankengang gar mit der Zuspitzung _ „Was wissenschaftlich wahr ist, muss in der Natur ermittelt und ins Lehrbuch geschrieben werden.Was rechtens ist, steht bereits in den Gesetzbüchern und muss aus ihnen heraus erlernt und in der Natur/ der Gesellschaft angewendet werden. „_ … worüber man separat noch disputieren müsste.
Dein oben von Dir ins Feld geführte Luhmannzitat betont ja, dass die Verengung der Unterscheidung kognitiv/normativ auf Wissenschaft und Recht nicht trägt. Und trotzdem implizierst Du das an dieser Stelle.
Nachdem Du nun die Unterscheidung normativ/kognitiv (gegen die Andeutung des von Dir eingeführten Zitats) exklusiv den Funktionssystemen Recht/Wissenschaft zuordnest schreibst Du dann: _ „Trotz Allumfassendheit der Unterscheidung kognitiv/normativ ist diese nicht ausreichend um den Orientierungsbedarf in der Moderne abzudecken.“_
Und implizierst damit für mich, dass noch andere Funktionssysteme eingeführt werden können…. und das ist ja auch kein Geheimnis… :)
Die Funktionssysteme der Gesellschaft sind ja umfangreich beschreiben und es ist völlig klar, dass Wissenschaft und Recht nicht nur nicht den Orientierungsbedarf der Moderne abdecken, sondern auch in der Vormoderne schon Ergänzung finden mussten.
Ich verstehe hier nicht so richtig den Zusammenhang in den Du Funktionssysteme und Unterscheidung kognitiv/normativ stellst.
Ich sehe die Unterscheidung kognitiv/normativ eher auf einer anderen Abtraktionsebene als die Codes und Programme der Funktionssysteme.
Zum einen kann man sagen, dass man auf die Bestätigung/Enttäuschung von Erwartungen mit Änderung oder Beibehaltung seiner Erwartungen reagiert werden kann (wie Luhmann das ja ausführlich beschrieben hat). Dieser Gedankengang lenkt den Blick sehr schnell auf psychische Systeme und ihre Erwartungen (weil man sofort aus dem Alltag zu wissen meint worum es geht)
Zum anderen kann man Fragen welche binären Codes sich etablieren (mit welchen Programmen) bei dem Problem der Annahme/Ablehnung von Kommunikation. Und die Funktionssysteme sind ja nicht nur durch ihre spezifischen Codes beschrieben, sondern eben vor allem auch als Hüter ihrer Programme, mit denen letztlich der binäre Code (die Paradoxie) entfaltet, wenn man so will strukturiert wird.
Natürlich wird nicht nur im Recht und in der Wissenschaft so kommuniziert, dass man das als kognitiv, bzw. normativ beobachten kann. In allen Funktionssystemen ist das so. Natürlich gibt es in Wissenschaft und Recht, durch ihre Programme, eine aussergewöhnlich stringente und auffällige Weise wie mit binären Codierungen unzugehen ist. Aber die gibt es prinzipiell auch in anderen Funktionssystemen (siehe auch den Zusammenhang Funktionssysteme/symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien)
Ich würde sagen die Frage ob wir opportinistisch (kognitiv) oder generalisiert (normativ) handeln kann man mit Luhmann nicht so an die Frage der Funktionssysteme koppeln, wie Du das hier vorgeschlagen hast. Mir scheint man muss beim Thema Erwartungen und Erwartungserwartungen sehr präzise psychische und soziale Referenzen unterscheiden, um den Blick besser frei zu bekommen auf die Unterscheidung von Codes/Programmen und wie diese im Wechselspiel mit psychischen und sozialen Systemen progressive, bzw. konservative Orientierungen ermöglichen. Spannend ist das allemal.