Irgendwann die Tage wurde ein „internationales Spionagenetzwerk“ im Internet gefunden, dass anscheinend vor allem die hohe Politik im Visier hatte. Tausende von Computern und hunderte von Amtsträgern sind betroffen. Die 20-Uhr-Tagesschau ergänzte die Berichterstattung mit dem zitierten Hinweis:
„Das Internet sei zu undurchsichtig um Schuldzuweisungen machen zu können.“
Allerdings ist es nicht nur das Internet, dass durch Undurchsichtigkeit politische Entscheidungen und rechtliche Konsequenzen erschwert, es ist die ganze moderne Technologie. Hier nur ein paar Themen, die zu dieser Misere beitragen:
- Alle wissen, dass Pirate Bay, schon dem Namen nach, die Anlaufstelle für kostenpflichtige und urheberrechtsgeschützte Inhalte ist. Der juristische Nachweis von persönlicher Schuld ist jedoch anscheinend unmöglich, da es eben nicht die Pirate Bay Betreiber sind, die die Filme und Musik kopieren, bereithalten und ausliefern, sondern alles auf der Funktionsweise des Internets selbst basiert. Geld fließt ebenfalls keins.
- „Kinderpornographie“ ist das neue Schlagwort für politische Zuständigkeit und Verantwortung seit dem „Terrorismus“ nicht mehr funktioniert. Das Thema hat zwei entscheidende Vorteile, es ist (1) ein Frosch-im-Hals-Thema. Wer „Kinderpornographie“ sagt, kann sich sicher sein, dass alle Zuhörer auf der Stelle ernst dreinblicken und nicht widersprechen. (2) Und es ist ein Thema, bei dem klar zu sein scheint, dass es im Internet stattfindet. Bilder/Filme und Anonymität finden hier zusammen. Eine Sperre gängiger „Kinderpornoseiten“ sei daher das Mittel der Wahl. Funktionieren tut sie jedoch nicht.
- Seit den 1990er Jahren setzte sich für heimische und berufliche Schnurlostelefonanlagen ein Standard durch, der ohne weitere Probleme abhörbar ist. Politische Konsequenz gab es anscheinend nicht, zumindest lassen sich keine finden. Wie sollten sie auch aussehen, wenn es sich um eine alternativlose Infrastruktur handelt?
Wahlcomputer, Doping, moderne Spionage; bei all diesen Themen kommen Politik und Recht nicht weiter. Aber bis auf die bloße Beobachtung bleibt kaum etwas zu Thema zu sagen. Anscheinend ist die nationale Begrenzung von Politik und Recht, die durch die Globalität vieler entscheidender Ereignisse immer wieder aufgezeigt wird, nicht die einzige Schwäche der beiden Funktionssysteme.
Luhmann sprach ’71 bei der Kopplung von Politik und Recht von einer möglichen „Fehlspezifikation“, die sich erst jetzt so recht zeigt. Während Technikfreaks, Wirtschaftler und Wissenschaftler jeden Tag neues Lernen und jede einzelne Entdeckung potenziell die ganze Welt umkrempelt (und man nicht mal im Einzelnen zu verstehen braucht, wies genau funktioniert), brauchen politische und rechtliche Entscheidungen, durch ihre langwierigen Verfahren der Explikation, Diskussionen und Debatten viel mehr Zeit und halten aktuell nicht mehr ganz Schritt.
Bis man bei der Pirate-Bay-Angelegenheit auf den Grund der Ursache gestoßen ist und ihn juristisch zu Fassen bekommen hat, ist die ganze Industrie die da klagt pleite. In Soziale Systeme (Seite 509) spricht Luhmann vom Recht als gesellschaftliches „Immunsystem“. Es kann abwegige Verhaltenserwartungen stabilisieren. Beispielsweise ist es dafür zuständig, dass nicht jedes kognitiv erlernte Wissen (wie besorge ich mir teures Kulturgut kostenlos?), problemlos eingesetzt werden kann. Es baut normative Sperren, die den Egoismus des Einzelnen für das Allgemeinwohl begrenzen (um es mal idealtypisch zu sagen). Diese Interpretation finde ich ganz interessant. Ausschweifender beschreibt dies Peter Sloterdijk in „Du musst dein Leben ändern“ (zumindest im Eingangskapitel, dass ich bisher absolviert habe).
Die Technologieentwicklungen, die freie Radikale hervorrufen, schwächen das Immunsystem und sorgen für nachhaltige Veränderungen. All dies könnte Grund genug sein, weshalb wir aktuell wieder weniger Demokratie wagen.