Mit der Libyen- und Fukushima-Berichterstattung sind in den letzten Tagen und Wochen zwei massenmediale Arbeitsprinzipien in den Vordergrund getreten, die zwar nicht wirklich neu sind, in ihrer Intensität aber dennoch überraschen: (1) der „high frequency“ Journalismus per Liveticker und (2) der totale Verlass auf das externe Expertentum. Interessanterweise finden sich in keinem der (mir bekannten) Journalismus-Praxisbücher dazu hinreichende Darstellungen, selbst dann nicht, wenn sie als Standardwerk gelten und in der 18. aktualisierten und erweiterten Auflage vorliegen. Zwar gibt es zu beiden Phänomenen grundlegende Darstellungen, schließlich ist es Selbstverständnis der massenmedialen Akteure und Institutionen sowohl aktuell als auch wahrheitsgetreu zu informieren, dennoch blieben einige weiterführende, durchaus praktische Fragen ungeklärt.
Der „Liveticker-Journalismus“ scheint dabei eine Sache zu sein, die der praktische (Online-) Journalismus zurzeit ohne weitere Reflexion einfach vollzieht, weil es geht – bzw. weil sich Redaktionen durch die Beobachtung der anderen Arbeiten auch getrieben fühlen. (Selbst einfache Privatmann-Blogs, die weder Ticker- noch Korrespondentenzugang zur Welt haben, berichten per Liveticker von ihren sachlichen Japanbeobachtungen.) Vor anderthalb Jahren war es hier schon einmal Thema, dass sich die Massenmedien im Wandel befinden und neben dem Informationscode einen Relevanzcode bedeutender wird. Meiner Ansicht nach zeichnet sich das weiterhin ab, was bedeuten würde, dass der Liveticker-Journalismus zwar eine technische Folgerichtigkeit zeigt, letztlich aber die journalistischen Tugenden der Kontextualisierung und Bewertung gefragter werden und Aktualität eher wie ein Naturgesetz vorausgesetzt wird und immer mehr auch (unabhängig der eigenen redaktionellen Arbeit) vorausgesetzt werden kann. (Die anderen Dinge bleiben davon erstmal unberührt.)
Kontextualisierung und Bewertung sind dabei die Stichworte zu einem interessanten Phänomen, dass beim Fukushima-Thema ganz neue massenmediale Radikalität erfuhr: die personifizierte Expertise. In keinem Praxisbuch waren zufriedenstellende Ausführungen dazu. Daher an dieser Stelle drei schriftlich mitgedachte Anmerkungen, die insbesondere von der erneuten Lektüre von „Realität der Massenmedien“ inspiriert sind. Die dazugehörigen Fragen: Wenn das gesamte, auch tagesaktuelle, wissenschaftliche Wissen zur Atomkraft als Text vorliegt, wozu braucht man dann personifizierte Expertise? Wie viele Realitätsebenen sind im Spiel, wenn ein Zuschauer zusieht, wie ein Journalist fragt und ein Experte erklärt? Mit welchen Problemen haben die Massenmedien zu tun, wenn sie ein brisantes Thema aber keinen (journalistischen) Themenzugang haben?
1. Die grundlegende Frage zur Personalisierung lässt sich relativ schnell beantworten. Massenmedien brauchen Personen, weil soziale Strukturen und historische Prozesse auf eine kommunikable Ebene transformiert werden müssen, die sich (etappendramaturgisch) isolieren und emotional nachvollziehen lässt. Am einfachsten gelingt das per „Liveschalte vor Ort“ zu einer journalistischen Person, die als beobachtende Person hauptsächlich über involvierte Personen berichtet. Die persönlichen Berichte über Personen sind dabei so wichtig, dass selbst die Unklarheit darüber, wer einen journalistischen Text über eine Person verfasst hat, nachträglich geklärt werden sollte. (Die F.A.S. hat diese Woche beispielsweise nachgetragen, dass der Bericht über „Charlie Sheen“ letzte Woche von „Nina Rehfeld“ stammt. Personifizierung betrifft also nicht nur den Inhalt, sondern auch die Autorität eines Textes. Dies gilt ja nicht nur in den Massenmedien, sondern auch überall sonst.)
Personalisierungen ermöglichen dabei, neben der Adressierung einer Person und der Markierung eines Augenblicks (Handlung), Prognosen. Sie legen die Zukunft nicht fest, doch sie schränken den Möglichkeitskorridor ein. Gerade das Fernsehen, das Personen offensichtlich ganzheitlich darstellt, sie per Aussehen und Verhaltensgewohnheiten erkennbar und wiedererkennbar macht, ist imstande Hoffnungen und Zuversichten („Magath zurück beim Vfl“) oder Sorge und Befürchtungen („Gaddafi noch nicht besiegt“) hervorzurufen. Diese journalistischen Feststellungen sind hochgradig artifiziell und können nichts über die zukünftigen Ereignisse aussagen, doch sie bieten Raum für Orientierung und sind das Fundament für „ein Gefühl“, dass man bekommen kann. (Journalistische „Stimmungsmache“ ist also ein Befund, der oft als Tatsache festgestellt werden kann, der dann aber doch nur selten auch als Vorwurf akzeptabel ist.)
Wozu also personifizierte Expertise? Gerade bei einer Atomkatastrophe wie der in Fukushima, bei der ganze Bevölkerungsteile einer technischen Maschine ausgeliefert sind, stellt der Experte zum einen die Personalität als auch die Prognosemöglichkeiten dar. Eine rein sachliche Berichterstattung über die aus dem Ruder gelaufene Maschine wäre diesbezüglich gerade kontraproduktiv, sie gäben weder Halt noch Hoffnung – bei gleicher Sachlage.
2. Experten sind zudem (auf dem ersten Blick) weniger angreifbar als Journalisten. Journalisten sind Professionelle des Berichterstattens. In Fukushima ist allerdings eine Maschine kaputt gegangen, für deren Verstehen es mehr bedarf als die reine Beobachtung des Sichtbaren. Es ist notwendig in die Maschine reinzuschauen, ohne dass dafür journalistische Methoden zur Verfügung stehen: Die Beobachtung kann nicht am konkreten Fall operieren, sondern muss sich auf Erfahrung, Kontext und wissenschaftliches Wissen zurückziehen. Dafür braucht es (wissenschaftliche) Spezialisten, die den Mangel an Nähe und Genauigkeit durch wissenschaftliche Reputation ausgleichen, um massenmediale Glaubwürdigkeit zu erzeugen. Dadurch wird jedoch alles sehr kompliziert. Zum einen, weil der Journalist sich selbst einer Berichterstattung ausliefert, die er inhaltlich nicht journalistisch kontrollieren kann und zum anderen, weil die wissenschaftliche Realität, die dabei ins Spiel kommt, nicht aus einer linearen, eindeutigen Realität besteht, sondern vor allem aus wissenschaftlich-disziplinärer Diskussion und einem stetigen, expliziten Versuch gerade Unwissen in diese Diskussion hereinzuholen. Studierte Menschen können damit eigentlich umgehen, doch es ist immer gut, eine „Experten-Checkliste“ zu haben. ;-)
3. Der interessanteste Aspekt ist aber, denke ich, folgender. Wenn den Massenmedien durch eine 20-km-Sperrgrenze ein Zugang fehlt, gleichzeitig aber die Brisanz des Themas so gewaltig ist, dass unbedingt berichtet werden muss, erzeugen sie sich eine eigene Realität. Statt über die wirkliche Wirklichkeit zu berichten, wird dann über die beobachtbare Wirklichkeit berichtet, die mittels Beobachtung von Beobachtern, den Experten, hergestellt wird. Damit betrügt der Journalismus weder sich selbst, noch sein Publikum (soziologisch radikal kann er schließlich gar nicht anders), dennoch ist es ihm kaum möglich, diesen Sachverhalt der selbst erzeugten Dramaturgie, der eigenen Linearität und der hergestellten Wirklichkeit zu thematisieren. Zwar gibt es Reflexionsversuche, beispielsweise dieser wundervolle, humorige Text über Ranga Yogeschwar, den „Bastelonkel“, der als Begleitung des Unglücks in der Realität zum „Glücksfall des deutschen Fernsehens wurde“ – doch solche Texte sind eine Ausnahme. (Nur im Bildblog wird, so sehe ich es, regelmäßig diese Art der Realität(sbildung) der Massenmedien auf verschiedenen Ebenen kontrolliert beobachtet. Immer dann, wenn aufgezeigt werden kann, wie eine (falsche) Berichterstattung selbst zum Nachrichtenfaktor wird, sind, bei der Nachbetrachtung, Lacher gewiss.)
Der Logik der Praxisbuchindustrie folgend, gehe ich davon aus, dass bereits viele an ihrem Liveticker-Journalismus-Handbuch schreiben und sich damit auf der Höhe der Zeit fühlen, schließlich predigt Jeff Jarvis (trotz Klugheit) schon seit Jahren, dass am besten alles in einen Tweet passen soll. Eine interessante Aufgabe könnte aber auch darin bestehen, die „Realität der Massenmedien“ zu aktualisieren.
(Bild: Kevin Harber)
Mein unbedarfter Kommentar, weil nur durch Bildblog hier gelandet: Es fällt in der Tat auf, dass jeder livetickert.Man mimt eine Live-Schalte, man vermittelt ein „dabei sein“, suggeriert so Aktualität und Objektivität. Dennoch merkt man in solchen Situation wie der genannten immer wieder, wie sich die „Informierenden“ eigentlich nur auf den eigenen Füßen stehen, denn im Gegensatz zu der rasant ansteigenden Info-Flut sickern die Fakten nur langsam dahin. Alle schreiben mit, alle drehen durch, Panik entsteht (und generiert Klicks und Auflage), aber eigentlich weiß keiner was Neues… In diesem Kontext bin ich auch sehr dankbar für den Hinweis auf den mir bis dahin unbekannten Luhmann, der sehr trefflich die sich in den Schwanz beißende Katze als Beispiel anführt. Allein: Was nutzt das „Expertentum“, wenn keinerlei weiterführende Information verfügbar ist, dabei ist es unerheblich, ob die Ereignisse aufgrund unvorhersehbarer Verkettungen oder aufgrund einer 20-km-Sperrzone nicht weiter verfolgbar, und so beschreibbar sind. Somit rechtfertigt die Masse an Information schon lange nicht mehr die Masse an Ereignissen, abgesehen davon, dass viele Ereignisse immer noch unbeschrieben sind! Egal ob Bundesliga, Bundeswahl, Terror oder Tsunami, was geschrieben, gelesen und für wichtig erachtet wird, geben wir vor… und haben es doch nicht in der Hand!
Ich habe den Artikel mit Interesse gelesen und bin noch nicht wirklich schlau daraus geworden, wie nun die Personelle Expertise in den Massenmedien zu packen sei. Relevant ist wohl zuerst Verbreitungsmedien, wie Fernsehen, Radio und Zeitungen von Internet live tickern zu unterscheiden.
Es wird erwartet, dass erstgenannte Medien professionalisierte Strukturen ausgebildet haben und ihre Quellen zumindest prüfen, für das Internet kann dies nicht gelten, da natürlich jeder in der Lage ist einen Stream zu erstellen und Text zu produzieren (beispielhaft seien hier auch die Guttenberg Fans auf Facebook genannt, die zum Teil automatisiert erzeugt wurden).
Mit dieser Unterscheidung möchte ich darauf hinaus, dass es mir notwendig erscheint einerseits die personalisierte Expertise in ihrem „massenmedialen Angebot“ zu beschreiben, andererseits aber auch zu sehen, dass der geneigte Mediennutzer dem natürlich auch über seine aktive Rezipientenrolle im Internet ausweichen kann.
Ich denke anhand dieser Perspektive stellt sich dann die Frage komplett neu. Es mag sein, dass sich z.B das Fernsehen mit verschiedensten Experten an der Problematik abarbeitet, dass, wenn es keine Neuigkeiten mehr gibt, weitere Experten sprehen müssen um etwas berichten zu können. Darüber hinaus sehe ich aber keinen „Experten“ in der Lage die Situation in Japan bewerten zu können und ich würde auch so weit gehen zu sagen, dass eben auch viele weitere Fernsehzuschauer dem nicht glauben, da sie ja die Vielstimmigkeit der Experten kennen.
Daher stellt sich mehr die Frage nach der Authentizität in dieser Vielstimmigkeit der Experten (vielleicht hat Herr Yogeschwar in diesem Fall mehr davon als andere). Trotzdem konnte ich keine besondere Expertise bei irgendeinem der gefragten Experten (soweit ich sie habe reden hören) erkennen.
Mit besten Grüßen
PolKomm,
es ging mir nicht darum, etwas zu packen, sondern ein (auch praktisch) auffälliges Problem zu bechreiben. Ich würde deinen Anmerkungen im Kommentar ersteinmal nicht folgen aber dazu selbst noch eine Anmerkungen machen: Die Experten die die letzten Tage aufgetreten sind, waren nicht nur formal Sachspezialisten, sondern, so denke ich, überaus lehrreich im TV in den Zeitungen und auch im Internet (siehe bspw.: Alternativlos Folge 14). Auch, weil sie es zuließen, sich gerade vom journalistischen Aufhänger, der konkreten Katastrophe, zu lösen und trotzdem zu berichten, was uns alle interessiert.
Interessant ist jedoch, wie sehr das Fukushima-Thema die massenmediale Arbeitslogik irritierte… (siehe Artikel)
[…] den Sozialtheoristen ist von Stefan Schulz ein Beitrag zu der Frage erschienen, warum Massenmedien Experten brauchen. Was ich interessant finde an seinen […]
Experten haben manchmal auch den entscheidenden Vorteil, dass sie tatsächlich mehr Ahnung haben (etwa von Systemtheorie) als der Journalist, Blogger oder Einführungslehrbücher.
Ich komme übrigens auch aus der Kommunikationswissenschaft und forsche gerade über sogenannte „Medienexperten“ – nur so als Anstoß zur Beobachtung 4. Ordnung…
Das stimmt ein bisschen. Aber Personifiziert wird ja nicht nur per wissenschaftlichen Experten, sondern auch mittels Korrespondent vor Ort – und manchmal weiß man in der entfernten Redaktion mehr, als der Experte, den man in der Liveschalte kommentieren lässt.
„Beobachtung 4. Ordnung“ ist übrigens auch nur eine weitere Beobachtung 2. Ordnung. (Ansonsten wäre ich ja ein Beobachter 5. Ordnung, nur weil ich in der Zeitung lese, wie ein Autor im Fernsehen sieht, wie ein Journalist einen Experten befragt, der wiederum mit einem anderen Experten sprach, der jemanden kennt, der tatsächlich dabei war…)
[…] informiert worden zu sein. Zur Lösung daraus resultierender Verwirrungssituationen entstand ein Expertentum, das sowohl Glauben als auch Zweifel über die Berichterstattung ermöglichte, womit jedoch nur […]