Sichere „Regierungstechnik“ oder unkontrollierbares „Rest-Risiko“?
Im politischen Kräftemessen wird so manches gesellschaftliche Problem in den verstrahltesten Semantikmüll verpackt – und vielleicht wird auch der Begriff des Rest-Risikos am Ende der medialen Verwertungskette bei einem letzten Recycling in ein Unwort des Jahres gekleidet. Ausgangspunkt für diese bunte Wortschöpfung war diesmal nicht die globale Finanzkrise, sondern die unfassbare Erdbeben- und Atomkatastrophe in Japan. So pervers der beobachtete Zusammenhang auch ist, er war politisch folgenreich: Die mediale Berichterstattung über die Lage in Fukujima hat in Deutschland das Thema Atompolitik erneut resonanzfähig gemacht.
Mit dem Begriff Resonanzfähigkeit beschreibt Niklas Luhmann in seinem vor 25 Jahren erschienenen Werk Ökologische Kommunikation das Verhältnis von System und Umwelt. Dieses Verhältnis fasst er jedoch weniger als natürliche, sondern als soziale Grenzziehung, die sich kommunikativ und nicht räumlich durchzieht. Dass Systeme auf ihre Umwelt reagieren ist nach Luhmann nicht selbstverständlich, sondern höchst unwahrscheinlich. Denn sozio-kulturelle Evolution beruht gerade darauf, dass die Gesellschaft nicht auf jede (gefährliche) Änderung ihrer Umwelt reagiert, sich jedoch selektiv abgrenzt. Angesichts der Tatsache, dass sich die moderne Gesellschaft durch technischen Fortschritt permanent selbst gefährdet, behandelt das besagte Werk die Frage, ob und unter welchen Bedingungen sich die moderne Gesellschaft überhaupt auf ökologische Gefährdungen einstellen kann?
Die These dieses Beitrags ist, dass die Berufung zweier Expertenkommissionen zur Sicherheit der Atomkraft in Deutschland Ausdruck für die skizzierte gesellschaftliche Resonanzfähigkeit der Politik auf ökologische Gefährdungen ist. Dabei wird zu klären sein, inwiefern der Einsatz von Expertenkommissionen politisch funktional ist.
Zur politischen Funktion
Ziel der Einrichtung zweier Expertenkommissionen ist laut Webauftritt der Bundeskanzlerin die Beratung über die Zukunft der Kernenergie: Um einen gesellschaftlichen Konsens zu erzielen, ist eine weitergehende Betrachtungsweise des Umgangs mit Risiken erforderlich. Die Bundesregierung setzt deshalb neben der Reaktorsicherheitskommission, die sich technischen Fragen widmen soll, eine Ethikkommission ein.
In ihrer Programmatik unterscheiden sich Expertenkommissionen von dauerhaft eingerichteten Beiratsgremien (der Ministerialverwaltung) durch ihren spezifischen Zeit- und Themenfokus. Mit der Berufung nicht einer, sondern gleich zweier Kommissionen, bedient sich die Kanzlerin einer scheinbar probaten Regierungstechnik, die wiederum gleich zwei politisch wichtige Machtfaktoren vereint: Sie erzeugt zum einen mediale Aufmerksamkeit und suggeriert zum anderen politische Handlungs- und Reformfähigkeit in einer überforderten Situation. Die mediale Aufmerksamkeit ist insbesondere durch die Bedienung der Nachrichtenfaktoren Personalisierung und Negativität garantiert. Auf letzteren bezieht sich der Ausgangspunkt ihrer Berufung: die Erdbeben- und Atomkraftkatastrophe in Japan. Einen weiteren Nachrichtenwert erhalten Expertenkommissionen durch ihre Besetzung mit öffentlichen Persönlichkeiten (aus Recht, Religion, Wirtschaft und Wissenschaft). Einen prominenten Vorsitz erhielt dabei die Ethikkommission mit dem früheren Bundesumweltminister Klaus Töpfer.
Folgt man nun den oben zitierten Worten der Kanzlerin, so stellt sich die Frage, inwiefern Expertenkommissionen zu einem gesellschaftlichen Konsens beitragen können? Das Testen und Verdichten von Konsenschancen dient nach der soziologischen Systemtheorie (Luhmann 2002) der Herstellung kollektiv bindenden Entscheidens. Mit ihrer Zielsetzung hat Frau Merkel die Funktion des politischen Systems angesprochen, das zwischen der Entscheidungsvorbereitung und -durchsetzung unterscheidet. Nach der Theorie liegt hier eine interne Differenzierung in Peripherie (politische Partei- und Interessenorganisationen) und Zentrum (Parlament, Regierung, Ministerialbürokratie) vor: Während der Staat als Zentralorganisation kollektiv bindende Entscheidungen setzt, tastet die Peripherie Themen auf ihre politischen Entscheidungsmöglichkeiten ab. Nicht Zentrum zu sein entlastet die Peripherie von der Verantwortung einer kollektiv bindenden Durchsetzung, ohne dass sich die hier tätigen Organisationen jedoch ganz von Handlungs- und Erfolgsdruck freimachen könnten. So kann die Opposition bei jeglicher Kritik an der Regierung nicht in beliebige Jackentaschen greifen, sondern ist gefordert, zumindest politisch realisierbare Alternativen herauszukramen.
Aber inwiefern können nun Expertenkommissionen zur Vorbereitung oder Durchsetzung von politischem Konsens beitragen? Die zweite These dieses Beitrages lautet, dass ihre Funktion weniger eine sachliche Dimension enthält als vielmehr eine zeitliche. Denn, so das Argument, Expertenkommissionen unterliegen dem Dilemma politisch unlösbarer Entscheidungen. Dieses Dilemma lässt sich mit der Differenz von Politik und Wissenschaft bzw. Wissen und Entscheiden wie folgt beschreiben:
Zur Differenz von Politik und Wissenschaft
In einer modernen, funktional differenzierten Gesellschaft mit unterschiedlichen und zugleich unersetzbaren Teilsystemen streben neben Politik und Wissenschaft auch Wirtschaft, Recht und Religion nach der „besten“ Lösung gesellschaftlicher Probleme. Da diese Teilsysteme bei der Beobachtung und Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme jedoch nur nach Maßgabe ihrer eigenen Logik und Dynamik reagieren können, ist nicht nur ihre Resonanz-, sondern auch ihre Durchgriffsfähigkeit begrenzt. Die Politik kann beispielsweise nicht alle gesellschaftlichen Bereiche regulieren, da sie einerseits intern an Mehrheiten und an die Realisierung beschlossener Programme und Gesetze durch die Verwaltung gebunden ist und andererseits in der Gesellschaft nur ein Teilsystem unter anderen bildet.
Zur Differenz von Wissen und Entscheiden
Für politisch beauftragte Expertenkommissionen ergibt sich aus dieser Differenz das Dilemma, dass sie einerseits die in der Wissenschaft noch bestehenden Unsicherheiten abschwächen müssen und andererseits vermeiden müssen, dass politische Fragen als Wissensfragen bereits vorentschieden werden. Expertenkommissionen sind damit Ausdruck der Differenz von Wissen und Entscheiden (Hiller 2009 am Beispiel des IPCC). Das bringt sie mit anderen Worten in die Situation, dass sie weder wissen noch entscheiden können: Sie beraten über Wissen, das durch Entscheidungen nur vertagt werden kann, aber das nicht universal entscheidbar ist, weil selbst in der Wissenschaft unterschiedliche Disziplinen um die Deutungshoheit ringen. Zugleich kann durch den Unterschied zwischen Expertenzeit und politischer Zeit (insbesondere das Denken in Wahlperioden) Nichtwissen vermehrt und dadurch politisches Entscheiden zusätzlich erschwert werden. Diesem Dilemma sitzen Kommissionen auf und sie können deshalb ebenso wenig zur sicheren Bewertung von Hochtechnologien in der Atomkraft beitragen wie andere Gremien. Die Differenz von Entscheiden und Wissen verdeutlicht vor diesem Hintergrund die hohe Politisierung und Konflikthaftigkeit bei Abstimmungen über die zukünftige Rolle der Atomkraft in der Energieversorgung.
Die Politik kann sich nicht langfristig wissenschaftlichen Erkenntnissen entziehen, und das Wissen der wissenschaftlichen Politikberatung muss dem politischen Konsenstest bestehen, wenn es die Brauchbarkeit seiner Anwendung in der Politik (und schließlich auch Wirtschaft) genügen will. Mit der Einführung von „Stresstests“ und Prüfungskriterien für Atomkraftwerke werden beispielsweise die wirtschaftlichen Verwendungsbedingungen wissenschaftlichen Wissens durch die Politik bestimmt.
Politische Legitimation in Gefahr?
Stellt das Wissen von Expertenkommissionen nun trotz der genannten Differenz einen Angriff auf die Autorität der Politik dar – diesmal nicht seitens der Atomindustrie, sondern seitens der Wissenschaft? Das Legitimationsproblem ist damit aufgezeigt, aber (zumindest soziologisch) noch nicht erwiesen, dass wissenschaftliche Forschung oder kollektiv bindendes Entscheiden der Politik in seiner Funktionsweise strukturell verändert wird. Denn: Unabhängig von den Kontakten zwischen Politik und Wissenschaft lässt sich bei der Einberufung von Expertenkommissionen noch nicht erkennen, dass die Regeln, nach denen die wissenschaftliche Hypothesen überprüft werden, von der Politik bestimmt sind, oder dass das Durchbringen politischer Gesetze in der Wissenschaft zugleich Reputationsgewinne verspricht. Die Beratung durch Expertenkommissionen transportiert in diesem Sinne noch keine Autorität – mit der Konsequenz, dass Experten wissenschaftlich als unseriös erscheinen und wissenschaftliche Einschätzungen politisieren. Wissenschaftlich begründete Entscheidungen sind dadurch schwerer von politisch begründeten Entscheidungen und dementsprechend wissenschaftliche Beratung von politischer Beratung zu unterscheiden.
Angesichts der aufgezeigten Entscheidungs- und Wissensdilemmata von Expertenkommissionen scheint der politische Gewinn weniger in der sachlichen Vorbereitung oder Durchsetzung politischer Konsenschancen zu liegen, sondern vielmehr in dem Versuch, noch vor den Landtagswahlen Bedenkzeit zu gewinnen, insbesondere dafür, wie nach dem Auslaufen des Atommoratoriums zu entscheiden ist.
Expertenkommissionen zu themenspezifischen policies wie die Rürup-, Süssmuth-, Hartz- oder Herzogkommission sind Opposition und Wähler noch unter Altkanzler Gerhard Schröder in Erinnerung und der vermeintliche Schachtzug wurde sogleich entlarvt und wurden beispielsweise von Jürgen Trittin mit dem saloppen Gleichklang referiert: Und wenn Du nicht mehr weiter weißt, dann bilde einen Arbeitskreis. Die Rechnung für die politische Wartung wurde sodann gestern mit den Abstimmungsergebnissen der Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz überreicht. Die Botschaft war klar und deutlich: Das Thema Atomkraft ist resonanzfähig. Die Ankündigung der Einberufung von zwei Expertenkommissionen hat das politische Restrisiko des im September 2010 von der schwarz-gelben Regierung beschlossenen Energiekonzepts nicht kontrollieren können. Das Vertrauen in diese vermeintlich sichere Regierungstechnik hat nicht verhindert, dass Atompolitik (landes-)wahlentscheidend ist und dabei auf grünen Resonanzboden fällt.
Zur weiteren Lektüre
Hiller, Petra 2009: Grenzorganisationen und funktionale Differenzierung. In: Organisationen der Forschung, herausgegeben von Jost Halfmann und Falk Schützenmeister. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 146-170.
Luhmann, Niklas 2002: Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas 2004: Ökologische Kommunikation : kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? 4. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Bild: European Commission Audiovisual Library
[…] Der ganze Artikel von Rena Schwarting bei den Sozialtheoristen hier: Expertenkommissionen im atompolitischen Wahlkampf – Sichere „Regierungstechnik“ oder unkontrol… […]
Entschuldigung aber „verstrahltester Semantikmüll“ ist ungefähr auf dem gleichen Niveau wie der Begriff, der zu kritisieren vorgegeben wird.
Herr Friedrich, ihr Kommentar ist kurz vor Spambot-Niveau. Sie müssen diesen Artikel nicht lesen. Sie sollten ihn dann aber auch nicht kommentieren.
[…] man sagen: Nicht jedes Verhalten fällt gleichermaßen auf einen rechtlichen, ökonomischen oder politischen Resonanzboden. Und: Nicht jedes Verhalten lässt sich auf (Einzel-)Entscheidungen zurückzuführen. Aber gerade […]