Situationsdefinitionen auf Finanzmärkten

Produktive und destruktive Momente selbstverunsichernder Handelserwartungen

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Wer nicht selbst als Händler an den Börsen dieser Welt angestellt ist oder eigene Finanztitel im Depot hält, der hätte von der rasanten Talfahrt auf den Märkten der letzten Woche wenig mitbekommen. Wären da nicht die Onlineblätter der großen Zeitungen mit neuen Live-Berichten und (V-)Erklärungen so rasant eingegangen wie gleichzeitig die Orders auf dem Finanzparkett. Dort war von Chaos, Crash und Craziness zu lesen.

Kurskorrektur statt Geldvernichtung

2,5 Billionen Dollar seien in der letzten Woche vernichtet worden, berichteten die Tagesthemen. Das würde dem Bruttoinlandsprodukt Frankreichs entsprechen, schrieben diverse Onlineblätter unisono. Allem Ärger zum Trotz hinkt jedoch dieser Vergleich zwischen Wall Street und Main Street: Kursverluste auf den Kapitalmärkten sind keine Wertschöpfungsverluste, sondern spiegeln Preisdifferenzen von Zahlungsversprechungen gegenüber Finanzprodukten wider. Wer tatsächlich wie viel Geld verloren und wer (beispielsweise auf fallende Kurse setzte und) dabei Gewinne gemacht hat, ist weder der Volatilität noch der Volumina zu entnehmen. Der Kapitalmarkt ist auch in dieser Hinsicht nicht informationseffizient. Die Eigentumstitel und ihre Nominalwerte sind unverändert (knapp), sie haben nur ihren Besitzer und ihren Preis gewechselt. Das Nullsummenspiel der Märkte wurde damit nicht ausgehebelt. Die Geschichte des Kapitalismus ist nicht zu Ende.

Politische Zeit unterläuft Marktzeit

Drei Meldungen seien für die Börsenturbulenz ausschlaggebend gewesen. Die Schuldenkrise in den USA, der EU und die (damit irgendwie verkettete) weltweite Konjunkturerwartung. Eine vierte Nachricht habe dann noch mehr Sand ins Börsengetriebe geworfen als am Donnerstag EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso in einem Schreiben an die 17 Staats- und Regierungschefs der Eurozone eine deutliche Aufstockung des Rettungsfonds EFSF forderte. Der Fall ist ein Beispiel dafür, dass die Politik mit ihren Entscheidungen chronisch hinter der potenzierten Zeit der Finanzmärkte her läuft. Doch so sehr sie sich in den letzten (Urlaubs-)Wochen um Sparprogramme, Rettungspakete, Umschuldungen und letztlich auch um eine Beruhigung der Märkte bemüht hatte, so sehr wurde diese eine (noch nicht kollektiv bindende) Nachricht in Medien und Politik für die allgemeine Verunsicherung verantwortlich gemacht.

Selbstverunsicherungen

Die genannten Meldungen sind jedoch keine wirklich neuen Neuigkeiten. Die Mehr der Staatsschulden ist seit Monaten bekannt. Selbst die kürzliche Herabstufung der Bonitätsbewertung der USA seitens Standard & Poor’s sollte zumindest weder für Politiker noch für institutionelle Anleger eine Überraschung gewesen sein – hatten die Agenturen doch in der Vergangenheit allzu oft eine just in time Anpassung versäumt. Die Talfahrt scheint vor diesem Hintergrund weniger auf einer allgemeinen Verunsicherung als auf sich selbst verstärkenden Selbstverunsicherungen zu fußen: Den Kurskorrekturen ging eine Kumulation von Erwartungskorrekturen voraus, die soziologisch nicht mit dem Verweis auf politisch verstörte Einzelmeldungen, sondern mit den Mechanismen wechselseitiger Situationsdefinitionen erklärt werden können. Marktteilnehmer erwarten plötzlich, dass andere Teilnehmer ihre Erwartungen ändern und verändern daraufhin ihr (Ver-)Kaufverhalten, was wiederum erst das erwartete Verhalten hervorrufen kann, usw.

(Aus-)Tausch von Erwartungserwartungen

Wenn auf dem Parkett und an den Telefonen der Händler die Orders eingehen, Preise für Finanztitel verhandelt und daran geknüpfte Zahlungsversprechen getauscht werden, kann dies noch so turbulent und chaotisch erfolgen, es stabilisiert damit zugleich eine dynamische Sozialordnung. Diese Ordnung beruht auf wechselseitigen Verhaltenserwartungen zwischen Marktteilnehmern, die bei unterschiedlichen Zeit- und Preisdifferenzen die Wahl zwischen Kauf- und Verkaufsoptionen haben. Käufer und Verkäufer seien beispielsweise die Personen A und B: A erwartet, dass B erwartet, dass A zu jenem Kurs kauft und B erwartet umgekehrt, dass A erwartet, dass B zu jenem Kurs verkauft. Nach diesem Schema beobachten und orientieren sich Marktteilnehmer wechselseitig. Der eine erwartet, was der andere zu tun gedenkt, während der andere unterstellt, was der eine wohl zu tun erwartet. Solche nicht erfüllten Erwartungserwartungen führen nicht selten zu Enttäuschungen. Sie tragen dadurch aber auch umgekehrt zum Festhalten an bestimmten Erwartungen bei.

Was bei einem Fokus auf faktisches Handeln übersehen wird: Bevor die vermeintlich verschwörerische Finanzspekulation beginnt, spekulieren Händler also erst einmal darüber, welche Erwartungen eigentlich andere Markteilnehmer als ihre leitende Handlungsorientierung wählen könnten. Denn ohne über das Verhalten anderer relevanter Akteure zu sinnieren, könnten sie selbst keine ausreichende Grundlage bzw. Rationalität für eigenes Handeln aufbringen. Dabei kommt hinzu, dass im Gegensatz zu Produktmärkten auf Finanzmärkten Kauf- und Verkaufsrollen auch von derselben Person oder Organisation eingenommen werden können. Finanzmärkte können mit der Neueren Wirtschaftssoziologie deshalb auch als switch-role markets bezeichnet werden. Diese Besonderheit ändert wenig an den sozialen Bedingungen von Verhaltenserwartungen, also der beschriebenen „doppelten Kontingenz“ zwischen A (Alter) und B (Ego) wie sie beispielsweise auch bei jedem Elf-Meter-Schießen zu beobachten sind. Jedoch trägt es zur allgemeinen (Selbst-)Verunsicherung der Marktakteure bei, wenn diese potentiell ständig neue Erwartungserwartungen bilden, weil sich Kurse und Nachrichten sowie Kursnachrichten ständig ändern oder gerade nicht. In beiden Situationen geht es dennoch darum, wer am besten das von dem anderen erwartete Verhalten antizipieren kann.

Selbstverunsicherung durch kumulative (Erwartungs)effekte

Die Erwartungen, an denen die Marktteilnehmer ihre Entscheidungen ausrichten, sind zeitlich nicht stabil, sondern immer auch anders möglich. Sie orientieren sich an vergangenen Entscheidungen und unterschiedlichen Unterstellungen über ihr Kaufverhalten. Im Gegensatz zu gemachten Zahlungen können modellierte Zukunftsaussichten wieder geändert und revidiert werden. Prognosebasierte, erwartungsgesteuerte und damit nicht vollständig determinierte Entscheidungen sind daher auch der Selbstverunsicherung ausgesetzt. Sie müssen mitrechnen, dass sie im nächsten Moment bereits vergangen sind und damit den Folgen einer veränderten Bewertung seitens der Marktteilnehmer unterliegen. Wer zu einem bestimmten Zeitpunkt t0 kauft (bzw. kaufen könnte), kann zu einem Zeitpunkt t1 wieder verkaufen. Wer auf steigende Kurse setzt, könnte Sekunden später auf fallende setzen und umgekehrt.

Situationsdefinitionen gehen ihrer möglichen Ursachen voraus

Wenn beispielsweise ein Kurs nicht weiter steigt, setzt ein Bewertungsumschlag der erwarteten Erwartung ein. Wird dieser Kursfall als unerwartet hoch beschrieben, kann sich das Marktgeschehen an dieser Beschreibung orientieren und damit die Situation erst hervorrufen, ohne dass dafür eine neue externe Information als Auslöser eindeutig identifizierbar wäre, und ohne dass sich die befürchteten Erwartungen überhaupt einstellen. Gerade wenn bei Kursfällen (oder Kursanstiegen) bestimmte Richtwerte oder Grenzwerte über DAX-Kurse oder andere Indices bei Anlegern eingehen, laufen vermehrt vorprogrammierte Kaufs- und Verkaufsentscheidungen ab. Das Erreichen einer Marke lässt sich hinterher schwer auf eine Einzelhandlung zurechnen. Es ist und wird jedoch Ausdruck umstrukturierter Erwartungen und neu definierter Situationen. Dass (selbst-)verunsichernde Handlungsschemata in ähnlicher (wenn auch nicht gleicher) Weise in anderen Bereichen auftreten können, beschreibt das so genannte Thomas-Theorem: If men define situations as real, they are real in their consequences – bekannter unter der verkürzten Formel sich selbsterfüllender Prophezeiungen.

Selbsterfüllende Prophezeiungen

Derartig dynamisch-komplexe und deshalb oft als chaotisch empfundene Selbstverstärkungseffekte ergeben sich vor allem bei großen Volumina und sekundenschneller Transaktionsströme – v.a. aber wenn ähnliche Situationsbeschreibungen (insbesondere über Wachstumsaussichten oder mögliche Ursachen von Kursverlusten) gleichzeitig zusammentreffen. Und dies ist angesichts der heutigen Echtzeitübertragung der Kurse auf wenigen Marktplätzen ein nicht selten erwartbares Ereignis. Selbstverunsicherungen auf Finanzmärkten beruhen insbesondere auf Zahlungsentscheidungen, die je nach Zeitpunkt und Kursstand zwischen Verlustrisiko und Gewinnchance schwanken. Selbstverunsicherungen als soziale Bedingungen dieses Schwankens beschreiben damit einen großen Teil der so oft benannten und dennoch oft missverständlichen Psychologie der Märkte. Dabei ist nicht nur die Frage, wie reagieren die anderen Marktbeobachter konstitutiv, sondern insbesondere, dass man mitführt, dass die anderen Marktteilnehmer Erwartungen über die eigenen Verhaltenserwartungen haben. Investor A erwartet, dass Investor B von A erwartet, er würde jetzt kaufen oder verkaufen – und umgekehrt.

Während man in Paarbeziehungen schwer von einmal vorgelebten Rollen abweichen kann, tendieren Marktteilnehmer eher zu reaktantem Verhalten. Sie versuchen zeitlich und sachlich konträr zu ihren Erwartungserwartungen zu handeln, um nicht (zu spät) in erwartete Preisbewegungen zu geraten. Und wer beim Fußball dagegen nicht den schnellsten Schuss vorweisen kann, zielt darauf, zumindest sachlich von den von ihm erwarteten Torwarterwartungen abzuweichen. Die Reflexivität von Erwartungen kann dabei lähmend oder aktivierend wirken. Auf Finanzmärkten ist auch dieser Effekt durch den Einsatz von technologischen Verbreitungsmedien beschleunigt worden. Denn hier werden von der Marktumwelt herangetragene wirtschaftliche und politische Nachrichten – wie die Resonanz auf das Schreiben von Barroso – über elektronische Brokersysteme und Informationsdienstleistungen à la Reuters, Bloomberg & Co. nahezu zeitgleich in das Zusammenspiel wechselseitiger Erwartungen selektiv eingespeist, in die eigene Marktsprache übersetzt und weiterverarbeitet. Es ist gerade dieses Geschäft mit den erwarteten (Selbst)Verunsicherungen der Zukunft, das die produktive und zugleich destruktive Kraft auf Finanzmärkten ausmacht – in Krisen- wie in Boomzeiten.

(Bild: Riccardo Cuppini)

 

Zum Weiterlesen in der Theorie

Esposito, Elena 2011: The future of futures: The time of money in financing society. Cheltenham.

Luhmann, Niklas 1972: Rechtssoziologie. Band 1. Reinbek.

Merton, Robert K. 1948: The self-fulfilling prophecy. Antioch Review 8, 193-210.

Thomas, William I. & Thomas, Dorothy S. 1928: The child in America: Behavior problems and programs. New York: Knopf.

Weick, Karl E. 1995: Der Prozess des Organisierens. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 221-236.

3 Kommentare

  1. Henrik sagt:

    Ich würde da vor allem zwei Sachen zu anmerken wollen:

    1) zum einen das sicher interessante Zusammenspiel von Technik und Akteuren auf den Finanzmärkten. Was passiert bspw. wenn per Computerprogramm An- und Verkäufe konditioniert werden? Wenn also die beschriebene doppelte Kontingenz zwischen zwei Akteuren wegfällt und an ihre Stelle Computer treten. Man kann hier zumindest vermuten, dass in diesem Falle die Erwartungintransparenz noch einmal steigt und die Übersicht über die Märkte noch einmal abnimmt – und zwar nicht nur für die Politik als vermeintliche Kontrollinstanz, sondern auch für die Organisationen, die die Programme einsetzen, selber.

    2 zum zweiten kann man anhand des Barosso Beispiels, denke ich, ganz gut erkennen, dass es schon strukturelle Kopplungen, also gegenseitige Erwartungen mit hoher Sensibilität, zwischen Finanzsystem und Politik gibt. Hier könnte man ja einmal drüber nachdenken, wie man das näher definiert. Läuft die strukturelle Kopplung hier über ein Medium, eine Organisation (bspw. EZB oder die EU selber), etc.

  2. Stefan Schulz sagt:

    Henriks erster Punkt ist auch meiner. Die Entkopplung des high-frequency-tradings vom akteursgetriebenen Marktgeschen und wiederum die Kopplung zwischen Wirtschaft und Politik ist derzeit, während der vollen Entfaltung der Krise, wirklich hochinteressant. Ich vermute auch, dass die vorrauseilende Programmierung der HF-Skripte im totalen Blindflug erfolgt und selbst die Skriptschreiber stauend erleben, an welchen Kaskaden sie beteiligt sind. Die Kursverluste sind kaum zu erklären und am aller wenigstens von den letzten echten Menschen, die für die Kameras die Stellung auf dem Börsenparkett halten.

    Und auf der anderen Seite stimmt es auch, dass diese Kursbewegung beinah nichts mit realen Wertveränderungen zu tun haben. 2.5 Billionen Dollar Wertschwankung innerhalb ein paar Tage. Ich habe darüber gerätselt, ob das eigentlich überhaupt was bedeutet. Etwas flappsig würde ich sagen, das heißt einfach gar nichts. Solange die ganze Welt gleichmässig ihre Börsenwerte abwertet, sollte es höchstens Aliens stören, die ihr Geld auf anderen Planeten investeren könnten.

    Zum Glück sind wir alle arm und belassen es beim konsumieren, sonst würden wir uns den ganzen Tag den Kopf zerbrechen und wären doch jeden Abend erneut enttäuscht.

  3. Rena Schwarting sagt:

    High-Frequency-Trading ist im Text als vorprogrammierte (Ver-)Kaufsentscheidungen angesprochen. Den Punkt, dass HFT in solchen Krisenstunden die doppelte Kontingenz der Erwartungen teilweise einfangen, ist zunächst richtig. Dies ist v.a. bei dem hohen Zeitdruck und der hohen Transaktionsvolumina, die dann auf den Screens wie unkontrollierbar schnelle Wellen einschlagen, geschuldet. Bei dem Tempo kann dann auch gleichzeitig nichts mehr umgeschrieben werden. Ich denke, mann muss aber gewisse Zeitmomente unterscheiden: das Anbahnen und Verstärken der Selbstverunsicherung.

    HFT findet permanent statt und nicht erst seit den letzten 10 Tagen. Das ANBAHNEN solcher Kursentwicklungen – und darum ging es mir in dem Text – hat zunächst viel mit Erwartungsumschlägen einiger großer institutioneller Anleger und der damit verbundenen Selbstverunsicherung anderer Marktteilnehmer zu tun.

    Für das VERSTÄRKEN ist insbesondere ausschlaggebend, dass bestimmte „Kursmarken“ unterschritten werden. Wenn Indices wie der Dow Jones oder der DAX (und viele andere mehr) unter bestimmte Grenzwerte wie beispielsweise die 11.000 oder 6.000 Punkte fallen, dann werden bestimmte Programme zugleich ausgelöst. Aber solche Kurswerte müssen sich erst ereignen. Die Marktteilnehmer haben aber im Moment des Anbahnens bestimmte mögliche Zukunftsaussichten und viele erwarten, dass solche Kaskaden-Effekte eintreten, wenn sich bestimmte Kursentwicklungen abzeichnen, obwohl sie sich noch nicht ereignet haben. Derzeit beobachten wir dagegen ihr Ereignen.

    Drittens läuft die Tatsache, dass HFT und andere Techniken im (Zusammen-)Spiel sind und welche Auswirkungen dies zu bestimmten Zeitpunkten haben kann, zugleich als Erwartung bei den Marktakteuren mit. Dies kann schließlich auch zum Umschreiben oder zur Revision der einzelnen Programme und Modelle führen, die ich wiederum als Folge der Selbstverunsicherung sehen würde.

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