Die Krawallnächte in England sind vorüber. Wer jetzt nachts die Straßen benutzt, muss sich nicht unwohler fühlen als vor den Ausschreitungen. Die Unsicherheit ist dadurch jedoch nicht überwunden. Sie hat sich vielmehr einen neuen Ort gesucht. Sie ist bei den Politikern und Richtern angekommen.
Die Krawalle wurden als Symptom einer kollektiven Ungewissheit der Jugend beschrieben. Hoffnungslosigkeit und Zukunftsangst trieb sie geschlossen auf die Straßen. Die dafür ursächliche biographische Unsicherheit wurde hunderten Beteiligten inzwischen genommen. Die Urteile fielen im 15-Minuten-Takt und entschieden, wie die unmittelbare Zukunft vieler aussieht. Ein Ingenieurstudent, der in einer der Krawallnächte Mineralwasser im Wert von 3,50 Pfund erbeutete, wurde zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Zwei Männer Anfang zwanzig, die im Norden Englands folgenlos auf Facebook zum Krawall aufriefen, sollen für vier Jahre ins Gefängnis.
Auch diese drastischen Strafen sind Symptom einer Verunsicherung. Man hat sich erst einmal für hartes Durchgreifen entschieden, als wäre ein Zeichen zu setzen, weil sich nächste Krawalle schon abzeichneten. Experten thematisieren bereits die Verhältnismäßigkeit der Strafen. Eine Welle von Berufungen wird erwartet. Doch die Fragen überschreiten die Grenzen des Rechts.
Die Strafen, die jetzt ausgesprochen werden, treffen die Menschen in einer Etappe ihrer Biographie, die potentiell das gesamte weitere Leben beeinflusst. Für Menschen in diesem Alter ist eine Berufsausbildung vorgesehen. Sie sollen sich nach ihren Wünschen auf ihr Leben und ihren gesellschaftlichen Beitrag vorbereiten. Es ist die Zeit der Abnabelung von zu Hause, die Zeit der Verantwortungsübernahme für den eigenen Lebenslauf und die Zeit für das Finden eines eigenen sozialen Umfelds, wenn nicht auch die Zeit für das Gründen einer eigenen Familie.
Für all das reserviert die Gesellschaft in der Regel vier Jahre. Dies ist die Dauer eines britischen Bachelorstudiums. Nun ist es schwer, sich für solch ein Studium zu qualifizieren. Es gibt schulische und finanzielle Anforderungen, die sich allein kaum bewältigen lassen. Man benötigt die Hilfe einer Familie. Das Gelingen eines britischen Studiums ist eine kollektive Aufgabe.
Die Verhältnismäßigkeit der Strafen nach den Unruhen daran zu messen ergibt ein interessantes Bild. Wie umfassend sind die individuellen Leistungen, die für ein Studium qualifizieren und wie einfach ist die Qualifikation, um vier Jahre weggesperrt zu werden. Es geht jedes Maß verloren. Im Gefängnis gibt es nichts zu erreichen, dort geht aber vieles verloren – vor allem Zeit.
Welcher gesellschaftliche, kulturelle Beitrag ist zu erwarten, von jemandem, der wegen einer Facebook-Statusmeldung für vier Jahre im Gefängnis verbringt? Die beiden Betroffenen sind 20 und 22 Jahre alt. Sie werden in den nächsten vier Jahren keine Rebellion anführen, keine Schaufenster zerschlagen und kein Geschäft plündern. Das haben sie auch bisher nicht getan. Sie werden in den kommenden Jahren aber auch keine Familie gründen, nicht die Welt erkunden und kein für sie geeignetes soziales Umfeld finden.
Im günstigen Fall werden sie die Zeit mit einer Berufsausbildung oder Tagelöhnerarbeit konstruktiv nutzen. Im ungünstigen Fall durchlaufen sie im Gefängnis ein Studium zum Verbrecher. Die erste und wichtigste Lektion zum Thema – Gerechtigkeit in der Gesellschaft – haben sie bereits gelernt.
Der britische Premierminister, David Cameron, sieht die Justiz auf dem richtigen Weg. Sein Stellvertreter, Nick Clegg, erkundigt sich aber schon nach Möglichkeiten konstruktiver Bestrafung. Sein genereller Vorschlag: gemeinschaftliches Aufräumen und persönliches Entschuldigen.
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