Die Welt geht unter, wir gehen mit

Wenn selbst Sascha Lobo vom Nachrichtenstrom als Desiderat des modernen Menschen in hinterherhinkenden Gesellschaftsstrukturen schreibt, dann heißt das wohl, dass man wenigstens kurz über den Gehalt eines solchen Plädoyers nachdenken soll.

Wollen wir Livetickerjournalismus lesen, oder gar schreiben? Ein Liveticker schafft es so wenig wie jeder andere (journalistische) Mechanismus, Wirklichkeit abzubilden. Aber er geht auf seine eigene Weise mit den Hoffnungen auf Annäherung an ein Geschehen um. Er komprimiert es mit dem selben Verfahren, mit dem heute Filme auf filesharingfreundliche Formate heruntergerechnet werden. Der Moment erhält seine Geltung allein durch seine Differenz zum vorherigen Moment. Der Augenblick wird zum aktuellsten Element eines Prozesses, dessen Berichterstattung streng pfadabhängig wird. Am Ende des Tages lautet die Headline: „Die Welt ging nicht unter“, weil am Morgen das Gegenteil gemeldet wurde und die substanzielle Nicht-Nachricht plötzlich meldungsbedürftige Neuigkeit wurde, weil sie auf die Meldung am Morgen und nicht die Wirklichkeit am Abend verweist.

Dass der Tag nicht linear verlief, dass es die geschlossene Geschichte gar nicht gibt, die Gesellschaft komplex und kompliziert ist und gerne mit „chaotischen Zuständen“ kokettiert wird, dass schon seit Jahren alles als die größte Krise aller Zeiten, mit dem Hauptmerkmal: totale Unberechenbarkeit, beschrieben wird – alles geschenkt. Noch die letzte Approximationshoffnung wurde dann geopfert für eine Headline, die geschrieben wurde, um Aufmerksamkeit zu erreichen, in der Hoffnung, dass sie doch bitte auch stimme, wenn auch nur für 15 Sekunden, bis das Mitdenken beginnt oder die nächste Headline da ist.

Es lässt sich auch etwas einfacher sagen: Livetickerjournalismus zum Weltuntergang braucht niemand. Sie unterhalten allenfalls diejenigen, die ansonsten keine Termine am Tag haben, doch dieses unterhaltungssüchtige Publikum steht vielleicht den verträumten spektakelwütigen Livetickerredaktion, das könnte man ja vermuten, gar nicht gegenüber.

Interesse an rasenden Nachrichtenseiten gibt es allemal. Von der Kanzlerin ist überliefert, dass sie sich gerne ein schnelleres Spiegel Online wünsche. Wer wundert sich darüber? Wenigstens ihr Kalkül ist leicht verständlich. Dem Restpublikum bleibt der merkwürdige Drang: Niemand möchte etwas verpassen, was zur modernen Folge hat, dass das Verpassen schon mit Verspätungen im Informiertsein beginnt. Dem kann man nachgeben, aber die Konsequenzen liegen auf der Hand.


Dagegen wehren kann man sich nicht, weil es keine andere als die Realität der Massenmedien gibt, auch wenn Literaten herzzerreißend über ihre Wirklichkeiten schreiben und Sozialwissenschaftler hin und wieder für die Wahrheit Unterbrechungen einplanen.

Am Ende gewinnen wahrscheinlich die Historiker, die uns immer häufiger mit einem gewaltigen Ach so! überraschen können.

(Bild: Don DeBold)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

2 Kommentare

  1. Stefan Schulz sagt:

    Berechtigter Einwand von Martin Lindner. Sascha Lobo schrieb zum Ende tatsächlich über eine praktische Unterscheidung: „Ergänzt wird der prozessuale Strom durch Erklärungen, Hintergründe, Analysen, Geschichten in laufend ergänzter Artikelform, auf die der Strom immer wieder verweisen kann.“

    Und ich weiß auch, warum ich das zuerst überlas: Weil die deutschen Tageszeitungen, jedenfalls die eine, die ich regelmässig und ausführlich lese, kaum noch etwas anderes macht, als zu erklären, Hintergründe zu analysieren und Geschichten am laufenden Band zu ergänzen. Aber das kann man alles nicht wissen wenn man die Zeitung nicht auf Papier zur Hand nimmt, weil es die Zeitungen bislang fast ausschließlich auf dem Papier zeigen.

  2. Sascha Lobo sagt:

    „Jedenfalls die eine, die ich regelmäßig und ausführlich lese“

    Du hast offensichtlich schon recht lange nicht mehr die ca. 600 anderen Tageszeitungen in die Hand genommen. Gerade diejenigen, die in den letzten Jahren ohnehin schon stark sparen mussten. Hintergründe, Analysen, Geschichten – in der FAZ sehe ich das, in hunderten anderen nicht, auch nicht auf dem Papier. Wie soll das auch gehen, wenn zum Beispiel Manager der Zeitung WAZ offen zugeben, teilweise 22 Cent Zeilengeld zu zahlen an Freie.

    Es ist übrigens schade, dass gerade die FTD, die zumindest erkennbar versucht hat, darin etwas anders zu sein, aus vielen anderen Gründen unrettbar zu sein schien. Aber wie so oft: umfassende Krisen sind selten bis nie monokausal.

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