Wenn man wenig Erfahrung hat, beispielsweise als junger Journalist, steht man immer in Gefahr, verwirrt zu werden. So beispielsweise: Als ich vor zweieinhalb Jahren in der FAZ-Politikredaktion saß und einen Text zur Beschneidungsdebatte schrieb, der die Überschrift „Kein Kind ist je daran gestorben“ trug, hagelte es am nächsten Tag Protestbriefe. Häufig sorgsam per Hand geschrieben, sehr lang und stets auf die Formulierung hinauslaufend: „Ich lese seit 50 Jahren Ihre Zeitung. Aber jetzt reicht es. Kündigung ist bereits in der Post.“
Wie es sich in einer Altherrenzeitung gehört, in der die Betagten unter sich konferieren und Redakteure in Ausbildung ihren Weg alleine finden sollen, landeten die Briefe kommentarlos auf meinem Schreibtisch. Gestapelt, geöffnet und jeder einzelne versehen mit einer Kennzeichnung des Herausgebers, die mir zweierlei bedeuten sollte: Der Vorfall ist im Haus bekannt. Und die Konsequenzen, die daraus zu ziehen waren, sollte ich offenbar mit mir selbst klären.
Sehr viel später entschärfte ein anderer Herausgeber mein Grübeln: Die Linie der Zeitung wird von den Herausgebern festgelegt, nicht von Lesern und ihren Abokündigungsdrohungen. Alles Weitere ist soziales Geplänkel, Briefe landen nun mal zuerst in den Herausgeberbüros und dann beim Autor. Unklarheiten darüber lassen sich als informales Mittel der Macht und Erziehung nutzen. So weit, so lehrreich, so aufregend – und unbedeutend.
Mit entsprechendem Interesse habe ich heute die Krautreporter-Artikel in eigener Sache gelesen. Ein Bundeskanzleramtsmitarbeiter im engeren Autorenzirkel der Krautreporter, das war den Chefs – die seit Anbeginn davon wussten und es ihren Lesern und Mitstreitern gegenüber verschwiegen –, eine kleine Meldung wert. Dass die Monate zu spät kam, versteht sich beim Lesen von selbst. Dass sie nur für den Autoren Konsequenzen hat – ein offenes Rätsel. Mit einem kleinen Lächeln war von dem Betroffenen noch in der Diskussion zu lesen: „Wie ich was bei KR geschrieben habe, ist immer allein mir überlassen geblieben, und ich meine, das merkt man den Texten auch an.“
Eigentlich ein kleiner Sub-Skandal an Verantwortungslosigkeit, fehlendem Problembewusstsein und Selbstüberschätzung. Aber geschenkt. Warum über journalistische Standards diskutieren, wenn sie für die meisten Themen und Texte eigentlich keine notwendige Funktion erfüllen. Als gravierender sollte gestern ohnehin die andere „In eigener Sache“ der Krautreporter verkauft werden: Ein Autor postete ein Instagram-Bild!
Zugegeben, einer Frau in den Rücken treten, um sie vom Strand ins Meer zu stoßen und das ganze mit einem Gruß zum Frauentag zu verknüpfen – ist nicht lustig. Aber es war ein jahrealtes Internetbild, kein Privatfoto. Es bezog sich als Revanche-Witz auf ein noch älteres Gender-Mem, in dem eben umgekehrt die Frau den Mann dominiert. Statt intern kurz den Finger zu heben, zog es der Herausgeber der Krautreporter vor, sich einem Shitstorm zu beugen und seinen Autor eigenhändig zum Fraß in die Manege zu werfen.
Gewürzt mit scharfen Formulierungen: „Es macht mich wütend, diese Selbstverständlichkeit aufschreiben zu müssen.“ Aber wer sagte ihm, dass er hätte „müssen“? Er sagte es sich selbst. Sebastian Esser ist der Herausgeber der Krautreporter, das muss man dazusagen. Denn Esser ist bislang ein Phantom geblieben, publizistisch nicht nur unbedeutend, sondern nicht vorhanden. Nun, da ein Gender-Vergehen auf dem Tisch lag, konnte er sich aus der Deckung wagen.
Beim Genderthema ist alles klar. Auf der richtigen Seite einer Genderdiskussion zu stehen ist so einfach, wie Touristen den Unterschied von Fernsehturm und Rotem Rathaus zu erklären. Nur ist das eben nur im gendermilitarisiertem Berlin so. Von überall sonst blickt man auf diese Stadt und fragt sich, ob noch alle alle Tassen im Schrank haben, ob man sich nicht besser und konstruktiver um soziale Ungleichheiten jedweder Ursprünge kümmern sollte, statt unbescholtenen Bürgern Anti-Irgendwas-Statements abzuringen, wie die Fifa von unbekümmerten Fussballspielern.
Unter den gegebenen Umständen fiel es Esser nicht schwer, den Herausgeber mal richtig heraushängen zu lassen, sich obendrein als gnädiger König zu geben („Wir werden vorübergehend keine neuen Beiträge von Tilo Jung veröffentlichen, aber er bleibt ein Teil von Krautreporter“) und pädagogische Goldgüteklasse zu zeigen („Wir haben beschlossen, Tilo Zeit zu geben, diesen „blinden Fleck“ auszuleuchten“).
Die Frage ist doch: Warum erschien der wichtigste Texte zum Thema, den Krautreporter lieferten, vorgestern nicht bei den Krautreportern, sondern in der Welt?
Oder: Hätte man nicht voraussehen können, dass der ein oder andere Medienhospitant die Tilo-Jung-Hinrichtung aufgreift und dabei vergisst, auf den Text zu linken oder das bedeutende Bild vollständig zu zeigen?
Oder: Hätte man nicht wissen müssen, dass die Formulierung: „Wir werden Konsequenzen daraus ziehen.“ Nicht nur heißt: Wir schmeißen ihn raus! Sondern auch bedeutet: Die Öffentlichkeit erfährt es zuerst und der Betroffene aus der Presse. ?
Als Krautreporter-Crowdfundingzahler und durch Zufall Krautreporter-Autor der ersten Stunde möchte ich hier meine große Enttäuschung bekunden und meine ehrliche, persönliche und tiefe Verachtung für das Verhalten Sebastian Essers zu Protokoll geben. So dürfen die Dinge, die im eigenen Handlungsbereich liegen, nicht laufen – egal welche Privatmeinung man zu ihnen hat und egal, was Kritiker im Internet sagen.
Ab und zu muss man aus Solidarität und Loyalität öffentlich anders kommunizieren als intern. Man muss zum Schutze von Mitarbeitern und Organisation lügen – ansonsten verwandelt sich die Belegschaft zum zynischen Haufen und das freie Meinungsinternet in eine noch viel größere Lüge, in der niemand mehr offen kommuniziert was er fühlt und empfindet, so erblindet und hingerissen die Situationen, in denen Social-Media-Posts entstehen, nun einmal sind. Das ist soziale Wirklichkeit!
Sebastian Essers Konsequenzen-Tweet war ein größerer Fehler als Tilo Jungs Instagram-Spaß.
(Und jetzt werde ich mal mein Abo nichtverlängern und meinen Krautreporter-Text in Rechnung stellen, obwohl ich ihn nicht des Geldes wegen geschrieben habe und es ursprünglich dabei belassen wollte.)
(Bild: Lotus Carroll)
Ergänzung: Interview mit Jörg Wagner für das Radio Eins Medienmagazin
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