Von den Zwängen und Freiheiten der Lehre. Wider die Verklärung von Lehr- und Lernkulturen

An Hochschulen hört man immer mehr Stimmen, die eine Veränderung von Lehr- und Lernkulturen fordern. Die Prüfungs- und Benotungskulturen, die Beratungs- und Unterstützungskulturen, die Fort- und Weiterbildungskulturen und die Qualitätsentwicklungskulturen müssten, so die Stimmen, so verändert werden, dass eine an den Bedürfnissen von Studierenden ausgerichtete Lehr- und Lernkultur entstehe.

Mit der inzwischen inflationären Verwendung des Kulturbegriffsvollzieht sich an den Universitäten und Fachhochschulen ein Trend nach, der in Unternehmen und Verwaltungen, aber auch Polizeien und Armeen sowie in Kirchen schon längere Zeit zu beobachten ist. Auch dort wird die Hoffnung auf eine größere Effizienz, auf eine höhere Mitarbeiterzufriedenheit und stärkere Kundenorientierung mit einer Veränderung der Organisationskultur verbunden.

Woher kommt diese im Management von Fachhochschulen und Universitäten zu beobachtende Euphorie für den Begriff der Kultur?

Zur Popularität des Kulturbegriffs in Universitäten und Fachhochschulen

Die Popularität des Begriffs der Lehr- und Lernkulturen hängt mit den Schwierigkeiten an Universitäten und Fachhochschulen zusammen, übergreifende Verbesserungen in der Lehre durchzusetzen. Zwar wurde in den letzten Jahren der Innovationsapparat an den Hochschulen durch Programme zur Verbesserung der Lehre, durch neue Stabsstellen für Qualitätssteigerung und Stipendien zur Verbesserung der Lehre in Bewegung gesetzt, aber die meisten angedachten Innovationen versanden in den vielfältigen „Lähmschichten“ kollegialer Abstimmungsprozesse. 

Eine zentrale Schwierigkeit besteht in dem begrenzten Zugriff der Hochschulleitungen darauf, was und wie Lehrende überhaupt lehren. Zwar vermitteln Hochschulen über ihre Organigramme den Eindruck, dass es funktionierende Hierarchien gibt, aber das bedeutet noch lange nicht, dass die Rektoren oder Dekane auf die Lehre zugreifen können. Keine Frage – man kann über die Hierarchie sicherstellen, dass Lehrende (jedenfalls meistens) anwesend sind, aber weitergehenden Eingriffen kann sich das wissenschaftliche Lehrpersonal mit dem Verweis auf das verfassungsmäßig abgesicherte Recht auf die Freiheit der Lehre und Forschung entziehen.

Aber selbst wenn sich die Hochschulleitung hierarchische Zugriffsmöglichkeiten sichern würde, käme sie an den Kernprozess der Lehre – die Vermittlung von Inhalten in Vorlesungen, Seminaren und Übungen – nicht heran. Sicherlich – sie könnte versuchen, den Unterricht durch die Vorgabe von Unterrichtsmaterialien, regelmäßige Kontrollbesuche oder die Installation von Videokameras zu steuern, aber die Lehre unterliegt in Face-to-Face-Interaktionen einer Eigendynamik, die sich zentral nicht beherrschen lässt und deswegen Kontrollversuche ins Leere laufen lässt. Daher bleibt das meiste, was im Seminarraum stattfindet, auch im Seminarraum.

Verschärft wird das Kontrollproblem noch dadurch, dass man gar nicht sicher sein kann, wie man Studierende zum Erfolg bringt. Man kann versuchen, die die Lehre an Hochschulen letztlich wie eine Technologie zu verstehen, mit der Personen durch wiederholbare Prozesse in ein vorher definiertes Bildungsprodukt umgeformt werden können. Aber wir wissen inzwischen, dass Lehren und Lernen nicht nach einem solchen technologischen Verständnis funktionieren. Lehr- und Lernprozesse lassen sich nicht wie der Produktionsprozess eines Automobils in Form einer bewährten Technologie erfolgssicher gestalten. Sie unterliegen einem Technologiedefizit.[1]  

Angesichts dieser erheblichen Steuerungsschwierigkeiten setzen die Fachhochschulen und Universitäten ihre Hoffnung auf eine Verbesserung der Lehr- und Lernkulturen. Wenn man Veränderungen schon nicht per ordre de mufti erreichen kann, dann sollte man, so die Logik, wenigstens versuchen, über die Veränderung der Lehr- und Lernkulturen eine Verbesserung zu erreichen. Es seien, so die Annahme, die „weichen Faktoren“ in Form der in der Hochschule geteilten Werte,  des gepflegten Stils und der Fähigkeiten des Personals, die in der Lehre einen Unterschied machen würden.[2]

Aber was sollen diese Lehr- und Lernkulturen an Hochschulen überhaupt sein?

Lehr- und Lernkulturen – eine genauere Bestimmung

Der Begriff der Lehr- und Lernkultur dient in der hochschulpolitischen Diskussion als terminologischer Staubsauger, mit dem alles aufgesaugt werden kann, was in irgendeiner Form mit Lehre und Lernen zu tun hat. Werte, Haltungen, Regeln, Muster, Praktiken, Symbole, Denkweisen, Glaubenssätze und Bedeutungen – alles lässt sich mit dem Begriff der Lehr- und Lernkultur erfassen und miteinander vermengen.[3]

Auf den ersten Blick gewährleistet eine solche expansive, nahezu beliebige Verwendung des Begriffes Organisationskultur Anschlussfähigkeit, weil sich fast alle die Lehre und das Lernen betreffende Phänomene in der Organisation mit ihnen in Verbindung bringen lassen. Faktisch hat diese terminologische Beliebigkeit jedoch den Effekt, dass weitgehend vernebelt wird, was Lehr- und Lernkulturen genau sein sollen, welche Merkmale sie haben, was sie bewirken und wie sie zu beeinflussen ist.[4]

Dabei ist es aus einer organisationswissenschaftlichen Perspektive gar nicht so schwer, den Begriff der Kultur von Organisationen präzise zu bestimmen. Unter Kultur in Organisationen  versteht man all jene Verhaltenserwartungen, die nicht über Entscheidungen festgelegt wurden, sondern die sich langsam eingeschlichen haben. In der Organisationstheorie spricht man von den nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen in Organisationen.[5] Der Praktiker mag sich angesichts dieser Definition erst einmal in seinen Vorurteilen gegenüber kompliziert schreibenden und denkenden Soziologen bestätigt fühlen – nicht entschiedene Entscheidungsprämissen – was soll das sein? Aber es ist eigentlich ganz einfach. Man muss sich lediglich ansehen, wie sich organisationskulturelle Erwartungen – die nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen – ausbilden.

Der Ausgangspunkt ist die banale Beobachtung, dass Menschen in Lehr- und Lernsituationen Erwartungen ausbilden, um überhaupt miteinander zurechtzukommen. Der gesamte Prozess des „erziehenden Unterrichts“ an Hochschulen ist durch solche Erwartungen strukturiert. Es dominiert beispielsweise die Erwartung, dass ein Seminar durch Lehrende begonnen wird, dass diese dafür verantwortlich sind, dass nicht allzu lange Interaktionspausen entstehen, und es herrscht die Erwartung, dass Lehrende die Veranstaltung zum terminierten Zeitpunkt beenden und, wenn sie das nicht tun, sehr plausible Gründe für die Zeitüberschreitung angeben.

Sicherlich – man weiß, dass man von Erwartungen in der Lehre abweichen kann. Es gibt Dozenten, die auf allzu langes Schweigen im Seminar darauf reagieren, dass sie sich mit dem Rücken zu den Studierenden auf den Tisch setzen und so lange nicht reden, bis jemand etwas sagt. Es gibt Dozenten, die ein Seminar beginnen und erst damit aufhören, wenn sie nach acht oder neun Stunden erschöpft sind, und die es hinnehmen, dass ab und zu einige nicht ähnlich euphorisierte Studierende gehen und kommen. Aber in dem Fall werden die Dozenten in der Regel als absonderlich betrachtet und müssen Rechenschaft für diese Abweichung von dominierenden Erwartungen ablegen.

Erwartungen an Lehre und Lernen bilden sich in Hochschulen – und dieser Gedanke ist für das Verständnis von Lehr- und Lernkulturen zentral – auf zwei grundlegend unterschiedliche Weisen aus: Erstens, indem diese Erwartungen durch die Hochschulleitung, die Fachbereichskonferenzen oder Institutsleitungen formal festgelegt werden, oder zweitens dadurch, dass sich die Erwartungen, ohne dass sie jemals klar entschieden werden, allein durch Imitation und Wiederholung einschleichen.[6] Nur für die letztere Form der Erwartungsbildung würde man aus einer organisationswissenschaftlichen Perspektive von Lehr- und Lernkulturen sprechen.  

Man kann sich die Ausbildung von Lehr- und Lernkulturen an einem einfachen Beispiel verdeutlichen. Früher war es in vielen Fachbereichen üblich, dass die Seminare nach dem immer gleichen Schema eines studentischen Referats über einen vorher verteilten Text mit anschließender Diskussion abliefen. Diese Form der Seminargestaltung ist inzwischen nahezu vollkommen verschwunden, weil weder die Lehrenden noch die Studierenden bereit sind, lange mittelmäßige studentische Referate über von allen gelesene Texte über sich ergehen zu lassen. Das weitgehende Verschwinden dieser Seminarform geht dabei nicht auf einen zentralen Beschluss irgendeines Beschlussgremiums zurück, sondern hat sich schleichend über Jahre als Erwartungshaltung ausgebildet, sodass Lehrende heutzutage unter Rechtfertigungsdruck geraten, wenn sie ihr Seminar auf studentischen Referatenaufbauen wollen.

Dabei können die kulturellen Erwartungen entweder mit vorgegebenen formalen Strukturen der Hochschulen kompatibel sein oder aber auch ihnen widersprechen. So ist es sehr wohl möglich, dass eine Hochschule nicht weiter spezifiziert, in welcher Form ein Seminar abzulaufen hat. In dem Fall wäre die eingespielte Praxis von Lehrenden, auf studentische Referate zu verzichten, mit der formalen Struktur der Organisation vereinbar. Aber es ist auch vorstellbar, dass Hochschulen über Studienordnungen oder Modulhandbücher vorgeben, dass Studierende ihren Leistungsnachweis in Form eines Referats zu erbringen haben. In diesem Fall verstoßen Lehrende gegen die formale Ordnung, wenn sie aus didaktischen Gründen auf studentische Referate in den Seminaren verzichten. In der Organisationssoziologie wird eine solche Praxis als für die Organisation brauchbare Illegalität bezeichnet, weil die Abweichung nicht vorrangig der Arbeitserleichterung des Lehrenden dient, sondern zur Verbesserung der Lehre im Seminar.

Welche Vorstellung dominiert an Hochschulen, wie die Lern- und Lehrkulturen verändert werden können?

Die naive Vorstellung in Bezug auf die Gestaltung von Lehr- und Lernkulturen

Lehr- und Lernkultur ist gestaltbar – das ist das dominierende hochschulpolitische Credo. Die Mitglieder der Hochschule sollen ein Lehr- und Lernleitbild erstellen, um ein gemeinsames Verständnis von Lehren und Lernen zu entwickeln. Dabei sollen „sinnvermittelnde Maßnahmen“ in Form von Workshops eingesetzt werden, durch die die Mitarbeiter die „Lehr- und Lern-Mission“ ihrer Organisation verinnerlichen können. Die „Anreizsysteme“ sollen so ausgerichtet werden, dass Lehrende sich an Werten wie „brillanter Forschung“, „exzellenter Lehre“ und „Engagement in der Selbstverwaltung“ orientieren können. Interdisziplinäre Lerngruppenzusammensetzungen sollen als „Maßnahme der Personalentwicklung“ dazu dienen, um die propagierten Werte der Organisation in der Organisationskultur zu verankern.[7]

Ausgangspunkt eines Kulturprozesses sind dabei in der Regel „Kulturaudits“, in denen die eigene Kultur – gerade auch im Vergleich zu Kulturen anderer Organisationen ‒ bestimmt wird.[8] Es komme darauf an, dass sich alle Organisationsmitglieder mit all ihren Stärken und Schwächen über die herrschende Organisationskultur verständigen. Durch die Verschriftlichung der Ergebnisse dieser „Kulturaudits“ würde für alle deutlich werden, welche kulturellen Grundüberzeugungen in der Organisation herrschten und welche Veränderungen in der Kultur nötig seien, um eine bessere „Zielkultur“ zu erreichen.

Die in Leitbildern und Visionen angestrebte Zielkultur einer Hochschule strotzt dann in der Regel nur so von  „schönfärberischen Worten“, „diskursiven Klingeltönen“ und „pädagogischen Überredungsbegriffen“.[9] Häufig werden Dualismen gewählt, durch die sofort deutlich wird, dass das eine gut und das andere schlecht ist – eine Ablösung von einem passiven Lernen durch ein aktives Lernen, das Ersetzen einer fremdorganisierten Lehre durch eine selbstorganisierte Lehre oder der Wechsel von einer lehrendenzentrierten Lehre zu einer studierendenzentrierten Lehre.

Wilde Wertelisten prägen die Leitbilder. Gefordert wird bei der Gestaltung der Lehre, die verschiedenen Ebenen der Hochschule „klug zu vernetzen “, sodass gleichzeitig Legitimation durch eine breite „Beteiligung ermöglicht“ wird, „Verständigung zwischen den Fächern und Statusgruppen“ hergestellt wird und „zügige Entscheidungen“ getroffen werden können. Dass sich die Ansprüche an Legitimation, Verständigung und Schnelligkeit tendenziell widersprechen, wird dann durch die weitgehend unkontrollierte Aneinanderreihung von Werten sprachlich zugedeckt.[10]

Die Funktion solcher Leitbilder für Lehr- und Lernkulturen besteht in der Produktion eines oberflächlichen Konsenses über Lehre. Welche Lehrenden würden es wagen, sich gegen diesen Trend zur Studierendenzentrierung in den Leitbildern zu stellen und sich dazu zu bekennen, dass sie selbst im Zentrum ihrer Lehre stehen und ihre Studierenden in ihrem Lehrkonzept lediglich eine passive und fremdorgansierte Rolle haben sollten? Welche Lehrenden würden gegen den Trend zur Kompetenzorientierung für eine Inkompetenzorientierung in der Lehre plädieren?[11]

Als Modell zur Implementierung einer Lehr- und Lernkultur dient ein Kaskadenmodell. Als Erstes sollen Hochschulen zentrale Leitbilder – in einem Fall außergewöhnlicher sprachlicher Ungeschicklichkeit auch als Lehrverfassung bezeichnet – für die Lehre erstellen. Diese Leitbilder sollten dann mit einem Qualitätsentwicklungssystem für Lehre und mit dem Prüfungssystem verbunden werden. Dann sollen dieses zentralen Leitbilder in Fakultäten und Fachbereichen auf studiengangspezifische Lehrziele und Kompetenzprofile heruntergebrochen werden, wobei darauf zu achten ist, dass die Lehrziele für jeden Studiengang klar und differenziert beschrieben werden.[12]Im nächsten Schritt soll das Leitbild für Lehren und Lernen dann für die Module einzelner Studiengänge operationalisiert werden, wobei genau spezifiziert werden soll, welche Lernziele – neumodisch „learning outcomes“ genannt – die verschiedenen Vorlesungen, Übungen und Module anleiten sollten.

Bei diesem Ansatz, über Leitbilder eine Organisationskultur verändern zu wollen, handelt es sich letztlich um die Reaktivierung einer alten Steuerungsphantasie – um den Traum des Managements, die informalen Netzwerke, die verdeckten Anreizstrukturen und impliziten Denkschemata in der Organisation so zu gestalten, dass sie die Organisation erfolgreicher machen. Effekte dieser Leitbildprozesse – das wissen wir inzwischen über Studien zu Organisationskulturen – sind häufig lediglich ein gesteigerter Zynismus der Mitarbeiter angesichts der wohlfeilen Wertelisten.

Welche Möglichkeiten haben Schulen und Hochschulen überhaupt, die Lehr- und Lernkulturen zu verändern?

Ansatzpunkte zur Veränderung von Lehr- und Lernkulturen – Die Formalstruktur

Die Antwort mag im ersten Moment paradox klingen. Der einzige Hebel des Managements, die Organisationskultur zu verändern, sind Veränderungen der Formalstruktur. Nicht so, wie es sich ein steuerungsbegeistertes Hochschulmanagement vielleicht wünschen mag – nämlich, dass mit der Verkündigung der formalen Struktur auch gleichzeitig die passenden Veränderungen der Organisationskultur mitangeregt werden könnten. Sondern vielmehr dadurch, dass jede Veränderung in der Formalstruktur gleichzeitig überraschende Auswirkungen darauf hat, wie Lehrende lehren und Studierende lernen.

Zugestanden – man kann nie sicher sein, wie sich Veränderungen in der Formalstruktur auf die Lehr- und Lernkultur auswirken. Das Teamteaching, das gemeinsame Unterrichten eines Seminars oder einer Übung durch zwei Lehrende, ist eines der wirksamsten Formen, über die sich Innovationen in der Lehre verbreiten. Deswegen gehen einige Hochschulen dazu über, dass sich Lehrende bei Teamteaching nicht nur das halbe, sondern das volle Lehrdeputat anrechnen lassen können. Aber der Effekt kann auch sein, dass Professoren ihre Lehre von ihren Mitarbeitern vorbereiten und durchführen lassen und die Verrechnung des vollen Deputats unter dem hochschuldidaktischen Label des Teamteachings dazu nutzen, um sich weitgehend aus der Lehre zurückzuziehen. Aber dies ändert nichts daran, dass formalstrukturelle Veränderungen die einzige Möglichkeit sind, auf Lehr- und Lernkulturen einzuwirken.

Ein erstes Beispiel betrifft die Versuche zur Verhinderung der Anomie von Studierenden in der Studieneingangsphase, die häufig nicht nur zur Entfremdung im Studium, sondern nicht selten auch zum Abbruch des Studiums führt. Die klassischen Versuche zur Verhinderung von Anomie sind Einführungswochen, Tutorenprogramme oder Erstsemesterpartys. Sie schaden sicherlich nicht, aber sie haben häufig nur begrenzte Wirkung. Wir wissen aus Studien über die Erziehung an den Top-Colleges in den USA, über die Formung von Spezialkräften für Armeen und über die Ausbildung von Investmentbankern, dass vielmehr Druck eines der erfolgreichsten Mittel ist, um Anomie unter Neulingen in der Organisation zu verhindern. Will man also die Entfremdung vieler Studierender nach wenigen Wochen an einer Hochschule verhindern, müsste man sich bei der Entwicklung von Curricula für Erstsemester nicht primär über Inhalte verständigen, sondern überlegen, wie man im ersten Semester so viel Druck aufbaut, dass dadurch nicht nur der Respekt vor den Anforderungen des zu erlernenden Studiengebiets wachsen kann, sondern auch Solidarität zwischen den Neulingen entsteht.

Ein zweites Beispiel betrifft den Aufbau von engen Bindungen zwischen Lehrenden und Studierenden, die – das wissen wir inzwischen – maßgeblich für hohe Zufriedenheit im Studium verantwortlich sind. Die klassischen Versuche zum Aufbau solcher Bindungen bestehen in der Benennung von Lehrenden als Tutoren, die sich einmal im Semester mit „ihren“ Studierenden treffen sollen – eine Maßnahme, die häufig nach kurzer Zeit sowohl von den Lehrenden als auch von den Studierenden als überflüssige Pflichtübung verstanden wird. Viel effektiver ist es, es den Studierenden über die Gestaltung des Curriculums zu ermöglichen, über mehrere Semester bei den Lehrenden zu studieren, die sie am interessantesten finden. Dadurch können – salopp ausgedrückt – die Meister-Schüler-Verhältnisse entstehen, die gerade für das Erlernen wissenschaftlichen Denkens und Lehrens zentral sind. 

Brauchbare Illegalitäten bei der Ausbildung von Lehr- und Lernkulturen an Hochschulen

Hochschulen könnten solche Veränderungen der Lehr- und Lernkultur vergleichsweise einfach über Veränderungen der Studienordnungen erzielen. Zur Verhinderung von Anomie im Studium müssten Hochschulen in der Studieneingangsphase über anspruchsvolle wöchentliche Leistungsnachweise  und eine intensive Betreuung durch einzelne Lehrende sicherstellen, dass Studierende gar nicht erst auf die Idee kommen, dass sie ihr Studium „nebenbei“ absolvieren können. Zur Herstellung von Meister-Schüler-Beziehungen müssten sie über die Gestaltung der Curricula sicherstellen, dass Studierende bei Interesse über mehrere Semester bei einem Lehrenden studieren können.

Die Tragik ist, dass die durch den Bologna-Prozess angestoßene Reglementierung der Lehre solche Gestaltungsmöglichkeiten über das Curriculum weitgehend verhindert. Die für die Sozialisation notwendigen hohen Leistungsanforderungen in der Studieneingangsphase werden dadurch blockiert, dass Studierende mit dem Bologna-Prozess ein verbrieftes Recht darauf haben, nicht mehr als 40 Stunden pro Woche für die Universität arbeiten zu müssen. Die für die Ausbildung so zentrale Meister-Schüler-Beziehung wird dadurch torpediert, dass es angesichts der Bildung von Kleinstmodulen und der Einführung von Schranken zwischen dem Bachelor- und dem Master-Studium höchst unwahrscheinlich ist, dass ein Studierender bei einem Lehrenden im Folgesemester wieder eine Veranstaltung belegen kann. Je mehr formale Regelungen, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass die Innovationen in der Organisationskultur gegen formale Vorgaben verstoßen.

Schuld ist ein verheerender „Stille-Post-Effekt“, der sich in Hochschulen in Bezug auf die eigenen Spielräume ausgebildet hat.[13] Im Rahmen des Bologna-Prozesses ergänzt, verändert und verschärft jede Stelle die von oben kommenden Vorgaben so, dass den Fachbereichen und Fakultäten bei der Gestaltung von Curricula kaum noch Spielräume bleiben. Unverbindliche Empfehlungen einer Versammlung von europäischen Wissenschaftsministern werden über die ländergemeinsamen Strukturvorgaben der Wissenschafts- und Kultusminister und anschließend dann über universitäre Prüfungs- und Studienordnungen immer weiter verschärft, sodass fast jede Innovation mit Verweis auf vermeintliche Richtlinien und Präzedenzentscheidungen von staatlichen Genehmigungsbehörden und Akkreditierungsagenturen verhindert werden kann.[14] Der dominierende Tenor an den Hochschulen ist: „Interessante Idee, aber das bekommen wir bei unserem Hochschuljustiziariat oder bei der Akkreditierungsagentur nicht durch“.

Innovationen in der Lehre können sich unter diesen Bedingungen deswegen häufig nur unter der Hand ausbilden und verbreiten. Die Veränderung von Lehr- und Lernkulturen ist nicht selten der Effekt „brauchbarer Illegalität“ von Lehrenden und Studierenden, die die immer enger werdenden Vorgaben im Bologna-Prozess nicht akzeptieren wollen. Aber der Effekt der Bürokratisierung im Rahmen des Bologna-Prozesses scheint zu sein, dass immer mehr Lehrende die formalen Vorgaben mit all ihrem für Bürokratie üblichen Irrsinn akzeptieren und nur noch Lehrdienst nach Vorschrift machen. Man muss mit einem Vorschlag zur Verbesserung der Lehre nur zwei- oder dreimal mit Verweis auf vermeintlich rechtliche Vorgaben ausgebremst worden sein, um seine eigenen Anspruche an die Lehre so zurückzuschrauben, dass man nur noch versucht, gute Vorlesungen oder Seminare zu machen, ansonsten aber bitte mit übergreifenden Fragen der Lehre zufriedengelassen werden möchte. 


[1] Siehe zum Technologiedefizit Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr, Das Technologiedefizit der Erziehung und die Pädagogik, in: Zeitschrift für Pädagogik 25 (1979), S. 345–365

[2] Siehe zu dieser Sichtweise auf Unternehmen prominent und den Exzellenzdiskurs in Universitäten voraussehend Thomas J. Peters/Robert H. Waterman, In Search of Excellence, New York 1982. Die Idee ist, dass es nicht nur auf das „System“, die „Struktur“ und die „Strategie“ ankommt, sondern auch auf „Staff“, „Skills“, Shared Values“ und „Stil“.

[3] Siehe dazu Stefan Kühl, Organisationskultur. Eine Konkretisierung aus systemtheoretischer Perspektive, in: Managementforschung 18 (2018), S. 7-35, hier S. 8 ff.

[4] Ich rephrasiere hier Sonja A. Sackmann, Cultural Knowledge in Organizations, Newbury Park 1991, S. 8 f.

[5] Darío Rodríguez, Gestion organizacional. Elementos para su estudio, Santiago de Chile 1991, S. 140 f.

[6] Siehe Ed. Young, On the Naming of the Rose: Interests and Multiple Meanings as Elements of Organizational Culture, in: Organization Studies 10 (1989), H. 2, S. 187–206, hier S. 201.

[7]  Siehe dazu Knut Bleicher, Strukturen und Kulturen der Organisation im Umbruch: Herausforderungen für den Organisator, in: Zeitschrift Führung & Organisation 2 (1986), S. 97–106, hier S. 105.

[8] Siehe zu solchen Culture Audits z.B. Cynthia Solomon, Culture Audits. Supporting Organizational Success, Alexandria 2004.

[9] Zum Begriff der „pädagogischen Überredungsbegriffe“ siehe Roland Reichenbach, Aktiv, offen und ganzheitlich. Überredungsbegriffe – treue Partner des pädagogischen Besserwissens, in: Parapluie 19 (2004), S. 1–6. Zu „diskursiven Klingeltönen“ siehe Jürgen Kaube, Im Reformhaus. Zur Krise des Bildungssystems, Springe, Deister 2014, S. 145 ff. Zur „schönfärberischen Sprache“ siehe Pierre Bourdieu, Der Staatsadel, Konstanz 2004, S. 52.

[10] Die Vorstellung einer Vereinbarkeit von Werten findet sich schon in dem heftig diskutierten Papier des Wissenschaftsrates; siehe Wissenschaftsrat, Strategien für die Hochschullehre. Positionspapier, Köln 2017, S. 19 f. Wörtlich heißt es, dass die Entwicklung eines Konzeptes für die Lehre und „eine Governance (und entsprechende Prozesse und Strukturen), die das Mehrebenensystem der Hochschule klug vernetzt, Beteiligung ermöglicht, legitime und zugleich zügige Entscheidungen erzeugt und zur Verständigung zwischen den Fächern und Statusgruppen führt.“ Gegenüber solchen Formulierungen wirkt selbst mancher Managementbestseller sprachlich prägnant.

[11] Gabi Reinmann, Shift from Teaching to Learning und Constructive Alignment. Zwei hochschuldidaktische Prinzipien auf dem Prüfstand, Berlin 2018, S. 4.

[12] Wissenschaftsrat, Strategien für die Hochschullehre, S. 29.

[13] Siehe dazu Stefan Kühl, Der Sudoku-Effekt. Hochschulen im Teufelskreis der Bürokratie, Bielefeld 2012, S. 127 ff.

[14] So Hauke Brunkhorst, So wird Sachzwang gebaut, in: Taz (2006), S. 128.

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