Der Selbstverstärkungseffekt von Nebengesprächen in Workshops – Ein Vergleich zwischen Online- und Offline- Interaktionen anhand einer typischen Störquelle


Akustik spielt für soziale Interaktion eine wesentliche Rolle. Wenn sich viele Menschen in einem Raum versammeln, dann erzeugen Gespräche eine Geräuschkulisse, die wiederum die Bedingungen für andere Konversationen verändert. Gibt es einen konkreten Anlass und einen Ablaufplan für ein Zusammentreffen, dann ist man gut beraten, den Geräuschpegel unter Kontrolle zu halten. Und trotzdem gibt es immer wieder Tuschelein, leises Flüstern oder Zwischenrufe. Diese Randphänomene bildeen einen guten Ansatzpunkt, um Online- und Offline- Workshops miteinander zu vergleichen.

Interaktionen sind fragil

Manchmal ist es schwierig, sich auf ein Gespräch zu konzentrieren. Denn es gibt so viele Ablenkungsmöglichkeiten – Nachrichten auf Whatsapp, drängende E-Mails der Arbeitskollegen oder das Eichhörnchen, das draußen vor dem Fenster seine Nüsse vergräbt. Goffman (1973:48) macht hier eine „Spannung“ zwischen konkurrierenden Ereignissen aus, die während Interaktionen das Interesse auf sich ziehen können. Sie sind permanent vor dem Zerfall bedroht, sodass laufend Ordnung hergestellt werden muss (Abels 2009:92).

Den Zerfall von einer großen in mehrere kleine Interaktionen – Kieserling (1999:39) nennt das „Sezession“ – kann man z.B. in Workshops beobachten, wenn der offizielle Ablauf gestört wird. Das kann dazu führen, dass der Moderator pausieren muss und somit seine strukturierende Funktion für die Interaktion entfällt. Eine solche Pause kann zu Unruhe führen, zu einem Raunen, dass durch die Menge geht und sich ausbreitet.

Moderation fokussiert die Diskussion

Obwohl es sich bei Workshops um geplante Interaktionen handelt, deren Regeln ein Moderator geltend macht, gibt es immer wieder kleine ungeregelte Phasen. Diese chaotischen Zustände kann man vor allem am Anfang und am Ende eines Workshops beobachten. Zu Anfang betreten Teilnehmerinnen den Raum, machen sich breit und beginnen Gespräche mit anderen. Hierbei steigt der Geräuschpegel zunächst an und erzeugt „Noise“ (McGukin & Seiler 1987: 109), was charakteristisch für das Getümmel vor Beginn eines Workshops ist. Dasselbe passiert am Ende, wenn die Teilnehmenden sich bereit zum Aufbruch machen (ebd.).

Doch nicht nur zu Anfang und am Ende wird es lauter, sondern auch dann, wenn die Hauptinteraktion durch Pausen unterbrochen und die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden abgelenkt wird. Neben geplanten Pausen kann das zum Beispiel passieren, wenn ein Handout herumgegeben wird und der Gesprächsleiter darauf wartet, dass alle es erhalten haben (ebd. 110). Auch hitzige Diskussionen können dazu führen, wenn die Beteiligten so stark involviert sind, dass sie sich nicht mehr mit ihren Beiträgen zurückhalten können. Da eine Interaktion allerdings eine serielle Abfolge, also ein Nacheinander der Beiträge erfordert (Kieserling 1999: 37), kann sie dann als Einheit nicht mehr aufrechterhalten werden.

In solchen Momenten besteht die Gefahr der Desintegration der Gruppe. Sie droht in viele kleine einzelne Interaktionen zu zerfallen, weil Teilnehmende die Situation nutzen, um mit dem Nachbarn zu tuscheln. In diesem Umfeld ist es schwieriger, die affektive Kontrolle (dazu Parsons & Shils 1951: 80) aufrecht zu erhalten, die für diszipliniertes Zuhören erforderlich ist. Die Aufgabe einer Moderatorin besteht dann darin, das Engagement der Anwesenden in die Hauptinteraktion sicherzustellen, um den weiteren reibungslosen Ablauf des Workshops zu garantieren (Nolte 2023: 28).

Intimität durch Geräuschkulisse

Die Geräuschkulisse einer Situation kann eine entfesselnde Wirkung auf die eigene Gesprächsbereitschaft haben. Ist es in einem Raum völlig still, sind viele Personen gehemmt, diese Ruhe durch Kommunikationsofferten zu durchbrechen. Bei solchen akustischen Bedingungen ist selbst Flüstern auffällig (vgl. Kieserling 1999: 38). Je größer der Kreis der Zuhörer ist, desto stärker setzen außerdem Selbstzensurmechanismen ein, da der Sprecher unter höherem Druck steht (Kieserling 2002).

Starten dann die ersten Gespräche im Raum, beginnen wie von allein auch andere, bis jeder sich auf einmal im regen Austausch mit dem Nachbarn wiederfindet. Das liegt einerseits daran, dass die Geräuschkulisse eine gewisse Intimität mit sich bringt, weil nicht jeder mehr mithören kann. Zum anderen scheint es einen Anpassungseffekt durch Imitation zu geben. Wenn alle um einen herum sprechen, erleichtert das die Beteiligung an Kommunikation, sei es durch aktives Zuhören und verständigendes Nicken.

Im Offline- Workshop kann das Problem entstehen, dass Unruhe durch Murmeln entsteht, diese Nebeninteraktionen eine Geräuschkulisse schaffen, die von der Hauptinteraktion abschirmt und das dann wiederum andere dazu ermuntert, auch mit ihrem Nachbarn zu sprechen. Da der physische Raum dreidimensional ist, verläuft die Wahrnehmung von auditiven oder visuellen Reizen kontinuierlich. Man kann ein bisschen von der Person am anderen Ende des Raumes sehen oder das Flüstern zwei Reihen hinter einem leise hören. Im dreidimensionalen Raum können sich deshalb lokale Nebeninteraktionen ausbilden, die Nachbarn anstecken und sich auf die ganze Gruppe ausbreiten.

So besteht die Möglichkeit, der Nachbarin während eines Workshops eine Frage zu stellen oder eine Anschlussdiskussion zu beginnen, ohne, dass dieses Gespräch die Hauptinteraktion so stark stört, dass es den Moderator zum Eingreifen zwingt. Das hängt auch mit der Gruppengröße zusammen. Je größer die Teilnehmerzahl, desto mehr kann man in der Menge untertauchen (vgl. Kieserling 1999: 44) und desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man sich nebenbei anderen Dingen zuwendet (Nolte 2023: 33). In kleinen Gruppen fallen Nebengespräche schnell auf und stören umso mehr.

Technologie erschwert Übergänge

Die Gegenprobe in Zoom-Meetings kann man dann beobachten, wenn Teilnehmende vergessen ihren Ton auszuschalten und sich gleichzeitig mit Personen im selben Raum unterhalten. Solche Äußerungen erzeugen nicht nur Unruhe, die eine Moderatorin einige Zeit ignorieren kann, sie führen fast augenblicklich zur Unterbrechung der Hauptinteraktion. Das liegt auch daran, dass diese Kommunikation oft an ein unbekanntes Thema anschließt und deshalb umso mehr zu Verwirrung führt. Für gewöhnlich tendieren solche parasitären Interaktionen (zum Begriff der parasitären Systeme siehe Schneider 2014) eher dazu, an die Hauptinteraktion thematisch anzuschließen (Kieserling 1999: 39).

Aufgrund solcher peinlichen Erfahrungen achten Teilnehmende online genau darauf, was sie von sich zeigen. Denn in Videokonferenzen besteht eine stärkere Kontrolle über die eigene Darstellung, also dem, was andere von Personen wahrnehmen können (Hausendorf 2022:226). Für Zoom charakteristisch ist die Option, die einzelnen Modalitäten (zu diesem Begriff Licoppe & Morel 2012), also Kommunikationsmöglichkeiten wie z.B. Gestik, Mimik, verbale oder schriftliche Sprache zu kontrollieren, indem man Video oder Audio an bzw. abschaltet. Die Wahrnehmungsmöglichkeiten in Videokonferenzen erhalten so einen stufenhaften Aufbau. Online- Kommunikation funktioniert oft nach einer On/ Off- Logik (vgl. Özdemir 2024: 58). Das Video wird vor allem aktiviert, um zu zeigen, dass man anwesend ist, Ton wird angeschaltet, um sich aktiv zu beteiligen.

Alternativen zum Tuscheln

Die Alternative zum leisen Nebengespräch ist bei Zoom die Chatfunktion. Sie stellt einen Kanal bereit, der Anschlusskommunikation ermöglicht. Besonders macht diese Form der Kommunikation, dass man genau bestimmen kann, wer die gesendete Nachricht zu sehen bekommt. Hier kann man zwischen Nebenkanal (Goffman 1980: 225), dem „privaten Chat“ und dem Überlagerungskanal (ebd.: 239), dem „öffentlichen Chat“ unterscheiden.

Die Nebenkanäle sind für Außenstehende nicht direkt wahrnehmbar. So entstehen manchmal Situationen, in denen in den Gesichtern einiger Teilnehmenden abzulesen ist, dass sie eine Nachricht erhalten haben, zum Beispiel, weil sie lachen müssen oder konzentriert-lesend auf ihren Bildschirm starren. Anhand von Gestik und Mimik lässt sich allerdings schwierig eine Intention zurechnen. Dadurch ist sie auch schwieriger zu sanktionieren (Luhmann 1964: 364). Außerdem stören sie nicht so sehr und der „Übersprungseffekt“ auf andere ist nicht so stark, wie bei mündlicher Kommunikation.

Anwesende haben im Offline- Workshop eine gewisse Verpflichtung zum Engagement und ziehen kritische Blicke auf sich, sobald sie nebenbei E-Mails beantworten oder Nachrichten auf ihrem Handy lesen (vgl. Nolte 2023: 21). Online sinken aufgrund der Kontrolle der Teilnehmenden über ihre eigene Wahrnehmung die Möglichkeiten der gegenseitigen sozialen Kontrolle, weil nicht klar ist, was sich hinter den Kameras verbirgt. Sobald ein wichtiger Telefonanruf ansteht, kann die betreffende Person ihr Mikrofon und Video ausschalten und sich so besser entziehen.

Allgemein anschlussfähig für Kommunikation ist nur der öffentliche Chat. Moderatoren können Beiträge und Fragen hieraus aufgreifen und in das Zentrum der Aufmerksamkeit bringen. Und auch dann, wenn sie das nicht tun, entwickeln sich manchmal Gespräche, indem Teilnehmerinnen das Geschehen kommentieren. Die bloße Schriftlichkeit kann allerdings nicht denselben ansteckenden und enthemmenden Effekt erzeugen, wie eine Geräuschkulisse. Denn hier erzeugt die Kommunikation selbst keine Wahrnehmungsbarrieren, die zur Sezession der Interaktion beitragen. Die Kanäle der Kommunikation laufen nebeneinander, ohne sich gegenseitig zu begrenzen.

Die Aufteilung in kleinere Gruppen und damit die wahrnehmungsmäßige Isolation der Teilnehmenden kann nur intentional stattfinden, indem die Person mit entsprechenden Rechten Breakout- Rooms einrichtet. Hierbei wird die Sezession explizit und geschieht nicht einfach von selbst. Solche Anpassungen der technischen Infrastruktur werden durch die Berechtigungen zentralisiert. Die Sezession der Interaktion ist somit an den Willen einzelner gebunden, der Störeffekt von Nebengesprächen wird damit schon verhindert, bevor es überhaupt zu Sanktionierung kommen kann. Zoom verstärkt auf diese Weise die „asymmetrische Beteiligungsstruktur“ (Linz 2023:244), indem es Haupt- und Nebeninteraktionen stärker voneinander isoliert. Die kommunikativen Grenzen werden strikter gezogen als bei einem Treffen im selben Raum, weil sie einen technologischen Fußabdruck erzeugen.

Literatur

Abels, H. (2009) Ethnomethodologie. In Handbuch Soziologische Theorien. Georg Kneer & Markus Schroer, (Hrsg.) Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 87–110.

Goffman, E. (1973) Interaktion: Spaß am Spiel; Rollendistanz. München: Piper.

Goffman, E. (1980): Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Hausendorf, H. (2022) „Telekopräsenz“. Interaktionslinguistische Anmerkungen zu einer Kommunikationsbedingung im Wandel. In Brückenschläge. Linguistik an den Schnittstellen.  Sarah Brommer, Kersten Sven Roth, and Jürgen Spitzmüller, (Hrsg.) Tübinger Beiträge zur Linguistik (TBL), 583. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag. S. 205–244.

Kieserling, A. (1999) Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Kieserling, A. (2002) Öffentlichkeit als Zensurmechanismus. Unveröffentlichtes Manuskript.

Licoppe, C. & Morel, J. (2012) Video-in-Interaction: “Talking Heads” and the Multimodal Organization of Mobile and Skype Video Calls. Research on Language & Social Interaction, 45(4), S. 399-429

Linz, E. (2023) Interaktionsordnungen in Videokonferenzen – Simulationen einer Face-to-Face-Kommunikation? Sprache und Literatur, 51(2), S. 230–255

Luhmann, N. (1964): Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin: Duncker & Humblot.

McGukin, D., J. & Seiler, W., J. (1987): The Temporal Organization of Classrooms as an Interactional Accomplishment. In: Journal of Thought 22 (4), S. 106–113.

Nolte, M. (2023) Workshops. Zu einer besonderen Form der Interaktion in Organisationen. Wiesbaden: Springer VS.

Özdemir, S. (2024) Face-to-Screen-to-Screen-to-Face-Interaktion? Eine interaktionssoziologische Untersuchung audiovisueller Vermittlung mit autoethnographischer Vertiefung am Beispiel universitärer Lehre. Masterarbeit. Universität Bielefeld.

Parsons, T. & Shils, E., A. (1951) Toward a General Theory of Action. Cambridge, MA: Harvard University Press.

Schneider, W., L. (2014) Parasiten sozialer Systeme/ Parasites of Social Systems. In Heintz, B. & Tyrell, H. (Hrsg.), Interaktion – Organisation – Gesellschaft revisited. Anwendungen, Erweiterungen, Alternativen. Stuttgart: Lucius & Lucius, S. 86-108.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.