Einen ersten Kontakt mit Verwaltungen hat der Mensch in der modernen Gesellschaft schon mit seiner Geburt. Kaum hat ein Baby das Licht der Welt erblickt, wird es schon registriert. Für Verwaltungen ist der Geburtsakt dabei nicht mehr als ein Verwaltungsakt, der die notwendige Basis für eine Vielzahl weiterer Verwaltungsakte bildet.[1] Auch wenn ein Kleinkind zuallererst auf seine Eltern fixiert ist und mit dem Begriff der Verwaltung nichts anfangen kann, läuft im Hintergrund die administrative Maschinerie an. Dem Kind wird eine Steueridentifikationsnummer zugewiesen, es benötigt eine Krankenversicherung, an die Eltern ergehen Aufforderungen zur Wahrnehmung von Früherkennungsuntersuchungen und in manchen Ländern schickt die Stadtverwaltung den Eltern regelmäßig nützliche Tipps zu, was bei der Erziehung zu beachten ist.
Den ersten direkten Kontakt mit Organisationen und damit auch einen indirekten Kontakt mit Verwaltungen hat ein Kind, wenn es in die Krippe, den Kindergarten oder die Schule kommt. Kinder erfahren am Beispiel von diesen auf ein kindliches Publikum eingestellten Einrichtungen, dass man in Organisationen anders als in Familien nicht als ganze Person wahrgenommen wird, sondern nur in einer Rolle als Mitglied einer Organisation. Sie erleben dabei die Funktionsweise von Organisationen über den Kontakt mit Kindergärtnern und Erzieherinnen oder Lehrerinnnen und Lehrern, bekommen aber am Rande auch mit, dass im Hintergrund eine Vielzahl von Verwaltungsprozessen abläuft – von der Zuweisung der Kindergartenplätze über die Verteilung von Kindern auf verschiedene Bildungsanstalten bis zur Gebührenabrechnung für das Essen in der Schulmensa. In Ausbildung und Studium tritt die Verwaltung dann noch deutlicher zu Tage: Bafög-Anträge, Wohnberechtigungsscheine, die Ummeldung an den Studienort, bisweilen versüßt durch ein Begrüßungsgeld, und anderes mehr begleiten den Weg zum Berufs- oder Hochschulabschluss.
Damit gibt es auch die Möglichkeit, eine Verwaltung von Innen zu erleben. Man kann sich als Sachbearbeiter in der Kommunalbehörde bewerben, als Referentin in einer Ministerialverwaltung anfangen, als Ingenieurin beim Eisenbahnbundesamt oder als Arzt in der Gesundheitsbehörde beginnen. Die Tätigkeit in einer Verwaltung ist eine Alternative zur Arbeit in einem Unternehmen, Krankenhaus oder Verein. Doch trotz vielfältiger Möglichkeiten, eine Leistungsrolle in einer Verwaltungsorganisation zu übernehmen, werden die meisten Menschen während ihres Lebens gegenüber der Verwaltung vor allem in der Publikumsrolle bleiben: Man lässt sich den Personalausweis ausstellen, beantragt Kindergeld, gibt seine Steuererklärungen ab oder stellt einen Bauantrag. Nicht selten mag man dabei das Gefühl haben, in die Mühlen einer Bürokratie zu geraten, deren Abläufe und Logiken man eigentlich nicht so recht ersteht.
Bis zum Lebensende kann man auf Kontakte mit der Verwaltung nicht verzichten. Man muss darauf hoffen, dass die staatliche Rentenversicherung die Einzahlungen ordnungsgemäß registriert hat, muss damit rechnen, dass das Finanzamt auch bei Senioren Steuern auf Rentenzahlungen, Kapitalerträge oder Mieteinkünfte erhebt, und wird gezwungen sein, solange man fahrtüchtig ist, sein Auto anzumelden. Selbst der Tod löst Verwaltungshandeln aus. Das Ableben eines Menschen mag für die Familienangehörigen tragisch sein, aus der Perspektive einer staatlichen Bürokratie es dies genauso wie die Geburt ein Fall für die Beurkundung. Erst mit dem Ausstellen der Sterbeurkunde und der dadurch möglichen Löschung aus den Registern der Kommunalverwaltungen, der Finanzbehörden oder der Sozialversicherungsträger wird man für die Verwaltung als Person zunehmend uninteressant und verschwindet für immer in den Akten.
Angesichts der Bedeutung von Verwaltungen für den Menschen ist es nicht verwunderlich, dass sich parallel zur Ausbildung von Verwaltung in der modernen Gesellschaft (vgl. Mayer 1965, 2 ff.; Mayntz 1997, 20 ff.; Männle 2011b, 48 ff.) auch die Kritik an der zunehmenden Bürokratisierung der Welt ausgebildet hat (dazu Jacoby 1969; auf Englisch Jacoby 1973). (vgl. auch Wunder 1987a; grdl. Fusco et al. 1997).[2] Der Mensch würde – so die Kritik – im Laufe der Moderne immer mehr zu einem Opfer der Verwaltung werden.[3] Einmal in der Bürokratie gefangen, hätte er kaum noch Möglichkeiten, zu durchschauen, was gerade mit ihm passiert, geschweige denn, dass er eine Möglichkeit hätte, sich dagegen zu wehren. Von der Verwaltung würde er nicht als Mensch betrachtet werden, sondern nur in seiner Rolle als Bürger, der registriert und prozessiert werden muss (vgl. für eine fiktionale Verarbeitung Kafka 1925; Kafka 1926).
Bei aller Frustration können sich aber selbst die größten Bürokratiekritiker ein Leben in der modernen Gesellschaft ohne Verwaltung nur schwer vorstellen (Männle 2011a, S. 29). Wie soll man seine Bürgerrechte wahrnehmen können, wenn einen die Meldeämter nicht irgendwann erfasst haben? Wie soll man seine Ansprüche an den Staat gelten machen, wenn es keine Verwaltungen gibt, an die man sich mit seinen Anträgen werden kann? Wie soll man sich einigermaßen sicher im Verkehr bewegen können, wenn es keine Zulassungsbehörden, Ordnungsämter oder Polizeien gäbe? Man liegt deswegen vermutlich nicht völlig falsch, wenn man Verwaltung als zentrales Merkmal unserer modernen Zivilisation begreift (so Morstein Marx 1965, S. 1).
Aber was ist diese Verwaltung, die einerseits immer wieder so heftig kritisiert wird, auf die man andererseits aber auch nicht verzichten kann?
Verwaltungen – eine erste Annäherung
Den Begriff des Verwaltens führt man leicht im Munde. Man verwaltet seine Daten, seinen privaten Haushalt oder sein auch noch so kleines Vermögen. Man denkt bei Verwaltung an die Ausübung eines Amtes, das Management einer Einrichtung oder das Ordnen bestimmter Angelegenheiten. Ähnlich wie man alles Mögliche organisieren kann – den Geburtstag der eigenen Kinder, Waren auf dem Schwarzmarkt, eine Runde Bier in der Kneipe – scheint man auch alles Möglich verwalten zu können – seine Aufgaben, seine Konten oder seine Informationen.
In diesem breiten Verständnis ist Verwaltung eine spezifische Tätigkeit in jeder Organisation. Entsprechend scheint es auch in jeder größeren Organisation eine Einheit zu geben, die dafür sorgt, dass sich alle auf die Kerntätigkeiten – sei es die Produktion von Gesellschaftsspielen, die Behandlung von Krebspatienten oder das Schießen von Fußballtoren – konzentrieren können. So übernehmen Verwaltungen in Unternehmen etwa Unterstützungsfunktionen für den wertschöpfenden Kern, indem sie das Personal besorgen, Rechnungen ausstellen und Jahresabschlüsse erstellen. In Schulen gibt es nicht nur den durch Lehrer verantworteten Unterricht, sondern auch eine Verwaltung, die am Ende dafür sorgt, dass die Schüler ein Zeugnis erhalten. In Krankenhäusern gibt es neben den Säulen der ärztlichen Behandlung und der pflegerischen Betreuung auch die Säule der administrativen Prozessierung der Patienten. Selbst in Parteien, Vereinen und Clubs gibt es eine Mitgliederverwaltung, die je nach Größe entweder von Ehrenamtlichen oder von Hauptamtlichen vorgenommen wird. In der Organisationsverwaltung wird die Einstellung und Bezahlung des notwendigen Personals gemanagt, werden die Reisen organisiert, die Unterlagen archiviert, die Finanzen in Ordnung gehalten und vieles andere mehr.[4]
Plädoyer für ein enges Verständnis von Verwaltung
Wenn man von Verwaltungen in einem engen Sinn spricht, bezieht man sich auf einen spezifischen Typus von Organisationen: die öffentlichen respektive staatlichen Verwaltungen (siehe in dem Sinne Mayntz 1978, S. 1). Bei Verwaltungen denkt man an Ministerien, Bezirksregierungen, Stadtverwaltungen, Finanzämter und Arbeitsagenturen, womöglich auch an Polizeien oder Armeen, die das staatliche Gewaltmonopol durchsetzen, aber auch an öffentliche Organisationen, die unmittelbare Leistungen am Bürger erbringen – Schulen, Gerichte oder Gefängnisse. Wenn man all diese Verwaltungen zusammen bezeichnen will, spricht man vom „öffentlichen Dienst“, dem „öffentlichen Sektor“ oder der „staatlichen Sphäre“.
Die Selbstbeschreibung einer Organisation könnte dabei ein Indiz dafür sein, ob man es mit einer Verwaltung zu tun hat.[5] Denn die angesprochenen Organisationen bezeichnen sich nicht selten selbst als Verwaltung. Man denke nur an die Zollverwaltung, die Bundeswehrverwaltung oder – besonders hübsch – die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung. Häufig kombinieren sie in ihrem Namen auch ihre Aufgabe mit dem Begriff der Behörde und nennen sich dann Forstbehörde, Denkmalschutzbehörde oder Kulturbehörde. Eine besondere Tradition hat die Selbstbezeichnung als Amt. Beispiele hierfür sind das Landratsamt, das Finanzamt, das Kraftfahrtbundesamt, das Patentamt oder auch das Bundeskriminalamt. Ferner gibt es prägende Begriff wie „Anstalt“, „Körperschaft“ oder auch der „Stiftung“ – in aller Regel gekennzeichnet mit dem Zusatz „des öffentlichen Rechts“.[6] Aber auch hinter so mancher Bezeichnung als „Beauftragter“ oder als „Stelle“ verbirgt sich nicht (nur) eine Person, sondern eine eigene, manchmal gar nicht so kleine Verwaltungsorganisation.[7]
Man würde einen Fehler machen, wenn man eine Verwaltung nur vermuten würde, wo am Eingang groß „Verwaltung“, „Behörde“ oder „Amt“ auf dem Schild steht, wo die Geschäfte von einer „Amtsdirektorin“ geleitet werden oder die Mitarbeiter zu großen Teilen „Beamte“ sind. Sicherlich – man kann davon ausgehen, dass man es mit einer Verwaltung zu tun hat, wenn sie sich selbst als Bundesministerium, Landesamt oder Kommunalbehörde bezeichnet. Aber nicht selten hat man es auch mit einer Verwaltungen zu tun, wenn sich eine Agentur, ein Unternehmen oder ein Verein im Besitz des Staates befindet und Aufgaben des Staates abwickelt. Weder die Selbstbezeichnung noch die Rechtsform einer Organisation allein gibt uns eine Auskunft darüber, ob wir es mit einer Verwaltung zu tun haben (siehe für unterschiedliche Rechtsformen Bogumil und Jann 2020, S. 103–107).[8]
Ein Unternehmen, dass sich im Besitz des Staates befindet und zentrale öffentliche Infrastrukturleistungen erbringt, hat größere Ähnlichkeit mit einer Verwaltung als mit einem in Privatbesitz befindlichen Unternehmen, das seine Leistungen in Konkurrenz zu anderen Anbietern erbringen muss. Ein Verein, der sich vollständig über öffentliche Mittel finanziert und deswegen dem Zuwendungsrecht unterliegt, hält sich nicht selten rigider an die staatlichen Regeln für Personaleinstellung, Reisekosten und Ausschreibungen als manche obere Bundesbehörde. Im Englischen spricht man von „Quagos“ – Quasi-govermental Organizations – oder auch von „Quangos“ – Quasi-non-governmental Organizations.
Die Situation wird dadurch verkompliziert, dass Verwaltungen nicht immer Verwaltungen bleiben müssen. Es gibt Zeiten, in denen ganz selbstverständlich davon ausgegangen wurde, dass „das Wesen und die Natur der Dinge es erforderlich machen“, dass Universitäten, Schulen, Eisenbahnunternehmen, Telefongesellschaften und Hafenbetreiber vom Staat betrieben werden müssen, und es gibt Zeiten, in denen eher die Vorstellung herrscht, dass diese dem freien Spiel der Kräfte ausgesetzt werden müssen (so Mises 1996). So kann es passieren, dass der Staat eine für den Betrieb der Telekommunikationsinfrastruktur zuständige Behörde mit zehntausenden von Beamten zu einem Unternehmen umwandelt und dessen Anteile schrittweise an die Börse bringt. Umgekehrt kann der Staat aber auch ein von einer IT-Expertin gegründetes Unternehmen für die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung immer stärker durch öffentliche Zuschüsse finanzieren, es mit Bundesmitteln aufkaufen, um es dann in eine Bundesbehörde für IT-Dienstleistungen zu integrieren.
Die Erzeugung kollektiv bindender Erscheinungen
Man hat intuitiv eine Vorstellung davon, wenn man es mit einer Verwaltung zu tun hat. Wenn man sich als Mitarbeiterin von einem börsennotierten Unternehmen einstellen lässt, wird man sich von seinem Freundeskreis nicht für die in Aussicht stehende Karriere in der Verwaltungslaufbahn gratulieren lassen. Wenn man in einer Partei aktiv wird, wäre man überrascht, wäre man vorrangig damit beschäftigt, Akten zu bearbeiten. Aber die genaue Bestimmung ist schwer.
Häufig behilft man sich bei der Bestimmung von Verwaltungen mit einfachen Gegenüberstellungen – unterscheidet „public“ und „private“ (vgl. Rainey et al. 1976), unterscheidet Verwaltung im materiellen von denen im formellen Sinne (vgl. Bohne 2018, S. 9) oder grenzt mit Hilfe der klassischen Gewaltenteilungslehre die Exekutive von der Legislative ab (vgl. Jellinek 1931, S. 6). Aber insgesamt tun sich selbst Verfassungsrechtler schwer, Verwaltung zu definierne, sodass sie sich zur Aussage hinreißen lassen, dass sich Verwaltungen zwar beschreiben, aber nicht definieren lassen (so prominent Forsthoff 1973, S. 1).[9]
Bei aller Variation von Verwaltungen lassen sich diese vergleichsweise gut über ihre Funktion bestimmen – man also fragt, für welches Problem eine Verwaltung eine Lösung ist. Dann lassen sich als Verwaltungen jene Organisationen bezeichnen, die in der Gesellschaft kollektiv bindende Entscheidungen vorbereiten, herstellen und durchsetzen (vgl. bspw. Luhmann 2021, S. 38).[10] Eine Umweltschutzbehörde stellt auf der Basis von Gesetzen Regularien auf – „Im Naturschutzgebiet wird nicht gegrillt!“ – und überwacht deren Einhaltung. Die Aufgabe der Polizei besteht darin, gesetzlich fixierte Verhaltenserwartungen – „Prügeln ist verboten“ – zu spezifizieren und notfalls mit Prügeln durchzusetzen. Die Stadtverwaltung stellt ein Halteverbotsschild auf – und dann darf dort auch niemand halten. Wer trotzdem sein Auto abstellt, dem wird vom Ordnungsamt – buchstäblich – Bescheid gegeben, denn ein Bußgeldbescheid ist ein Verwaltungsakt, mit dem die Behörde auf die Durchsetzung des Halteverbots pocht. Kurz gesagt: Verwaltungen liefern Lösungen in jenen Fällen, in denen Entscheidung zu treffen sind, die für alle gelten sollen – für die Entscheider selbst und für jene, die nicht zustimmen (in dem Sinne Luhmann 1971, S. 165).[11]
Man könnte jetzt einwenden, dass jede Organisation mit der Formulierung formaler Regeln kollektiv bindende Entscheidungen trifft. Der zentrale Unterschied zwischen Verwaltungen und allen anderen Organisation ist aber, dass bei letzteren die Entscheidungen nur für die eigenen Mitglieder relevant sind, während die Entscheidungen der Verwaltung kollektiv, für alle, bindend sind. Diese Bindungswirkung der administrativen Entscheidungen über die eigenen Organisationsgrenzen hinweg kann erklären, weswegen gerade die Entwicklung von Programmen der Verwaltung häufig so frustrierend lange dauert. Denn man kann es sich bei einer Entscheidung leichter machen, wenn sich diese nur auf einige tausend Mitarbeiter in einem Unternehmen auswirkt und nicht Millionen Staatsbürger betrifft (so die Einsicht von Brown 1974: 71f.).[12]
Ihre besondere Ausprägung findet die kollektiv bindende Entscheidung im sogenannten „Verwaltungsakt“, der zentralen Entscheidungsform der Verwaltung (Kopp und Ramsauer 2000, S. 582).[13] Er ist – um es juristisch zu formulieren – ein „rechtlich genau definierter Formtyp“, in den Verwaltungen „ihre Entscheidungen kleiden“, um die Verbindlichkeit zu betonen (Becker 1997, S. 447).[14] Das bedeutet selbstredend, dass nicht jede Entscheidung einer Verwaltung zwangsläufig ein Verwaltungsakt ist. Auch Verwaltungen müssen Klopapier kaufen, Info-Flyer drucken lassen oder Busse für einen Betriebsausflug bestellen, ohne das es sich gleich um einen hoheitlichen Akt handelt. Wenn eine Verwaltung betont, dass eine für den Adressaten verbindliche Entscheidung getroffen wurde, handelt es sich um einen Verwaltungsakt.[15]
Man kann eine erste grobe Typologie von Verwaltungsaufgaben danach vornehmen, ob sie eher mit der Vorbereitung, der Formulierung oder der Durchsetzung kollektiv bindender Verhaltenserwartungen beschäftigt sind. Die Wissenschaftler in Forschungseinrichtungen wie dem staatlichen Wetterdienst, einer Bundesbehörde für Kartographie oder einem Amt für Arztneimittelsicherheit bereiten Informationen auf, die es ermöglichen, für alle Bürger relevante Entscheidungen zu treffen. Juristen in der Ministerialverwaltung sind primär damit beschäftigt, Entwürfe für Gesetze und Verordnungen zu formulieren. Dass sie die formulierten Verhaltenserwartungen nicht selbst durchsetzen müssen, erkennen Beamte in der Ministerialbürokratie daran, dass sie nur in Ausnahmefällen direkten Bürgerkontakt haben.[16] Für die Durchsetzung von Verwaltungsentscheidungen sind öffentlich Bedienstete zuständig, die Bau-, Sozialhilfe- oder Wohngeldanträge bearbeiten, die die Erklärungen der Steuerzahler prüfen oder die Einhaltung der Straßenverkehrsordnung durchsetzen.[17] Aber diese grobe Typologie darf nicht davon ablenken, dass in den meisten Verwaltungsorganisationen kollektiv bindende Entscheidungen vorbereitet, formuliert und durchgesetzt werden. In einer Stadtverwaltung werden nicht nur die vom Staat vorgegebene Gesetze und Verordnungen angewendet und durchgesetzt, sondern auch eigene Vorgaben zum Beispiel in Form von Bebauungsplänen oder Abfallgebührensatzungen formuliert.
Viele Staatsbedienstete würden vermutlich ihre Tätigkeiten nicht primär als die Vorbereitung, Formulierung und Durchsetzung kollektiv bindender Entscheidungen beschreiben. Eine bei einem Stadtwerk angestellte Straßenbahnfahrerin würde ihre Aufgabe gegenüber den Fahrgästen sicherlich nicht in dieser Begrifflichkeit präsentieren. Der Bademeister würde, wenn jemand vom Beckenrand springt, seinen Pfiff wohl in den seltensten Fällen als Verwaltungakt darstellen. Auch die Lehrerin an einer staatlichen Schule würde auf einem Elternabend Irration auslösen, wenn sie ihre Begeisterung für den Job mit der Freude an der Anfertigung von Verwaltungsakten beschreiben würde – auch wenn die Zeugnisausstellung einen Verwaltungsakt darstellt.
Gleichzeitig hat der Staat die Vorbereitung, Formulierung oder Durchsetzung kollektiv bindender Entscheidungen nicht durch eigene Angestellte und Beamte durchzuführen, sondern zu delegieren.[18] In den meisten Ländern sind Schornsteinfeger selbständige Unternehmer, übernehmen aber faktisch polizeiliche Aufgaben, wenn sie im öffentlichen Interesse Prävention von Hausbränden auch gegen den Widerstand der Hausbesitzer durchsetzen.[19] Ministerien übernehmen die Vergabe von staatlichen Fördermitteln und die Kontrolle deren korrekten Verwendung oftmals nicht selbst, sondern delegieren diese nicht nur an nachgelagerte Behörden, sondern an selbstständige Projektträger. Der Staat muss wissenschaftliche Forschungsorganisationen auch nicht selbst betreiben, sondern kann Mittel an einen rechtlich selbständigen Verein vergeben, der die Mittel über ihre Generalverwaltungen an ihre Forschungsinstitute weiterleitet. Die Delegation staatlicher Aufgaben an Unternehmen, Vereine oder Stiftungen macht diese nicht zu Verwaltungen. Weil sie sich aber an staatlich vorgegebene Regularien halten müssen, ähneln sie in ihren Prozessen, Denkweisen und Pathologien sehr stark öffentlichen Verwaltungen.
[1] Zu erkennen an den typischen Merkmalen eines Verwaltungsaktes. Ein Verwaltungsakt ist jede Entscheidung einer Behörde zur Regelung eines Einzelfalls mit unmittelbarer Rechtswirkung nach außen.
[2] Interessant ist hier sowohl der Diskurs zur „Selbstverwaltung“ zum Beispiel im Rahmen der badischen Revolution als auch der Gedanken der „Verwaltung der eigenen Angelegenheiten“ in Kommunen, Ärztekammer oder Universitäten.
[3] Siehe dazu auch schon die frühe Kritik an der öffentlichen Verwaltung von Marx und in Anschluss daran von Adorno.
[4] Wenn man demnach den Begriff der Organisation in einer Dreigestaltigkeit fassen kann – als sozialen Prozess (etwas erfährt Organisation), als sozialen Katalysation (etwas hat Organisation) und als soziales Subjekt (etwas ist Organisation) – vgl. Endruweit 2004, 17 ff. gilt das für Verwaltung nicht minder: Etwas erfährt Verwaltung, wird also verwaltet (eine Briefmarkensammlung etwa), etwas hat Verwaltung (eine Universität zum Beispiel) und etwas ist Verwaltung (das Finanzamt zum Beispiel).
[5] Der Begriff der Bürokratie wird fast schon synonym zu Begriff der Verwaltung benutzt (so zum Beispiel bei Stürmer 1977, S. 10 Fenske 1985, S. 8). Das hängt damit zusammen, dass der Begriff der Bürokratie nahezu gleichzeitig mit der Entstehung der staatlichen Verwaltung aufgekommen ist. Siehe dazu Wunder 1987b, S. 297.
[6] Ein Beispiel für die Anstalten sind die öffentlichen Rundfunkanstalt, die Justizvollzugsanstalt bis hin zur Bundesanstalt für Materialforschung.
[7] Das Besondere des Verwaltungsbegriffs im 18. Jahrhundert war, dass er die gesamte staatliche Tätigkeit und Organisation umfasste und keinen Unterschied zwischen leitender Regierung und exekutiver Verwaltung, noch zwischen Justiz und der eigentlichen Verwaltung machte. Das preußische Generaldirektorium, eine Mischung aus Staatsrat, Kabinett und Behördenapparat, belegt dies eindrucksvoll (siehe dazu Männle 2011a, S. 37).
[8] Die Abgrenzung ist hier anspruchsvoll. Einerseits verlässt man hier durch die „unmittelbare Verwaltung“ und die „mittelbare Verwaltung“ häufig den Boden des öffentlichen Rechts, andererseits ist man noch nicht bei der prägenden Funktion des kollektiv bindenden Entscheidens. Für das Verständnis der Vielfalt von Rechtsformen muss man den Begriff der öffentlichen Aufgabe hinzunehmen. Im deutschen Verwaltungsrecht ist die Kurzformel dafür – „Behörde ist jede Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt.”
[9] Siehe dazu Männle 2011a, S. 116. „Insgesamt zeigen die bisherigen Definitionsversuche, daß ein voll befriedigendes Ergebnis noch nicht erzielt worden ist und wohl auch nicht erreichbar ist. Das liegt nicht an mangelnden wissenschaftlichen Bemühungen, sondern an der Eigenart der Verwaltung, die nach Tätigleitsbereichen, Aufgabenstellung, Struktur und Handlungsformen so vielgestaltig ist. Ungelöst bleibt dabei ja, dass ja Gesetze die typische Form kollektiv bindender Entscheidungen sind und damit dann eigentlich Parlamente angesprochen werden müssen. Lassen wir das hier einfach unter den Tisch fallen, oder müssen wir uns dazu verhalten?“ Maurer 2002, S. 4.
[10] Das schließt nicht aus, dass auch andere Organisationen versuchen, kollektiv bindende Entscheidungen vorzubereiten. Man denke nur an Parteien, in denen über die Kontur zukünftiger Gesetze gestritten wird, an Parlamenten, in denen Abgeordnete über den wissenschaftlichen Dienst Entwürfe für Verordnungen erstellen lassen können oder an Rechtsanwaltskanzleien, die im Auftrag von Interessensorganisationen verabschiedungsreife Gesetzesentwürfe verfassen lassen.
[11] Luhmann schreibt von „gesellschaftlich verbindlichen Wirkungen“. Siehe Luhmann 1971, S. 165.
[12] Wilfred Brown, der von einer Position als Vorstandsvorsitzender in einem Industriekonzern auf die Position eines Ministers wechselte, reflektiert in seinem Buch die unterschiedlichen Anforderungen in Unternehmen und Verwaltungen.
[13] Dabei sind Gesetze die typische Form kollektiv bindender Entscheidungen und damit werden dann besonders Parlamente angesprochen. Auf dieses Thema gehen wir später ein.
[14] Wenn also von den besonderen Verwaltungsentscheidungen die Rede ist – also von jenen Entscheidungen, aufgrund derer sich eine Verwaltungsorganisation von anderen Organisationen unterscheidet –, geht es um der Verwaltungsorganisation zugerechnete Entscheidungen, die einerseits Bindung beanspruchen und die dies zweitens nicht nur von der Organisation selbst, sondern auch von den Adressaten in der Umwelt einfordern. Siehe Männle 2011a, S. 128.
[15] Auch Ministerien erlassen auf gesetzlicher Basis Verordnungen – und diese sind dann häufig sehr griffig. Kurz: Während der Verwaltungsakt einer ausführenden Behörde konkret-individuell ist, ist die Veordnung konkret-generell.
[16] Dabei kann sich das Publikum in den meisten Fällen nicht auswählen, ob es von der Verwaltung als Publikum behandelt werden möchte. Bürger eines Staates zu sein bedeutet immer auch zwangsläufig zu einem Publikum der Verwaltung zu werden
[17] Interessant ist, dass beispielsweise auch der Gerichts(!)-vollzieher Entscheidungen mit Zwang durchsetzen kann. Als Teil der Rechtspflege ist er ja Institution der Judikative – also nicht der Verwaltung.
[18] Der Umfang ist dabei jedoch immer umstritten. Man kann das Vorbereiten vergleichsweise leicht delegieren, aber hoheitliches Handeln kann man nicht so ohne Weiteres delegieren. Siehe hierzu die Diskussion über die Privatisierung von Gefängnissen. Eigentlich dürfen hoheitliche Aufgaben – also Aufgaben, bei denen der Staat aus der Überordnung heraus agiert – nicht delegiert werden – es sei denn ausnahmsweise durch gesetzliche Beleihung.
[19] Man könnte dann argumentieren, dass Schornsteinfeger deswegen Verwaltung sind, weil sie als „Beliehene“ Aufgaben der öffentlichen Vewaltung wahrnehmen.
Literaturverzeichnis
Becker, Bernd (1997): Entscheidungen in der öffentlichen Verwaltung. In: Klaus König und Heinrich Siedentopf (Hg.): Öffentliche Verwaltung in Deutschland. Baden-Baden: Nomos, S. 435–457.
Bogumil, Jörg; Jann, Werner (2020): Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland. 3. Aufl. Wiesbaden: Springer VS.
Bohne, Eberhard (2018): Verwaltungswissenschaft. Eine interdisziplinäre Einführung in die Grundlagen. Wiesbaden: Springer VS (SpringerLink Bücher).
Endruweit, Günter (2004): Organisationssoziologie. 2., überarb. und erw. Aufl. Stuttgart: Lucius & Lucius (UTB Soziologie, Betriebswirtschaftslehre, 2515).
Fenske, Hans (1985): Bürokratie in Deutschland. Vom späten Kaiserreich bis zur Gegenwart. Berlin: Colloquium-Verlag.
Forsthoff, Ernst (1973): Lehrbuch des Verwaltungsrechtes. 10. Aufl. München.
Fusco, Sandro-Angelo; Koselleck, Reinhart; Schindling; Anton; Wolter, Udo; Wunder, Bernd (1997): Verwaltung, Amt, Beamter. In: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Verw – Z. Unveränd. Nachdr., 1. Aufl. 8 Bände. Stuttgart: Klett-Cotta (Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7), S. 1–96.
Jacoby, Henry (1969): Die Bürokratisierung der Welt: Ein Beitrag zur Problemgeschichte.
Jacoby, Henry (1973): The Bureaucratization of the World. Berkely: University of California Press.
Jellinek, Walter (1931): Verwaltungsrecht. Unter Mitarbeit von Eduard Kohlrausch, Walter Kaskel und A. Spiethoff. 3rd ed. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin / Heidelberg (Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft Ser). Online verfügbar unter https://ebookcentral.proquest.com/lib/kxp/detail.action?docID=6593980.
Kafka, Franz (1925): Der Prozess. Berlin: Die Schmiede.
Kafka, Franz (1926): Das Schloss. München: Kurt Wolff.
Kopp, Ferdinand O.; Ramsauer, Ulrich (2000): Verwaltungsverfahrensgesetz. Kommentar. 7. Aufl. München: C.H. Beck.
Luhmann, Niklas (1971): Opportunismus und Programmatik in der öffentlichen Verwaltung. In: Niklas Luhmann (Hg.): Politische Planung. Opladen: WDV, S. 165–180.
Luhmann, Niklas (2021): Die Grenzen der Verwaltung. Berlin: Suhrkamp.
Männle, Philipp (2011a): Verwaltung (in) der Gesellschaft. Berlin: Duncker & Humblot.
Männle, Philipp (2011b): Verwaltung (in) der Gesellschaft. Zugl.: Potsdam, Univ., Diss., 2010. Berlin: Duncker & Humblot (Soziologische Schriften, 82).
Maurer, Hartmut (2002): Allgemeines Verwaltungsrecht. 14., überarb. und erg. Aufl. München: Beck (Grundrisse des Rechts).
Mayer, Franz (1965): Neuzeitliche Entwicklung der öffentlichen Verwaltung. In: Fritz Morstein Marx (Hg.): Verwaltung. Eine einführende Darstellung. Berlin: Duncker & Humblot, S. 2–17.
Mayntz, Renate (1978): Soziologie der öffentlichen Verwaltung. Heidelberg, Karlsruhe: UTB.
Mayntz, Renate (1997): Soziologie der öffentlichen Verwaltung. 4., durchges. Aufl. Heidelberg: Müller (UTB für Wissenschaft Uni-Taschenbücher Soziologie, 765).
Mises, Ludwig von (1996): Bureaucracy. Grove City, PA: Libertarian Press.
Morstein Marx, Fritz (1965): Das Dilemma des Verwaltungsmannes. Berlin: Duncker & Humblot.
Rainey, Hal G.; Backoff, Robert W.; Levine, ChArchivarles H. (1976): Comparing Public and Private Organizations. In: Public Administration Review 36 (2), S. 233. DOI: 10.2307/975145 .
Stürmer, Michael (1977): Gesellschaftskrise und Bürokratie in Preussen – Deutschland seit 1800. In: Theodor Leuenberger und Karl-Heinz Ruffmann (Hg.): Bürokratie. Motor oder Bremse der Entwicklung? Bern, Frankfurt a.M., Las Vegas: Peter Lang, S. 9–30.
Wunder, Bernd (1987a): Bürokratie. Geschichte eines politischen Schlagwortes. In: Adrienne Windhoff-Héritier (Hg.): Verwaltung und ihre Umwelt. Festschrift für Thomas Ellwein. Unter Mitarbeit von Thomas Ellwein. Opladen: Westdt. Verl., S. 277–301.
Wunder, Bernd (1987b): Bürokratie: Die Geschichte eines Schlagwortes. In: Adrienne Windhoff-Héritier (Hg.): Verwaltung und ihre Umwelt. Festschrift für Thomas Ellwein. Opladen: WDV, S. 277–301.
Schreibe einen Kommentar