Wie man aus Nationalsozialisten Demokraten gemacht hat –

Die Funktion eines Beschweigens der Vergangenheit

Spätestens Mitte der 1950er Jahre musste „niemand mehr befürchten, wegen seiner NS-Vergangenheit von Staat und Justiz behelligt zu werden“. Angeheizt von den „vergangenheitspolitischen Forderungen der rechten Kleinparteien“ hätte, so die Einschätzung des Historikers Norbert Frei, eine „Allparteienkoalition“ des Bundestages, die „nach der Kapitulation aufgezwungene individuelle Rechenschaftslegung“ beendet. Fast alle seien „entlastet und entschuldigt“ worden, nicht nur die „Millionen von Entnazifizierten“ und „Zehntausenden von Amnestierten“ , sondern sogar viele der in den Nürnberger NS-Prozessen Verurteilten.

Die deutsche Nachkriegszeit war zweifellos durch ein ausgeprägtes Amnesiebedürfnis gekennzeichnet. Breite Teile der Bevölkerung wollten nicht daran erinnert werden, dass sie vor Kurzem noch begeistert Hitler zugejubelt, sich das Eigentum ihrer deportierten jüdischen Nachbarn angeeignet oder zu den hunderttausenden Deutschen gehört hatten, die als Mitglieder der Einsatzgruppen SS und des Sicherheitsdienstes, der Bataillone, der Ordnungspolizei oder der Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten Ghettoräumungen, Deportationen und Massenerschießungen durchgeführt hatten. Es gab eine Sehnsucht nach dem „großen Vergessen“.

Angesichts der von den Alliierten unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg begonnenen Entnazifizierung waren auch überzeugte Nationalsozialisten damit beschäftigt, sich als lediglich kleine Rädchen im nationalsozialistischen Getriebe zu beschreiben. Selbst führende Nazifunktionäre versuchten sich von Gegnern und Opfern des Nationalsozialismus „Persilscheine“ zu besorgen, um sich vom Vorwurf der aktiven Unterstützung des NS-Staates reinzuwaschen. Ganz Deutschland erschien als eine große „Mitläuferfabrik“, in der letztlich – abgesehen vielleicht von Hitler und ein paar seiner engsten Vertrauten – niemand für die Gräueltaten des NS-Staats verantwortlich gewesen sein wollte.

Die moralische Empörung über diese „Verdrängung“ der NS-Geschichte ist nachvollziehbar. Die Verkündigung einer „Stunde Null“ nach dem Zweiten Weltkrieg, in der man ohne Verantwortung für das Geschehene einfach wieder von vorne beginnen konnte, klingt nach einer bequemen „Entsorgung“ der eigenen Vergangenheit. Aber vergleichsweise früh ist in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gefragt worden, ob das Beschweigen der Vergangenheit nicht auch positive Effekte für die Entwicklung der Demokratie in der Bundesrepublik hatte.

Es war zu befürchten, dass die Integration von Millionen von Nationalsozialisten, die sich über Jahre als mehr oder minder fanatische Anhänger Hitlers präsentiert hatten, eine junge Demokratie destabilisieren würde. Es erschien unwahrscheinlich, dass sie ihre Ansichten mit einem Regimewechsel einfach aufgeben würden, und erwartbar, dass ihre in der Nachkriegszeit eingenommenen Posten dazu nutzen würden, um die entstehende demokratische Staatsordnung zu unterwandern.

Das „diskrete Beschweigen“ der nationalsozialistischen Vergangenheit habe, so jedoch die These des Philosophen Hermann Lübbe, die Massenintegration früherer Nationalsozialisten in die Demokratie möglich gemacht. Hätte man sie allzu deutlich darauf hingewiesen, dass sie in der NS-Zeit Hitler gehuldigt, sich als Antisemiten gebärdet und politisch Andersdenke denunziert hatten, hätten diese Personen sich gezwungen sehen können, ihre damaligen Positionen zu rechtfertigen und sich dadurch weiter mit dem Nationalsozialismus zu identifizieren. Erst die Bereitschaft, diese Menschen nicht mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit zu konfrontieren, hätte es diesen ermöglicht, sich als Demokraten neu zu erfinden.

Letztlich handelt es sich bei diesem Argument des konservativen Philosophen um eine Anwendung des ansonsten von progressiven Kriminologen genutzten Etikettierungsansatzes. Dessen Grundgedanke ist, dass konkretes Verhalten und kundgetane Meinungen vorrangig das Ergebnis von Zuschreibungen sind. Wenn eine Jugendliche von der Polizei wie eine Kriminelle behandelt wird, benimmt sie sich auch wie eine. Wenn eine gesunde Person in die Psychiatrie eingewiesen und von Pflegern und Ärzten wie ein psychisch erkrankter Patient behandelt wird, droht er, sich irgendwann auch wie einer zu verhalten. Und wenn ein ehemaliger nationalsozialistischer Parteigenosse, so letztlich die Weiterführung des Arguments, nicht permanent mit seiner Vergangenheit konfrontiert, sondern wie ein guter Demokrat behandelt wird, dann wird er sich zu einem gut integrierten Bundesbürger wandeln.

Die Provokation Lübbes liegt nicht in der Feststellung, dass sich überzeugte Nationalsozialisten weitgehend problemlos in die Bundesrepublik Deutschland integrieren ließen. Auch wenn die ganze Dimension der personalen Kontinuitäten erst durch spätere Detailstudien zur Geschichte von Unternehmen, Ministerien, Verwaltungen, Krankenhäusern und Kultureinrichtungen herausgearbeitet wurde, war schon früh allgemein bekannt, dass sich die Bundesrepublik Deutschland maßgeblich auf Leistungen früherer NS-Funktionäre stützen konnte. Der Affront Lübbes liegt vielmehr darin, dass er dem anerkannten Faktum dieser Kontinuität bei gleichzeitigem Beschweigen der Vergangenheit im Nationalsozialismus einen spezifischen funktionalistischen Dreh gibt. Erst das Beschweigen der Vergangenheit, so in aller Kürze die These, ermöglichte die Integration in die Demokratie.

Dieser Gedanke widerspricht grundlegend der immensen Bedeutung der NS-Vergangenheit in der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur seit den 1980er Jahren. Dort wird davon ausgegangen, dass erst eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, eine Aufarbeitung ihrer dunklen Seiten und eine Empathie mit den Opfern die Grundlage für die Ausbildung und Stabilisierung einer demokratischen Gesellschaft ist. Die Pflege eines guten Gedächtnisses in Bezug auch auf die kritischen Aspekte der eigenen Geschichte wird als Voraussetzung für die Stabilisierung einer demokratischen Gesellschaft angesehen. Es muss aus dieser Perspektive provokant wirken, wenn behauptet wird, dass gerade das Vergessen und die Tabuisierung der Vergangenheit dazu beitragen kann, eine fragile Demokratie zu stabilisieren. Systemtheoretisch kann man von einem Strukturschutz einer jungen Demokratie durch eine ausgeprägte Kommunikationslatenz bezüglich der nationalsozialistischen Vergangenheit ihrer Staatsbürger sprechen.

Die weitgehend stillschweigend verlaufende Integration der nationalsozialistischen Funktionsträger hat nichts mit einer „politischen Rehabilitierung nationalsozialistischen Engagements“ zu tun. Es sei, so Hermann Lübbe, in der Bundesrepublik vielmehr möglich gewesen, die ehemaligen Nationalsozialisten gerade aufgrund ihrer Vergangenheit zu disziplinieren. Ehemalige NS-Kader mussten jederzeit damit rechnen, beim Aufstieg auf die nächste Karrierestufe, bei parteiinternen Debatten oder öffentlichen Disputen mit ihrer Vergangenheit konfrontiert zu werden, weshalb sie sich jeder offenen Sympathie mit nationalsozialistischem Gedankengut enthalten mussten, um ihre Karrieren nicht zu gefährden.

Der implizite Deal bestand darin, dass den Nationalsozialisten eine Karriere in der Bundesrepublik ermöglicht wurde, wenn sie sich als Demokraten neu erfanden und jeden Verdacht einer Identifizierung mit ihren alten nationalsozialistischen Positionen vermieden. Gerade weil man über die konkreten Verwicklungen im NS-Staat schwieg, wurde niemandem, so Lübbe, gestattet, „rezente nazistische Überzeugungen öffentlich zu äußern“. Wer die Verbindlichkeit der demokratischen Grundordnung in der jungen Demokratie akzeptierte, konnte sich darauf verlassen, „sich nicht täglich oder jährlich neu“ für ein „früheres Nazi-Engagement“ rechtfertigen zu müssen.

Das Risiko wurde dabei für die ehemaligen Nationalsozialisten immer größer. Je besser „die eigene soziale Lage“, desto problematischer wurde, so der Historiker Ulrich Herbert, „die eigene Vergangenheit, weil daraus ein Bedrohungspotential für die neugewonnene bürgerliche Sekurität erwuchs“. „Die eigene Vergangenheit abzutarnen“, um „die neue Zukunft nicht zu gefährden“, wurde „zum vordringlichen Interesse“. Dabei kam es nicht unbedingt darauf an, ein „unauffälliges, angepaßtes Leben zu führen“ und „Kontakte zu ehemaligen Mitarbeitern“ zu vermeiden. Wichtig war vor allem, nicht als Teil einer nationalsozialistischen Seilschaft zu erscheinen. „Daß sie noch einmal eine zweite Chance erhalten würden“, hatten, so Herbert, die „meisten von ihnen bei Kriegsende nie für möglich gehalten“. Also „taten sie alles, um die unverhoffte und unverdiente Gunst der Stunde zu nutzen“. „Dieser Mechanismus führte“  „im Ergebnis zu einer moralisch gewiß zweifelhaften, aber durchaus effektiven Einpassung von offenbar großen Teilen der NS-Eliten in den neuen deutschen Staat und seine Gesellschaft“.

Mit dem Ausscheiden der ehemaligen NS-Funktionäre aus den Schlüsselpositionen ab den 1960er und 1970er Jahren wurde es einfacher, die personale Kontinuität der Funktionseliten vom NS-Staat bis zur Bundesrepublik breit zu thematisieren. Der soziale Tod – also der mit der Pensionierung einhergehende Verlust von Einfluss und Kontakten – und erst recht der biologische Tod von erfolgreichen ehemaligen NS-Funktionären machte es möglich, offensiv deren Karrieren im NS-Staat zu thematisieren. Eine junge Generation von Juristen, Medizinern, Soziologen und Journalisten konnte sich mit der NS-Vergangenheit ihrer Vorgänger auseinandersetzen, ohne negative Auswirkungen auf die eigene Karriere befürchten zu müssen.

Die Kritiker im Nachgang der Studentenbewegung am Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre waren dabei nicht so sehr treibende Kräfte einer Aufarbeitung der NS-Vergangenheit als vielmehr Nutznießer dieser sich durch das Ausscheiden der früheren Nationalsozialisten ergebenden Thematisierungsmöglichkeit. Im Gegensatz zur frühen Bundesrepublik erforderte es in der Zeit nach den Studentenprotesten wenig Mut, die NS-Vergangenheit der eigenen Väter und Mütter – oder häufig auch Großväter und Großmütter – zu thematisieren, weil diese zunehmend an Einfluss verloren. Schon aufgrund ihrer eigenen Verfangenheit konnten sich aber die in politische, akademische und kulturelle Ämter kommenden Anhänger der Studentenbewegung nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass es in der Nachkriegszeit für die Stabilisierung der Demokratie hilfreich gewesen sein konnte, Personen nicht an ihre nationalsozialistische Vergangenheit zu erinnern.

Spätestens mit dem altersbedingten Ausscheiden der ehemaligen NS-Funktionäre aus den zentralen Ämtern in Politik, Recht, Wissenschaft, Wirtschaft, Medizin und Massenmedien hat das Beschweigen ihrer Vergangenheit ihre Funktion für die Stabilisierung der Demokratie verloren. Aufgrund ihrer eigenen Verstrickung konnten die Verfechter der These der funktionalen Kommunikationslatenz nicht erkennen, wann dieses Schweigen mehr schadet als nützt. Spätestens mit dem Tod der NS-Funktionäre lieferte die Thematisierung ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit einen wichtigen Beitrag zum demokratischen Selbstverständnis der Bundesrepublik.


Auszug aus Stefan Kühl „Führung und Gefolgschaft. Management im Nationalsozialismus und in der Demokratie“ (Suhrkamp 2025, 24,- Euro).

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