
Das Beispiel einer typischen Rettungsphantasie einer Managementmode
Nachdem das Konzept der lernenden Organisation lange Zeit als der populärste Weg zur Umsetzung von Veränderungsprojekten in Organisationen galt, propagierten Organisationsentwickler und systemische Berater eine Zeit lang die Theorie U von Otto Scharmer. Bei der Theorie U handelte es sich um ein Phasenmodell, mit dem ein von allen Beteiligten gewünschter Zustand erreicht werden sollte. Die erste Phase, die Phase des „Downloadens“, so Scharmer, beginne am oberen linken Ende eines imaginierten „U“. Dann schließt sich – die linke Seite des „U“ hinuntergehend – die Phase des „Hinschauens“ an, in der die „mitgebrachten Urteile“ losgelassen und ein frischer Blick auf die „Realität“ geworfen werden solle. Es gehe, so Scharmer, in dieser Phase um die „Öffnung des Denkens“. Dann folge die Phase des „Hineinspürens“, in der sich alle mit dem „Feld verbinden, eintauchen und die Situation aus dem Ganzen heraus betrachten“ sollten und so eine „Öffnung des Fühlens“ erreicht werden sollte. Es folge die Phase mit dem Ziel der „Öffnung des Willens“, die Phasen des „Loslassens“ und des „Kommenlassens“, in denen man sich mit der „inneren Quelle“ verbinden solle. Bildlich unten im „U“ angekommen, sollten sich jetzt alle Beteiligten an dem „inneren Ort der Stille“ in einem Prozess des sogenannten „Presencings“ fragen, wer man ist und worin die eigene Aufgabe besteht. Durch eine erneute „Öffnung des Fühlens“ sollen danach in einer Phase des „Verdichtens“ die Visionen, die aus diesem „tieferen Quellort“ entstanden sind, kristallisiert werden. Danach solle durch eine erneute „Öffnung des Denkens“ die „Zukunft durch praktisches Tun gemeinsam erkundet und entwickelt werden. In der letzten Phase des „Performings“ soll das „Neue“ durch eine Veränderung der Alltagspraktiken „in Form“ gebracht werden (Scharmer 2009a, 62f.).
Für eine Managementmode braucht es als Ausgangspunkt die Diagnose einer dramatischen Krise– so ist es auch bei der Theorie U.Die aktuelle Krise, so der Tenor bei Scharmer, sei nicht einfach die Krise einer einzelnen Führungskraft oder einer einzelnen Organisation oder eines bestimmten Landes – es sei die Krise der Gesellschaft als Ganzes. „Während der Druck um uns herum zu- und die Freiheitsgrade abnehmen“, multiplizierten sich die unbeabsichtigten Nebenwirkungen und Konsequenzen unseres Handelns. Trotz einer „florierenden globalen Wirtschaft“ würden „drei Milliarden Menschen in Armut leben“. Wir würden „Unsummen Geld für Gesundheitssysteme“ ausgeben, die auf der „Symptomebene herumstochern und nicht in der Lage sind, die ursächlichen Gründe für Gesundheit und Krankheit in unserer Gesellschaft anzugehen“. Wir „kippen große Mengen Geld in unsere Bildungssysteme, waren aber bislang nicht in der Lage, Schulen und Institutionen für höhere Bildung zu schaffen, die die tief im Menschen veranlagte Fähigkeit zu lernen mobilisieren.“ (Scharmer 2007, S. 203). Wir lebten, so die dramatische Zuspitzung, auf „einer dünnen Kruste aus Ordnung und Stabilität, die jederzeit auseinanderbrechen kann“ (Scharmer 2009a, S. 22).
Als Reaktion auf diese Krise wird die Notwendigkeit „großer Transformationen“ verkündet. Es komme, so Scharmer, darauf an, im Rahmen eines „Re-Actings“, „Re-Structurings“, „Re-Designings“, „Re-Framings“ und „Re-Generatings“ völlig „neue Aktionen“ durchzuführen, „neue Strukturen“ zu schaffen, „neue Prozesse aufzulegen“, ein „neues Denken“ zu etablieren und ein „neues Selbst“ zu kreieren. Dabei reiche es nicht aus, nur Organisationen oder einzelne Aspekte der Organisation zu verändern. Es gehe gleich um den Anspruch, „das Selbst“ der Menschen zu verändern und dadurch auch gleich die „Gesellschaft“ als Ganzes auf ein neues Entwicklungsniveau zu heben. Hier findet sich ein Argumentationsweg, der typisch für Managementmoden ist. Ausgangspunkt sind zunächst einmal Veränderungen, die in Organisationen stattfinden müssen, aber der Anspruch lautet, dass sich mit den Veränderungen in den Organisationen die Gesellschaft als Ganzes zum Besseren wandelt. Die Rede ist von der „Mikro-, Meso-, Makro- und Mundoebene sozialer Systeme“, die durch die Theorie U erreicht und verändert werden könnten (Scharmer 2009a, S. 235).
Aber genau an diesem Punkt greift dann die Theorie U – wie fast alle anderen Managementmoden – zu kurz. Soziale Systeme funktionieren auf den verschiedenen Ebenen ganz unterschiedlich (vgl. grundlegend Luhmann 1975). Eine Face-to-Face-Interaktion, die auf der Kommunikation unter Anwesenden basiert, funktioniert ganz anders als ein Markt, in dem Güter und Dienstleistungen zeitversetzt und über große räumliche Distanz gehandelt werden. Eine Familie mit ihrer Orientierung an Intimkommunikation hat ganz andere Logiken als eine Organisation mit ihrer Orientierung an Entscheidungskommunikation oder eine Protestbewegung mit ihrer Orientierung an Wertekommunikation. Und Veränderungen in der Kommunikation eines Teams laufen nach grundlegend anderen Prinzipien ab als Veränderungen in der Gesellschaft.
Dieser Prozess, der in der soziologischen Systemtheorie als „soziale Differenzierung“ bezeichnet wird, wird in der Theorie U negiert. Es wird in den Fallbeschreibungen der Personen, die mit der Theorie U arbeiten, deutlich, dass die Theorie U vorrangig zur Klärung der Position einzelner Personen in Teams oder Gruppen dient. Wenn es Otto Scharmer darum geht, zu beschreiben, wie mithilfe der Theorie U organisationelle oder gar gesellschaftliche Veränderungen erreicht werden sollen, bleiben diese Prozesse überraschend blass. Es läuft dann auf so hilflose Vorstellungen hinaus, dass die Gesellschaft darüber verändert werden könne, dass weltweit Menschen seine Online-Kurse zur Theorie U hören und sich dann in realen oder virtuellen Zirkeln treffen, um die Gesellschaft zu verändern. Die Illusion solch weitgehender Veränderungsansprüche mag durch kurzfristige Gemeinschaftserlebnisse bei mehr oder minder virtuellen Zusammenkünften produziert werden – mit einem grundlegenden Verständnis über die Differenzierung moderner Gesellschaften hat dies nichts zu tun.
Aus „Managementmoden nutzen. Eine sehr kurze Einführung“ (Springer VS 14,90). Die Publikation der Auszüge soll die Auseinandersetzung mit den Überlegungen zu Managementmoden ermöglichen.

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