Der Missbrauch der Bürokratiekritik

Wie Interessensorganisationen der Wirtschaft die Forderung nach Bürokratieabbau nutzen, um Auflagen im Bereich des Umweltschutzes und der Menschenrechte zu reduzieren

Die Interessensverbände der Wirtschaft hoffen, dass es durch „weniger Vorschriften“ zu einer erheblichen „Effizienzsteigerung“ in den Unternehmen käme. Unternehmen würden, so die Klage, durch fast 5000 Gesetze und Verordnungen, über 100.000 Einzelnormen und kommunale Satzungen immer mehr in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt werden. Nur „ohne unnötige Bürokratie“ könne die Wirtschaft „wirklich effizient arbeiten“ und „der Staat sich auf seine Kernkompetenzen fokussieren“.[1]

Nach den Gründen für das Bürokratiewachstum gefragt, werden aus der Bürokratiekritik bekannten Gründe angeführt – die „Praxisuntauglichkeit der Gesetze“, die „Verzögerung bei der Digitalisierung der Verwaltung“, die „unzureichende Beachtung der bei Unternehmen anfallenden Bürokratiekosten“ und die „Risikoaversion rechtsanwendender Behörden“.[2] Dass den aus diesen Ursachenbeschreibungen abgeleiteten Forderungen allgemein zugestimmt wird, ist wenig überraschend. Gegen die „Praxistauglichkeit der Gesetze“, die „Beschleunigung bei der Digitalisierung der Verwaltung“, die „stärkere Beachtung der anfallenden Bürokratiekosten“ oder eine „angemessene Risikoeinschätzung rechtsanwendender Behörden“ zu sein, benötigt Fantasie.

Häufig geht es in der Bürokratiekritik um mehr als eine Reduzierung der vom Staat auferlegten bürokratischen Berichts- und Abgabepflichten für Unternehmen. Es wird eine grundsätzliche Rücknahme staatlicher Regulierung angestrebt. Die Forderung nach einer Beschleunigung der Genehmigungsverfahren für Produktionsgebäude umfasst meistens nicht nur die Reduzierung der bei der Verwaltung einzureichenden Aktenordner, sondern zudem die Abschaffung von Umweltschutzauflagen. Bei der Klage über Nachweispflichten im Rahmen von Lieferkettengesetzen geht es nur oberflächlich um den erheblichen bürokratischen Dokumentationsaufwand, eher soll die Verantwortung für Kinderarbeit und Zwangsarbeit in der eigenen Lieferkette abgeschoben werden.

Über die Jahrzehnte ist Bürokratiekritik zu einer bequemen „Allround-Formel“ geworden.[3] Die klassische, breit geteilte Kritik richtet sich mit dem Schlagwort „zu viel Verwaltung“ auf die Leistungsdefizite der staatlichen Verwaltung aus – fehlende Kundenorientierung, langsame Bearbeitung von Anträgen, unverständliche Verwaltungssprache, unzureichende Transparenz über Entscheidungsprozesse und mangelndes Kostenbewusstsein.[4] Eine andere Variante der Bürokratiekritik richtet sich grundlegend gegen den Umfangstaatlichen Engagements. Unter dem Kampfruf „zu viel Staat“ wird darüber geklagt, dass dieser immer mehr Aufgaben wie die Ausbildung von Schülern, die Inklusion von Menschen mit Behinderung, den Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt oder die Subventionierung der Landwirtschaft übernimmt. Man adressiert mit der Kritik die Bürokratie, gemeint ist aber eigentlich der Sozialstaat.[5] Eine weitere, besonders von Interessensverbänden der Wirtschaft vertretene Form der Bürokratiekritik zielt mit einer Klage über „zu viel Regulierung“ darauf, dass der Staat über eine Flut an Gesetzen und Verordnungen in verschiedene gesellschaftliche Felder eingreift: Die Nachweispflicht, dass Produkte ohne Kinderarbeit hergestellt wurden, das Verbot, das eigene Haus zukünftig mit Ölheizungen zu erwärmen, oder die Begrenzung des Rechts der Ausübung eines Handwerks als Meister.[6]

Dass Interessensorganisationen der Arbeitgeber, die großen Branchenverbände der Industrie und die Lobbyvertreter einzelner Unternehmen auf die Rücknahme gesetzlicher Regulierung drängen, ist legitim. Die durch Verbrennungsmotoren freigesetzten Kohlenmonoxide, Kohlendioxide, Stichoxide und der entstehende Feinstaub mögen zwar jährlich zu Tausenden von vorzeitigen Toden führen, deren Reduzierung durch eine zu schnelle Umstellung auf Elektromobilität gefährdet aber die Überlebenschancen der Automobilindustrie. Die durch Tierhaltung verursachte überhöhte Nitratkonzentration im Grundwasser reduziert zwar die Artenvielfalt und kann bei Säuglingen zu Gesundheitsschäden führen, die Einhaltung der Grenzwerte wäre aber mit erheblichen Kosten bei größeren landwirtschaftlichen Betrieben verbunden.[7] Eine Lobbyorganisationen der Wirtschaftsverbände, die es nicht als ihre Aufgabe verstände, schärfere Regulierungen im Bereich des Umweltschutzes, der Menschenrechte und des Verbraucherschutzes zu verhindern, hätte keine Existenzberechtigung.

In der modernen Gesellschaft existiert eine Vielzahl von konkurrierenden Werten. Wenn man sich die abstrakten Wertelisten in Präambeln, Parteiprogrammen oder Leitbildern anschaut, entsteht der Eindruck, dass sich Werte wie Gemeinsinn, Gerechtigkeit, Gesundheit, Wohlstand, Wirtschaftlichkeit, Effizienz, Partizipation, Nachhaltigkeit, Transparenz und Vertrauen gut ergänzen. In der Realität geraten Wertvorstellungen bei konkreten Entscheidungen permanent in Konkurrenz zueinander. Bei genauerer Betrachtung erkennt man, dass bei konkreten Entscheidungen Wertvorstellungen in Konkurrenz zueinander geraten. Der Gerechtigkeitsanspruch kann in Widerspruch zur Effizienz geraten, wenn jeder Einzelfall unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten geprüft werden muss. Die Freiheit des Einzelnen, eigenständig wirtschaftliche Aktivitäten in einem Stadtgebiet voranzutreiben, kann in Konflikt mit den Mitspracheansprüchen geraten, wenn dadurch eigene Ansprüche, beispielsweise an die Gesundheit, gefährdet werden.

Bei der Kritik an zu viel Bürokratie handelt es sich häufig um einen argumentativen Taschenspielertrick. Statt offensive Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte, des Tierwohls oder des Klimas in Frage zu stellen, werden die mit den Gesetzen verbundenen bürokratischen Ineffizienzen, starren Entscheidungen und schwerfälligen Vorschriften beklagt. Statt sich auf eine gesellschaftliche Diskussion zur Wichtigkeit von Werten einzulassen, werden die Forderungen nach Absenkung von Gesundheitsstandards, der Reduzierung von Umweltschutzauflagen oder die Einschränkung von Arbeitnehmerrechten hinter dem Wert der Entbürokratisierung versteckt, dem in dieser abstrakten Form niemand widersprechen kann.


[1] Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft: Bürokratieabbau – Effizienzsteigerung durch weniger Vorschriften 20025. Online unter: https://insm.de/themen-und-fakten/buerokratieabbau Siehe allgemein zur Bürokratiekritik auch Martin Albrow: Bureaucracy. London 1970.

[2] Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft: 10 Fakten zur 2024 Fakten Bürokratieabbau. Berlin 2024, S. 15.

[3] Siehe dazu auch Charles T. Goodsells Aussage, dass Bürokratie zu einem Synonym für schlechtes Regieren geworden ist. Charles T. Goodsell: The Case for Bureaucracy. A Public Administration Polemic. Chatham 2004, S. 139.

[4] Siehe Werner Jann: Bürokratieabbau – Über einige Missverständnisse der aktuellen Debatte. In: Wirtschaftsdienst 85 (2005), 10, S. 1–5, hier S. 4. Siehe auch grundsätzlich Werner Jann, Kai Wegrich, Jan Tiessen: „Bürokratisierung“ und Bürokratieabbau im internationalen Vergleich – wo steht Deutschland? Berlin 2007.

[5] So W. Jann: Bürokratieabbau – Über einige Missverständnisse der aktuellen Debatte (wie Anm. 4), S. 2.

[6] Siehe zu diesen unterschiedlichen Formen der Bürokratiekritik auch früh Renate Mayntz: Gesetzgebung und Bürokratisierung. Wissenschaftliche Auswertung der Anhörung zu Ursachen einer Bürokratisierung in der öffentlichen Verwaltung. Köln 1980, 10ff.

[7] Das Verbandsklagerecht von Verbraucherschutzorganisationen und Umweltinitiativen ermöglicht es Kunden, ihre Ansprüche gegenüber Unternehmen durchzusetzen, und stellt für die verklagten Unternehmen natürlich ein erhebliches Ärgernis dar.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert