Ich glaube, dass Felix Schwenzel lügt. Beziehungsweise vermute ich, dass der eine Satz einfach nicht stimmt. Schwenzel schrieb in ihm: „Die enttäuschten Hoffnungen sind auch das Thema von Andrew Keen, meinem Lieblingsinternetkritiker.“ Kann sein, dass Internetkritik eine popkulturelle Gattung ist, deren Werken man sich zuwendet, wenn man abends Netflix leergekuckt hat. Was Schwenzel eigentlich sagen wollte, ist glaube ich: „Man Leute, regt euch ab. Wir können jetzt in Deutschland amerikanisches Fernsehen gucken. Wenn ihr schon nervt, dann wenigstens so wie Andrew Keen. Wenn der auf die Bühne kommt, sind seine spontanen Anfälle noch wahrer und witziger als die Drehbücher von Boston Legal. Wenn ihr da nicht mithaltet, lasst die Finger vom Netz, geht lieber mit dem Hund raus.“
Die Einsicht, dass das Internet ein Unterhaltungsmedium ist, das einer verschwindend kleinen Minderheit auch die Möglichkeit der sozialen Sabotage einräumt, steckt in der ersten Hälfte von Schwenzels Text. Dass diese Minderheit die gesellschaftlich mächtigste Klasse ist – ist eher ein schöpferischer Kunstfehler, passiert, lässt sich eventuell fixen. Schwenzel übersieht das nicht, „Umfang und Ausmaß der Überwachung“ gibt ihm aber keinen Anlass, nicht „seine Naivität zu bewahren“. Schließlich gibt es doch einen Ausweg: „Architekten, Philosophen, Juristen, Mediatoren, Historiker, aber auch Idealisten und Optimisten“ müssten sich nur mit dem Internet, wie er es verstanden haben möchte, beschäftigen. Bla bla, nicht weiter weiss, bla, Arbeitskreis. Klingt so, als hätten sich die Genannten noch nie für das Internet interessiert.
Aber was wäre schon das Internet, wenn man in ihm nicht einen Text fände, der noch eine Schippe drauflegt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung druckt heute Auszüge der neuen Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Facebook – auf einer ganzen Seite im Politikbuch, übertitelt mit „Das Dokument“. Der Autor, der sich redaktionell darum kümmerte, gehört der Wirtschaftsredaktion an und hat die Tage schon einen Leitartikel zum selben Thema geschrieben. Das herausgehobene Zitat auf Seite eins der Zeitung lautete: „Bei kostenfreien Diensten ist der Nutzer das Produkt. Das sollten aufgeklärte Netzbürger wissen.“ Ja, „aufgeklärte Netzbürger“ sollten das wissen, 2015. Nur wie wird man aufgeklärt und von wem?
Die Leitartikel-Meinung der FAZ-Wirtschaftsredaktion lautete noch „Sammelt mehr Daten“ als selbst die datenhungrigsten Unternehmen der Welt, die Banken, vor den neuen Schieflagen im Datenstrom warnten. Mit eigener starker Meinung und starken Meinung vieler anderer führte Frank Schirrmacher damals die Debatte im Feuilleton, insbesondere gegen hausinnere Widerstände. Sein Interimsnachfolger Günther Nonnenmacher, zuvor Politikressort, fasste es dann so: „Ich sage jetzt einmal etwas Ketzerisches: Hat Frank Schirrmacher, der wirklich ein berühmter Mann war, die Auflage der ‚FAZ‘ steigern können? Kamen wegen ihm mehr Anzeigen? Geht es wirklich vor allem darum, einen ‚Talking Head‘ zu haben, der ständig im Fernsehen auftritt? Ich glaube nicht.“
Mein etwas ketzerischer Berater-Tipp wäre ja, den nachweislich am wenigsten gelesenen Text der Menschheitsgeschichte nicht auf einer Zeitungsseite zu drucken, solange derselbe Platz noch für 75.000-Euro-Anzeigenerlös vermarktet werden kann… Womit ich bei allen dazugehörigen Wirren aber nur meine: Lasst die alten Männer amerikanisches Fernsehen gucken und Anzeigen auf Papier verkaufen. Und lasst uns übers Internet reden.
Ps. Weil Schwenzel versucht, mit Michael Seemanns Literatur Sascha Lobos Feuilleton zu enthaupten: Ein Text über einen Kontrollverlust zu schreiben, in dem in keinem Satz der Begriff der Kontrolle aufgegriffen wird, ist mutig – aber dumm. Hätte er sich den historischen Rückgriff (wie sich Christian Heller ihm annahm) getraut, hätte ich es wohl rezensiert, um zu prüfen, was bleibt. Nur über Wille und Vorstellung eines Autors gibt es aber nichts Kritisches zu sagen. Es sei denn, es schreibt Felix Schwenzel, der mein Lieblingsinsinternetschreiber bleibt, weil er ein Rockstar ist.
(Bild: judy_and_ed)
keine ahnung ob ich lüge, ich glaube eher nicht. ich kann nur sagen, dass die meisten internetkritiker wie karl may sind: über den wilden westen schreiben, aber noch nie dagewesen. phantasie und projektion reichen in vielen fällen, um karl may für manche zum lieblings-westernautor zu machen, bei mir nicht. wobei auch das dabei-sein oder mal-da-gewesen-sein allein nicht reicht. ich finde ein mindestsmass an kluger analyse genau so wichtig. deshalb ist keen mindestens einer meiner lieblingsinternetkritiker — und david foster wallace einer meiner lieblingskreuzfahrtkritiker.
Klingt altbacken: Aber ich glaube nicht, dass man zum Internet hingehen kann. Die Wirklichkeit des Internets beginnt beim Gerede über das Internet. Kluge Analysen, die auf Verstehen abzielen sind das eine, handlungsrationale Analysen, die das Netz nicht als Naturereignis hinnehmen – auch wenn es noch sooo viel zu verstehen gibt – sind das andere. Das Internet ist immer noch kaputt. Das kann man nicht erkennen, man sollte es einsehen.
moritz metz ist hingegangen. aber das ist was anderes.
ich glaube aber durchaus, dass man im internet sein kann. so wie man in der zeitung sein kann. oder im fernsehen. genauso kann man es ablehnen im fernsehen, der zeitung oder internet zu sein — also die teilnahme verweigern — und trotzdem drüber fabulieren. medienkritiker die medien nicht konsumieren und nicht daran teilnehmen, haben es schwer meine lieblingsmedienkritiker zu werden.
zusätzliche rhetorische frage: ist das internet kaputter als der rest der welt? warum reden die nachrichten (oder feuilletons) dann beim rest der welt stets von krisen oder katastrophen — und nicht von kaputtheit?
Nichtrhetorische Antwort … weil die Nachrichten (und die Feuilletons) von Menschen unterhalb der Höhe der Zeit gemacht werden. Zumindest deren noch aktuelle Versionen.
Dass man sich von einer Sache fern halten kann, und trotzdem darüber fabulieren darf, stimmt absolut. Nur deswegen konnte Karl May ja von Indianern erzählen und unsere Idee von Freiheit mitentwickeln, die wir nun auch im Internet einfordern, obwohl wir nicht alle gleichmässig dort sind.
Was noch anzufügen ist: Niemand war, sowohl im metzschen wie im wirreschen Sinne, so sehr im Internet wie Frank Schirrmacher.