28 Megatonnen Buch

Blick ins Europäische Parlament.

Als Stephen Colbert im Fernsehen noch seine Rolle als News-Anchor spielte, hatte er mal vehemente Atomwaffengegner als Gesprächsgäste im Studio. Und die wollten partout nicht verstehen, dass Atombombenexplosionen auch eine positive Seite haben. „Können Sie nicht wenigstens einsehen, dass so eine Explosion richtig geil aussieht?“ An diese Szene erinnerte ich mich beim Lesen von Ulrike Guerots Europa-Buch. Sie stellt eine europäische Republik in den Raum und bekommt für sie viel Applaus, weil sie funkelt und strahlt, und einfach gut aussieht. Doch irgendwann beschleicht einen das Gefühl, es könnte auch eine Atombombe sein. Eine Lesung:

Europa indes bleibt eine Aufgabe.“ Ja, das stimmt. Guter Einstieg. „Wir brauchen eine schöne neue gesellschaftliche Utopie.“ Ok, finde ich auch. Je schöner, desto besser. „Es versteht sich dabei von selbst, dass sich die Darstellungen hierbei auf gedankliche Skizzen beschränken und im Abstrakten verbleiben.“ Das finde ich gut, denn ich denke gerne mit. Wenn diese Utopie „ich sagte es schon – nichts Fertiges, sondern nur eine Idee“ ist, verstehe ich das Buch als Einladung. Nicht überstürzt zur Tat zu schreiten ist mir ein wichtiges Anliegen, denn die Umsetzung einer Utopie geht immer einher mit der Abschaffung von Realität. Und das Grundgesetz will ich noch ein paar Tage behalten, ebenso die Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

Im zweiten Teil des Buches wird eine radikale Utopie gezeichnet, und zwar für den Moment, in dem die Geschichte das europäische Projekt wieder freigeben wird.“ Dieser Satz beunruhigt mich plötzlich. Denn beim letzten historischen „Moment“, als die Geschichte ein großes politisches Projekt „wieder freigegeben“ hat, war tatsächlich eine Atombombe im Einsatz. Aus Ulrike Guerots Denkangebot, aus ihren „Skizzen“ und „Ideen“ ist plötzlich eine „institutionelle, territoriale und wirtschaftliche Neuordnung Europas“ geworden, die mitnichten noch zur Diskussion steht, sondern für die sie Anhänger braucht und sucht. Der Ton wandelt sich. „Vielleicht geht es also gar nicht um Utopie, sondern darum, die große historische Idee Europa, von der unser kollektives Gedächtnis doch schon so lange weiß, endlich Wirklichkeit werden zu lassen!“ Das war nicht mit mir als Leser vereinbart. Ich wollte mitdenken, etwas Neues finden und nicht mir im Kopf rumgraben lassen.

Ich wünsche mir sehr, dass manches was wir in unserem kollektiven Kopf wähnen bald Wirklichkeit wird. Aber wir sind hier auf politischem Feld, hier werden manchmal Atombomben gezündet. Ich verstehe mich als interessierten Leser, nicht als Wahlkampfhelfer fürs Guerotsche Europaprogramm. „Und es ist gar nicht mehr alles Utopie, sondern teilweise schon konkrete politische Forderungen, was hier gelistet ist.“ Es gibt aber kein Entrinnen mehr. Wer hier weiterblättert, soll vom Leser zum Missionar und Mittäter werden. Der Kampf beginnt, und zwar ohne lange Vorrede.

Nicht autorisierte Macht ist klassischerweise Tyrannei. Die bestenfalls indirekt autorisierte Macht der heutigen EU-Kommission kommt diesem Tyranneibegriff recht nahe.“ Puh. Darüber würde ich gerne kurz streiten. Tyrannei meint Herrschaftsformen, in denen die allgemeinen Regeln und das Recht ersetzt wurden durch blanke körperliche Überlegenheit. Der Tyrann regiert allein mit Gewalt. Der EU-Kommissionspräsident ist kein Tyrann, oder Ulrike? „Dieses Buch ist nicht der Ort für eine differenzierte Ausleuchtung der vielfältigen und facettenreichen Faktoren des europäischen Siechtums, dem langen und qualvollen Tod des politischen Europas in den letzten zwanzig Jahren.“ Ok, ich wollte nur fragen.

Ich verstehe das Anliegen, die Europäer wieder ins Boot zu holen und sich nicht an einzelnen Mächtigen festzufressen. Im Buch „geht [es] um ein kleinteiliges und arbeitsteiliges europäisches Modell, das für die Vielen anschlussfähig ist – nicht um einen geschichtlichen oder institutionellen Großentwurf der Wenigen. Es geht um die Topologie eines europäischen Ganzen, das die Vielen in allen Einzelheiten, Bedingungen und Modalitäten selbst ausgestalten müssen.“ Doch auch hier stolpre ich. Wenn „die Vielen“ nicht mehr mitmachen wollen, sei „der allgemeine Wille“ „schlichtweg nicht mehr repräsentativ und die volonté générale ist keine mehr.

Hier kenne ich mich aus. Stichwort Atombombe. Auf der volonté générale sind schon so einige balanciert und erlitten plötzlich Genickbruch. Ulrike Guerot schließt an einen ihrer EU-kritischen Sätze an: „Die Teilhabe an der Produktion der volonté générale, des allgemeinen Willens, findet also nicht statt. Damit wird die volonté générale aber nicht mehr von allen getragen. Der Wille aller aber ist entscheidend, denn sonst bildet die volonté générale nur noch den Willen (und mithin die Interessen) von zunehmend Wenigen ab. Der allgemeine Will ist dann schlichtweg nicht mehr repräsentativ und die volonté générale ist keine mehr. „Was das Volk nicht über sich selbst beschließen kann, das kann der Gesetzgeber auch nicht über das Volk beschließen“, schrieb Immanuel Kant.

Man kann das so denken. Schön, dass auch Kant dem damals beipflichtete. Sehr hellseherisch von ihm. Ein Problem der Kategorie Atombombe bleibt aber doch. Jean-Jacques Rousseau (der mit der volonté générale) beginnt sein Schreiben zum Gesellschaftsvertrag so: „Die gesellschaftliche Ordnung ist ein geheiligtes Recht, das allen anderen zur Grundlage dient. Dennoch stammt dieses Recht nicht von der Natur; es beruht also auf Vereinbarungen.“ Rousseau wollte also die Legitimation für Herrschaft vom Himmel auf die Erde holen und nicht den Menschen aufs Maul schauen (und der, der das wollte hatte auch nur Heiliges im Sinn). Die erste Erfahrung, beispielsweise auf deutschem Boden Politik ausschließlich mit einem Willen des Volkes zu legitimieren, ist allerdings ziemlich schief gegangen. Stichwort Atombombe. Bitte, vergessen wir das nie!

Mein Kopf schaltet sich langsam aus. Und das ist offenbar im Sinne der Autorin. Nur wenn man den Zeitgeist, die Geschichte und das politische Denken an sich ignoriert, bekommt man mit Kant-, Rousseau-, Benjamin-, Ahrendt-, Aristoteles-, Montesquieu-, Fichte-, Rosanvallon-Zitaten eine politische Kritik wie hier gemauert, die dann – oh Wunder – prächtig die eigenen Argumente stützt. „Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht“, Johann Wolfgang Goethe (Brief an Friedrich von Müller, 1819).

Ulrike Guerot arbeitet wie Hannah Ahrendt: „Wenn ich arbeite, bin ich an Wirkung nicht interessiert.“ Aber sie kann es sich nicht leisten, und sie ist gegenüber ihrem Gegenstand blind. Ihre Arbeit verhandelt „ein paar aktuelle gesellschaftliche Megatrends – Regionalismus, bürgerliche Emanzipation, Nachhaltigkeit, Postkapitalismus, Postwachstumsgesellschaft, Allmende, genossenschaftliches Denken, Dezentralisierung, Gendergleichstellung“. Kein Wort zum Nationalismus. Nichts zum Rassismus. Nirgendwo Realität. Sie schaut der linken Blase auf die Finger und bietet ihr Maniküre, sonst nichts.

Ulrike Guerot und ich beim Aufwachen Podcast 351

Auszüge: „Die fundamentalste Verletzung demokratischer Gebote beim derzeitigen Aufbau der EU liegt darin, dass die europäischen Bürger im Europäischen Parlament nicht gleichgestellt sind, obwohl es ihr gemeinsames Wohl und Wehe zu vertreten hat. Das Prinzip der Wahlrechtsgleichheit ist nicht gewahrt.“ Würde es in ihrem Sinne gewahrt, säßen noch 30 Deutsche mehr im nächsten Europaparlament. Ja, das Europaparlament entwickelte sich langsam. Es bestand zuerst aus nationalen Parlamentariern, die sich zum Reden trafen. Dann erhielt es eigene Parlamentarier. Wir durften sie wählen. Sie bekamen dann ein Mitspracherecht und schlagen demnächst sogar eigene Gesetze vor. Sowas dauert. Aber es passiert. Es entwickelt sich. Ulrike Guerot will einfach Hauruck, egal was. Aufbau durch Abriss.

Die EU entspricht nicht dem Prinzip der Gewaltenteilung nach Montesquieu.“ Doch, und zwar ohne, dass das Parlament durch Fraktionsdisziplin zum Abnickerclub verkommt, wie beispielsweise der Bundestag seit Jahrzehnten. Leider bekommen wir von der politischen Arbeit in Europa unter diesen wechselnden Mehrheiten nichts mit, weil sich Journalisten nicht dafür interessieren. Zu anders, zu modern. Dazu allerdings keine Worte in Guerots Buch, weil auch sie sich für Details nicht interessiert.

Stattdessen Blödsinn: „Wie lässt sich das europäische Parlament der Zukunft leicht und mobil machen, so dass es sich »auf Wanderschaft« begeben, die Bürger besuchen und sich nach ihren Interessen erkundigen kann?“ Gute Frage, hier ist noch eine: „Werden Tiere eine – advokatorisch vertretene – Stimme bekommen, die die Massentierhaltung beenden und damit zusätzlich noch das Klima retten kann?“ Wie wäre es erstmal mit einem Vertretungswahlrecht für Kinder? Nein, angesprochen wird nur, was instant applause verspricht. Und wen kümmern Kinder? Hippe Kosmopoliten und wütende Opas nicht und die anderen haben keine Zeit für Bücher.

Auf Seite 56 wird die Autorin handgreiflich: „die politische Mitte ist nicht in der Lage oder willens, die EU als eine Vergewaltigung der Demokratie anzuprangern“, heißt es vorwurfsvoll an den Leser und seine Freunde. Denn – Du – sollst wissen: „Der Begriff Republik hat im Sprachgebrauch einen uralten Resonanzboden und einen edlen Klang“, es braucht also keine weiteren Argumente, die Utopie endlich zu machen. „Die wichtigste, aber derzeit knappste Ressource, die wir dafür haben, ist die Wut und die Energie des europäischen zoon politikon, das jede und jeder ist“. Mehr Wut! Schöner Spruch für Plakate. Aber bedenkt: „Ab jetzt schreiben wir Europäische RePublik mit großem P für Politik, weil wir ja etwas Neues schaffen wollen.

Noch eine Frage an die Autorin: „»Wir wissen, was zu tun ist, aber wir können es nicht machen«, hat Jean-Claude Juncker angeblich gesagt.“ Ja, hat er jetzt, oder hat er nicht?

Nein, bei dieser Revolution bin ich nicht dabei. Mehr noch, ich lehne sie ab. Sie macht mir Angst. „In Wahrheit haben wir ein Potemkin’sches Dorf gebaut und viele Jean Monnet-Europa-Professuren an den europäischen Universitäten eingerichtet, um die nachwachsende Generation in diesem Dorf anzusiedeln. Aber bitteschön: nicht, um das Sui-generis-Konstrukt zu hinterfragen.“ Ich will es auf den Versuch der potemkin’schen Republik mit lauter Ulrike-Guerot-Professuren nicht ankommen lassen. Die Chancen stehen mir zu schlecht, dass im nächsten Sui-generis-Konstrukt nicht nur das Denken über Europa zu kurz kommt, sondern dann auch noch die politische Praxis.

(Die kursiven Zitate sind aus dem Buch. Ulrike Guerot: Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

8 Kommentare

  1. BerndDasBrot sagt:

    Für mich scheint Ulrike eine Person zu sein, die gerne eine Intellektuelle sein möchte, jedoch mit dem primären Ziel der Anerkennung anstatt positive, und vorallem NACHHALTIG positive Veränderungen, zu schaffen.
    Sie stellt also ihren Egoismus, in Form von dem Gefühl, gebraucht zu werden, jedoch mit dem kleinen Unterschied, dass sie auf einer etwas mehr intellektuelleren Ebene als z.B. Max Mustermann gebraucht werden möchte, vor dem gesellschaftlichen Wohl.
    Das Ironische ist hier jedoch, dass sie kaum einen eigenen intellektuellen Beitrag zu ihrem Hauptanliegen leistet, sondern zum größten Teil von einem bereits bestehenden System, dem amerikanischen System, abkupfert.
    Wenn man sie dann auf mögliche Schwächen dieses Systems anspricht, hört man eigentlich nur ein „mal schauen“ raus.
    (Ob man bei ihr nicht das eine oder andere Plagiat findet…)

    Allerdings, Stefan, ein wenig mehr vom Revolutionsgeist als bei dir, sollte es schon sein, nur eben nicht in der verträumten Weise wie Ulrike oder große Teile der Linken.
    Denn du hast in der Gesellschaft/im Leben vielleicht ein eher gutes, warmes Plätzchen gefunden. Sicher, bestimmt verbesserungswürdig, aber wer würde das nicht sagen? (Außer vielleicht RTL-Zombies etc.)
    Es gibt jedoch viele, wenn auch noch zu wenige, denn sonst wäre die Revolution schon da, denen es viel, viel schlechter geht, die große und relativ zügige Veränderungen brauchen.
    Aus der Sicht einer Person (du bist gemeint Stefan), für den der Status quo vielleicht nicht perfekt ist, aber eigentlich doch ganz gut und eventuell mit noch besseren Zukunftsaussichten, der geht lieber vorsichtig ran und versucht nach und nach, relativ langsam, an ein paar Schrauben (Symptomen) zu drehen, mit der Hoffnung, dass es besser wird. Und wenn nicht, dann geht es dieser Person ja auch so eigentlich ganz gut.
    Diese Gelassenheit hat nicht jeder, und damit meine ich die finanzielle Gelassenheit.
    Am Ende ist es eben immer eine persönliche Risko-Gewinn-Analyse und so wie ich dich einschätzen würde, hast du bei einer echten und nicht nur einer syptomaustauschenden Revolution, viel mehr zu verlieren als z.B. ein Paketsklave bei DHL, Hermes und Co..

  2. Der kleine Pinguin sagt:

    „Die erste Erfahrung, beispielsweise auf deutschem Boden Politik ausschließlich mit einem Willen des Volkes zu legitimieren, ist allerdings ziemlich schief gegangen. Stichwort Atombombe. Bitte, vergessen wir das nie!“

    Also das hat Stefan nicht erklärt. Wie auch, höchstwahrscheinlich weiß er selbst nicht genau, worum es ihm dabei geht. Wozu auch? Wäre nach Frankreich gegangen, hätte er ebenso blutiges Laster für die erste Demokratie Europas finden können. Das hätte dann aber nicht im Ansatz mit der Atombombenmetapher funktioniert. Genauso, wie mit seinem eigenen Beispiel.
    Ich kann mir nicht vorstellen, in welcher Logik, Demokratie eine Atombombe heraufbeschwören kann. Vielleicht kann der geneigte Autor ein paar Kommentare dazu hier lassen?

    Es geht weiter wie folgt:
    „Würde es in ihrem Sinne gewahrt, säßen noch 30 Deutsche mehr im nächsten Europaparlament.“
    Es ist wirklich erfrischend, wie Stefan Schulze selbst nach dem Motiv des Nationalismus fragt und es dann doch weiter reproduziert. Sollte er auf das „Europa der Regionen“ angespielt haben, dann hätte er vergessen, dass es keine Plausibilität dafür gibt, anzunehmen, dass die „deutschen“ Regionen (obwohl sie dann schon längst nicht mehr deutsch im Wortsinne wären) auch einheitlich politisch agieren. Es fliegen halt Späne im eigenen Oberstübchen, wenn man eine Utopie mit Holzfällermethoden nachspielen will. Sich an ihnen zu verletzen ist nicht verwerflich, darüber zu klagen schon.

    <>
    Also wenn Gewaltenteilung immer noch meint, dass sich die Gewalten gegenseitig kontrollieren, dann hat Stefan hier einfach faktisch falsch. Es sei denn, er vertauscht alle Vorwürfe an die Kompetenzen des Parlaments so rigoros mit einem utopischem Parlament, wie er Guerots utopische Ideen mit dem 3. Reich verwechselt.

    >>“Werden Tiere eine – advokatorisch vertretene – Stimme bekommen, die die Massentierhaltung beenden und damit zusätzlich noch das Klima retten kann?“ Wie wäre es erstmal mit einem Vertretungswahlrecht für Kinder? Nein, angesprochen wird nur, was instant applause verspricht. Und wen kümmern Kinder? Hippe Kosmopoliten und wütende Opas nicht und die anderen haben keine Zeit für Bücher.“<<
    – Es ist überaus löblich, dass Stefan am Anfang Guerot vorwirft, alles im Hauruck erreichen zu wollen, dann aber nicht nachsieht, wenn sie etwas nicht bedacht hat, was sie als Ideen angekündigt hat. Abseits dieses köstlichen Whataboutisms sei angemerkt, es ist plötzlich Stefan, der sich an der Idee der Utopie beteiligen will!

    Aber eine diensteifrige Lesung

  3. Soziofreak sagt:

    Lieber Stefan,

    ich verstehe einige deiner Kritikpunkte, dennoch finde ich, dass die Utopie von Ulrike nicht als etwas Festgesetztes, Unveränderbares betrachtet werden kann, sondern als ein Anfang dafür dient, das europäische System zu hinterfragen und zu kritisieren (und zwar aus der sog. linken Seite).

    Anstatt die Utopie niederzuschlagen, könntest du sie ja nehmen, sachlich kritisieren (die Gefahren aufzeigen), verändern und eine neue, andere Form der Imagination entwickeln und vorschlagen. Denn diese Traumvorstellung gänzlich abzulehnen ist genauso gefährlich wie ihr hundertprozentig zuzustimmen.
    Denk‘ mal darüber nach, vielleicht schreibst du ein neues Buch und beziehst dich sachlich (sachlich erläuterte Kritik!!!!) auf die Idee von Ulrike.

    Peace :)

  4. Ulrich sagt:

    Was ich an Geurots Ansatz kritisieren muss, ist dass er den theoretischen, bzw. systemischen Faktor über- und den Faktor Individuum/Mensch unterbewertet.
    Wenn ich mit 2,0 Promille mein Auto in den Graben fahre, liegt das in der Regel nicht an Konstruktionsmängeln am Auto.

    Jeder gesetzliche Rahmen muss durch konkretes Handeln von konkreten Personen gefüllt werden. Diese können sich zwar rechtskonform verhalten, aber sie müssen es nicht. Sie können genausogut versuchen, die Vorgaben zu umgehen, sie zu beugen oder gar zu brechen. Das Recht selbst erzwingt keinen Gehorsam, kein Wohlverhalten. Es sind Menschen, die dies, unter Berufung auf das Recht, tun.

    Von daher teile ich Stefans prinzipielle Kritik an Utopien. Utopien mögen auf den ersten Blick nice to have sein. Sobald man sich aber daran macht, sie umzusetzen, sieht man sich bald mit der Gretchenfrage konfrontiert: „Wie hälst du es mit denen, die deine Utopie ablehnen?“
    Diese Frage markiert eine Wegscheide. Der eine Weg führt zurück ins Feld der pragmatischen Politik und des Kompromisses, der andere endet im Totalitären. Denn entweder, ich respektiere die Tatsache, dass nicht alle meiner Meinung sein werden und versuche, meine Interessen zumindest teilweise über den Verhandlungsweg zu realisieren – was dazu führt, dass ich mich eben z.T. von meiner Utopie lösen muss.
    Oder aber, ich bleibe kompromisslos bei meiner Utopie. Dann jedoch werde ich überzeugunsresistente Andersdenkende zu ihrem „Glück“ zwingen müssen. Gelingt mir auch dies nicht muss ich sie letzten Endes, um der guten Sache willen, vertreiben oder töten.
    Genau das ist im 20. Jahrhundert immer wieder geschehen. Unter dem Vorwand, eine Utopie zu realisieren, wurden Millionen Menschen ausgegrenzt und ermordet, sei es im Namen der arischen Rasse, des Klassenkampfes, des Neokapitalismus oder der Sharia. So unterschiedlich wie all diese Systeme sind und waren, so teilen sie doch in einem wichtigen Punkt eine gemeinsame Grundüberzeugung:
    Sie alle teilen den Optimismus, dass sich eine Utopie 1:1 realisieren ließe. Dieser Optimismus ist jedoch letztlich zutiefst menschenverachtend.

    Was aber wären mögliche Alternativen?
    Einen pessimistischen aber gleichwohl menschenfreundlichen Umgang mit Utopien pflegt beispielsweise das Christentum. Es zeichnet mit der „Reich Gottes“-Vorstellung einerseits ein utopisches Bild von einem „Himmel auf Erden“. Andererseits spricht es den Menschen die Fähigkeit ab, einen solches irdisches Paradies aus eigener Kraft zu etablieren. Das einzige, was Menschen tun könnten, sei, ihr eigenes Leben so zu gestalten, dass es dieser Utopie möglichst nahe kommt und dann auf Nachahmer zu hoffen.
    Mehr kann eine Utopie nicht leisten.

    Guerot unterschätzt ferner die Wirkmächtigkeit von Utopien. Utopien allein bewirken gar nichts. Der Wille zur Veränderung des Systems muss schon vorher da sein. Er kann sich Bahn brechen, ohne eine Utopie zu benötigen. Umgekehrt ist aber eine Utopie auf diesen Wunsch nach Veränderung angewiesen, um eine Chance auf Realisierung zu haben.
    Es ist eben nicht so, dass z.B. demokratische Strukturen im antiken Griechenland dadurch entstanden, dass sich die Philosophen am Barte kraulten und meinten: „Lasst uns unser Staatswesen einmal auf eine neue legitimatorische Grundlage stellen“. Nein, Demokratie entstand hier, weil die Bürger Athens es satt hatten, ohne Mitspracherechte für die Kriege des Adels den Kopf hinzuhalten. Man stritt sich, man einigte sich und am Ende stand die Athener Demokratie. Ganz ohne Utopie. (Aber man musste halt den eigenen Kopf hinhalten….)
    Ähnliches sollte sich mit der alten römischen Republik vollziehen. Auch hier hatte man sich von den Königen nicht aufgrund von tiefsinnigen intellektuellen Debatten verabschiedet, sondern aufgrund der Erfahrung, dass Könige schnell zu Tyrannen werden. Das wollte man vermeiden. Die Plebejer erkämpften sich später ihre Mitbestimmungsrechte nach dem altbekannten Prinzip: „Wenn wir unseren Kopf hinhalten sollen, wollen wir auch mitreden“. (Das funktionierte übrigens auch auf Freibeuterschiffen in der Karibik prima) Kurzum: wieder nix mit Utopie.

    Das erste Mal, dass sich der Wunsch nach mehr Mitbestimmung mit dem Wunsch nach der Realisierung einer Utopie eng verband war die Französische Revolution. Was unmittelbar folgte:
    Schreckensherrschaft.

    QED.

  5. Arpe Caspary sagt:

    Ich finde eigentlich, dass Stefan recht hat und leider tatsächlich in der Diskussion des Aufwachen Podcasts viel zu wenig vorkam. Mir schein er kritisiert in erster Linie, die Idee der historischen Lücke, auf die Ulrike Guerot mit einer gewissen Sehnsucht zu warten scheint, wenn Sie diese nicht sogar befördern möchte. Da wiesen dann Stefan zusammen mit Albrecht von Lucke darauf hin, dass Lücken, die groß genug sind, um solche Utopien aufzunehmen, in der Regel durch historische Katastrophen entstehen. Es geht hier ja nicht nur einfach um ein paar Reformen also einen Prozess an den sich das Bewusstsein der Betreffenden langsam und über mehrere Generation gewöhnen kann, sondern um eine völlig neue Struktur für Europa, die es so in der eher kleinteiligen und von verschiedensten miteinander streitenden Kultur- und Sprachräumen nie gab. Was Europa dagegen war, kann man großartig in Brendan Simms Buch “Kampf um Vorherrschaft. Eine deutsche Geschichte Europas” in dem Vorwort an die deutschen Leser nachlesen. Dazu muss man sich das Buch nicht mal kaufen, sondern nur den Auszug aus z.B. dem iBooksstore herunterladen.

  6. Arpe Caspary sagt:

    Für den systemtheoretische interessierten Stefan Schulz gibt es einige sehr interessante Äußerungen von Luhmann zum Thema »Katastrophen« und »Entwicklung/Evolution« aus einem Interview. Der Begriff der Evolution wird bei Luhmann als Gegenbegriff zu traditionellen kausalen Entwicklungsmodellen oder Geschichtsphilosophien gedacht. Evolution ist keine Prozesstheorie, sondern eine Theorie unwahrscheinlicher Strukturveränderungen. Die Attraktivität von Evolutionstheorie für Systemtheorie liegt genau in dieser diskontinuierlichen Veränderung begründet, denn eine Variation oder Mutation, die dann durch Selektion ausgewählt wird, ist ein genetischer Kopierfehler, eine Überraschung und damit ein unwahrscheinliches Ereignis, das sich entweder durchsetzt und stabilisiert oder wieder verschwindet. Das Modell von Entwicklung, welches der Systemtheorie so vorschwebt, ist ebenfalls ein eher diskontinuierliches Modell. Interessant ist darüber hinaus auch, dass Systemtheorie in ihrer Theorieanlage versucht „nicht zwischen statischen und dynamischen Modellen hin und herzupendeln wie in der Tradition, sondern die Systemtheorie so zu bauen, dass die Evolutionsfähigkeit von Systemen in die Systemtheorie schon eingeschlossen ist […]. Also eine Theorie, die auf Variation, Variationsempfindlichkeit, Irritabilität sozusagen, Selektion und dann Stabilisierung und neuer Variation aufgebaut ist.“ . Das, wofür Luhmann sich hier interessiert, ist nicht eine prozesshafte Entwicklung, sondern die Reaktion auf den Einbruch des Unwahrscheinlichen, also die „Normalisierung des Unwahrscheinlichen“.

    Hierzu einige interessante Bemerkungen aus einem Interview von Andreas Otteneder und Hermann Schubert mit Niklas Luhmann (1994):
    „speak: Können Sie zum Abschluss einige Prognosen für kommende Entwicklungen von Gesellschaften versuchen?
    Niklas Luhmann: Nein. Eigentlich nicht. Ich nehme an, dass in vielen Bereichen und zwar in der Ökonomie und in der Politik die Situation prekärer wird. Und das heißt auch: abhängiger von Zufällen. Von einem Zufall wie Gorbatchow, von einzelnen Personen. Oder von einzelnen Ereignissen wie Tschernobyl oder was immer.
    Ich glaube es gibt keine Entwicklungslogik, die Trends auszeichnet, sondern eher ein Überdrehen der Normalisierung von an sich unwahrscheinlichen Instabilitäten, die dann von Zufällen abhängen. Und zugleich hohe Kapazitäten des Ausgleichs. Also einen solchen Crash wie 1929 werden wir so nicht wieder haben. Aber dafür vielleicht ganz andere Formen. Eher würde ich meinen, dass das Unvorhersehbare vorauszuse-hen ist und die Frage wie man also Ressourcen des Abfangens von Katastrophen, wenn man das Katastrophen nennen will, wie man das behandelt, wie man das organisatorisch zur Verfügung stellen kann, ist eines der Probleme.
    speak: Glauben Sie, dass die Menschheit mit der Instabilität zurecht kommt?
    Niklas Luhmann: Ja was sollte sie denn sonst tun?
    speak: Die Gefahrenpotentiale könnten nicht mehr zu bewältigen sein?
    Niklas Luhmann: Eine solche Frage hat nur Sinn, wenn man sich vorstellen könnte, es könnte irgendetwas anderes geschehen außer Katastrophen. Und ich wüsste nicht, was anderes geschehen könnte als das, was sich so abzeichnet an ökonomischer Konzentration, an juristischem raschen Umschlag von Formeln und Begründungen, an politischer Instabilität, die aber über Wahlen im Moment noch abgefangen werden kann.
    Aber ich halte mich eigentlich in Bezug auf Prognosen zurück.
    Die Soziologie hat Entwicklungen nicht vorausgesehen. Weder die Jugendbewegung in den sechziger Jahren, überhaupt die Entstehung der neuen sozialen Bewegungen, noch den Zusammenbruch des Ostregimes. Also die wichtigen Dinge kamen überraschend, und das ist vielleicht weniger eine Frage mangelnder Kompetenz der Forscher, sondern eine Frage der Struktur der Gesellschaft. Wir müssen überraschende Strukturänderungen verkraften, die durch Zufälle ausgelöst sind.“
    Verkraften heißt natürlich nicht sie befördern oder ersehenen, aber eben auf das Unvermeidliche vorbereitet sein. Luhmann ist kein Revolutionsromantiker, aber in dieser Hinsicht würde er Ulrike Guérot mit ihrer Idee der historischen Lücke vielleicht doch Recht geben. Es war ja auch bei der Wiedervereinigung so, dass die meisten Bürger der alten Bundesrepublik in keiner Weise mehr mit einer Wiedervereinigung rechneten, dass jedoch einige Wenige (wahrscheinlich mehr in der CDU und FDP als bei der SPD oder den Grünen) weiterhin an dieser Idee festgehalten haben und dann im Moment der historischen Lücke – Kohl und Genscher und in geringerem Maße auch Brandt, der kein Amt mehr hatte – aus tiefer Kenntnis der Geschichte und besten persönlichen Beziehungen mit Politikern der vier Mächte, die Geschichte am Schopf ergriffen und in eine Richtung lenkten, die zu einem wiedervereinigten Deutschland führte. Das Problem bei Guérot ist aber wahrscheinlich, dass sie sich viel zu wenig mit den tieferen Linien der europäischen Geschichte und mit Tiefenstrukturen von kulturellen und politischen Stimmungen vertraut gemacht hat und ihr Entwurf in einem schlechten Sinne „utopisch“, nämlich „unrealistisch“ ist.
    Lieber Stephan, Du hast einmal einen Dokumentarfilm über Kohl erwähnt, wo zwischen der äußeren bewusste gepflegten Imago von einem volkstümlichen Kohl, der gerne Saumagen verspeist und dem lesewütigen Intellektuellen unterschieden wurde. Kannst Du mir nochmals den Titel schreiben, das würde ich mir gerne einmal ansehen.

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