Wenn Regeln eingeführt werden, dann sollen sie meistens Klarheit schaffen: Kommunikationsregeln für Mitarbeitende im Außendienst sollen die Außendarstellung vereinheitlichen; Kernarbeitszeiten Erreichbarkeit gewährleisten; Verfahrensregeln klarstellen, welche Schritte die Mitarbeitenden im Bürgeramt bei der Erstellung eines Personalausweises beachten müssen. Doch nicht immer schaffen Regeln die erhoffte Klarheit. Im Gegenteil können sie sogar zu neuer Unklarheit führen. Dass 1400-seitige Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich stellt zwar vieles klar, ist für den rechtlichen Laien aber nur schwer nachzuvollziehen.[1] Dort wo Regeln nicht mehr überschaubar werden, entsteht, so meine These, Regellosigkeit. Das erscheint Paradox, wie sollen Regeln, die das Ziel haben Klarheit und Eindeutigkeit herzustellen, Regellosigkeit schaffen?
Regeln können nur dann ihre Wirkung entfalten, wenn sie auch bekannt sind. Je mehr Regeln existieren, desto wahrscheinlicher ist es, dass einige unbeachtet bleiben. Das muss nicht per se schlecht sein. Im Gegenteil, nach Abwägung der Situation kann die bewusste Regelüberschreitung genau richtig sein, da sie das Arbeiten voranbringt: kollegiale Verständigung hat schon manch eine Information deutlich schneller verschafft als der reguläre Dienstweg. Solch praktikable Lösungen kennen wahrscheinlich die meisten, sie werden geduldet, weil sie der Organisation nützen. Luhmann hat das mit der „brauchbaren Illegalität“[2] umschrieben. Doch nicht nur in der Theorie lässt sich diese Beobachtung finden, schon die Alltagsweisheit: „wo kein Kläger, da kein Richter“ hebt die Erfahrung hervor, dass Regeln und Wirklichkeit häufig nicht zusammenpassen. Doch wenn Regelüberschreitungen nicht grundsätzlich schlecht sind und Regeln selten eins zu eins umgesetzt werden, was ist dann mit der Regellosigkeit gemeint?
Die Form der Regellosigkeit, die hier gemeint ist, unterscheidet sich von dieser brauchbaren Illegalität erheblich. Sie beschreibt einen Zustand, in der die vielen Regeln das Arbeiten unübersichtlich werden lassen. In der nicht praktikabel an den Regeln vorbeigearbeitet wird, sondern die Orientierung beim Arbeiten grundsätzlich fehlt. Die Verregelung erschwert es so, sich zurechtzufinden. Gerade neue Mitarbeitende brauchen dann lange, um zu verstehen, was genau von ihnen verlang wird. Trotz der vielen Regeln geht die gemeinsame Arbeitsgrundlage verloren, weil es keine einheitliche Vorstellung gibt und nur ein Teil der Regeln bekannt ist.
Genau dieses Phänomen der durch Regeln entstehenden Regellosigkeit lässt sich bei dem Managementkonzept Holakratie beobachten. Die Holakratie kennt viele Regeln. Die Mitarbeitenden führen verschiedene detailliert definierte Rollen aus. Der Ablauf holakratischer Meetings ist klar vorgegeben. Es gibt Regeln darüber, wer, wann, wie etwas sagen darf. Im besten Falle sprechen sich die Mitarbeitenden nicht mit Vornamen, sondern mit den Namen der ausgeübten Rolle an. Mit diesem Ansprechen soll klar werden, wer für was Zuständig ist, um eine effiziente Arbeit zu gewährleisten. Die holakratische Annahme lautet: wo wenig ungeregelt, dem Zufall oder dem eigenen Ermessen der Mitarbeitenden überlassen bleibt, bringt die neue gewonnene Klarheit, Effizienz und Anpassungsfähigkeit. Bei der Beobachtung holakratischer Organisationen stellt sich allerdings die Frage, ob damit nicht über das eigentliche Ziel hinausgeschossen wurde. Die holakratische Verfassung hat fast 30 Seiten, dazu kommen die Vielzahl an individuellen Regeln, die sich die Kreise geben. Der Einstieg in eine holakratische Organisation ist für viele neue Mitarbeiter erstmal die pure Überforderung. Zwar gehört in vielen Organisationen die Fortbildung, gerade auch für neue Mitglieder fest dazu, bis zur Verinnerlichung ist es aber ein weiter Weg. Bis dahin sind neue Mitarbeiter*innen erschlagen und überfordert. Die Einführung der Holakratie stellt deswegen auch ein besonderes Nadelöhr da, bei dem besonders viele Mitglieder die Organisation verlassen.
Damit sich die Mitarbeitenden in der Holakratie beteiligen können, ist die Kenntnis der holakratischen Verfahren zwingend erforderlich. Darin unterscheidet sich die Holakratie zu anderen Organisationen mit vielen Regeln. Die Bundeswehr zum Beispiel besitzt auch lange Rechtskataloge und hat eigene Schiedsgerichte, die nur dafür da sind, über die korrekte Auslegung der Regeln entscheiden. Doch im Alltag einer Einheit spielen diese kaum eine Rolle. Für die Gruppenbildung ist die informale Struktur sogar förderlich. Auch in ehrenamtlichen Vereinen kennen bei weiten nicht alle Mitglieder die Satzung und doch ist das häufig kein Hindernis, sich im Verein einzubringen. Die Besonderheit der Holakratie ist es, dass die Regeln nicht nur da sind, um im Streitfall zu entscheiden, sondern dass sie das tägliche Arbeiten bestimmen. Wer nicht weiß, wer in dem Meeting wann, was sagen darf, kann sich nur schlecht Beteiligen oder wird gar zurückgepfiffen, weil noch nicht der richtige Zeitpunkt zu Sprechen gekommen ist.
Es lassen sich zwei unterschiedliche Arten holakratischer Organisationen ausmachen. Diejenigen, die besonders streng auf die Umsetzung der Regeln pochen und diejenigen, die sich nur das herauspicken, was gerade brauchbar erscheint. Konzentrieren möchte ich mich auf den zweiten Fall. Ironischerweise führen hier die vielen Regeln der Holakratie zu ihrem Gegenteil: dem Aufweichen der Regeln. Die Vielzahl an Regeln kann nicht mehr überblickt werden, deshalb werden die einzelnen Regeln nicht mehr als so wichtig erachtet. Es bilden sich neue Wege der informalen Organisation, die aber nicht mehr thematisiert werden können, da das holakratische Organisationsverständnis den Eindruck vermittelt, mit den selbstauferlegten Regeln wäre die Organisation vollständig beschrieben.
Die Funktion der Regeln
Um die Folgen der Regellosigkeit nachzuvollziehen, hilft es sich nochmal die Funktion der Regeln vor Augen zu führen. In ihrem einflussreichen Aufsatz the tyranny of structurelessness über Aktionsgruppen der feministischen Bewegung in den 70er Jahren arbeitet Jo Freeman die Folgen der Formallosigkeit prägnant heraus. In Gruppen ohne Formalstruktur bilden sich „Eliten“: einzelne herausstechende Mitglieder, die besonders viel zu sagen und zu entscheiden haben. Die Mitglieder kümmern sich mehr um sich selbst als um ihre Aufgabe.[3] Regeln ermöglichen für Freeman bessere Beteiligungschancen, die Verteilung von Aufgaben und Macht, schaffen Verantwortlichkeit, damit auch Thematisierbarkeit und Ansprechbarkeit der Personen. In allen Fällen sind die Regeln dazu da, Macht zu beschränken und sie thematisierbar zu machen.
Eine etwas andere Perspektive nimmt Niklas Luhmann ein, der die Stabilität der Organisation und das „Systemvertrauen“[4] hervorhebt. Das entsteht durch die Generalisierung der Formalordnung. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die holakratischen Regeln unabhängig von der Abteilung, der Zeit oder der Person gelten. Dabei ist es nicht so wichtig, ob im Einzelnen die Formalordnung begrüßt wird oder nicht. Allein die Unterstellung, dass alle anderen sie akzeptieren, schafft den Druck sie selbst akzeptieren zu müssen. Diese Form der Gültigkeit erlaubt es der Organisation zu vertrauen, auch wenn ich nicht direkt nachdem erledigen der Tätigkeiten entlohnt werde.
Noch ein weiterer Punkt ist für Luhmann zentral, wer gegen eine Regel verstößt, der stellt seine eigene Mitgliedschaft in Frage. Das heißt, wer die Formalordnung einer Organisation nicht akzeptiert, sie sabotiert, unterläuft, Rollen und Zuständigkeiten überschreitet, Meetingregeln missachtet, der stellt durch sein Verhalten nicht nur die einzelne Regel infrage, sondern das ganze System – das kann eine Kündigung rechtfertigen. Die Kündigung ist dabei nur die letzte Konsequenz, viel entscheidender ist die immerwährende Möglichkeit, bei Regelbruch entlassen zu werden. Die allgegenwärtige Drohung, für regelverletzendes Verhalten zur Rechenschaft gezogen zu werden, führt dazu, dass die Regeln eingehalten werden.
Alle drei Funktionen: die Thematisierbarkeit von Macht, das Systemvertrauen und die Möglichkeit der Kündigung gehen verloren, wenn die Vielzahl der Regeln undurchschaubar werden. Es muss in irgendeiner Weise ein gemeinsames Verständnis der Regeln geben, dass bei Verletzung notfalls auch eingefordert wird. Nochmal möchte ich betonen, die Holakratie unterscheidet sich hier von anderen stark formalisierten Organisationen. Ohne das Wissen um die holakratischen Handlungsabläufe, ist das Arbeiten selbst kaum möglich. Insofern ist ein gemeinsames Verständnis der Regeln entscheidend. Wo das nicht der Fall ist, schleicht sich eine kaum thematisierbare informale Organisationspraxis ein, die nach ihren eigenen Regeln funktioniert.
Unbekannte Hierarchie
Die Holakratie löst zwar die Hierarchie nicht vollständig auf. Es gibt nach wie vor Lead Links, die eine herausgehobene Stellung in den einzelnen Kreisen haben, aber die Holakratie verändert die Hierarchie doch grundlegend. Es gibt keine klare Über- und Unterordnung, stattdessen viel häufiger ein nebeneinander, verschiedene Rollen sind an unterschiedlichen Stellen der Organisationen in Kreisen gebündelt. In vielen Organisationen lässt sich beobachten, wie die Mitglieder versuchen, möglichst viele Rollen anzuhäufen, auch dann, wenn sie ihnen zeitlich kaum gerecht werden können, nur um ihre Wichtigkeit zu unterstreichen. Diese Hierachieveränderung hat aber auch die Folge, dass tatsächlich machtvolle Personen, weniger angreifbar werden. Einfluss zeigt sich hier nicht an einer besonderen Position, sondern daran, wer in den Meetings Fragen stellt, Lösungsvorschläge präsentieren kann, moderiert oder wie oft und wie lange spricht. Vor allem die Gründer*innen und die Personen, die die Unternehmensanteile besitzen, sind kaum angreifbar. Häufig treffen sie weiterhin die wichtigsten Entscheidungen, rühmen sich der Selbstorganisation, ohne aber, dass sie selbst „Chefs“ sind und dementsprechend behandelt werden können. Wo offiziell keine Chefposition ist, da kann auch nicht auf Managementfehler hingewiesen werden.
Unauflösbare Konflikte
Wo Menschen zusammenarbeiten, gibt es Konflikte. Überhaupt ist der Austausch in Organisationen alles andere als nur ein friedvolles gemeinsames Zusammenarbeiten. Wo Konflikte des Zusammenarbeitens entstehen, hilft die Formalordnung, sie zu schlichten. Als letzte Instanz kann sie im Konfliktfall eine eindeutige Entscheidung fällen. Doch hier lässt sich bei einigen holakratischen Organisationen (gerade bei kleineren) feststellen, dort wo die holakratischen Regeln nicht bekannt sind, entsteht neben der informalen Hierarchie ein Machtvakuum. Es gibt keinen Konsens, auf den sich bei Unklarheiten berufen werden kann. So fällt die Funktion der Streitschlichtung der Formalordnung weg – weil sie unbekannt ist oder nicht eingefordert wird.
Entsprechend muss das tägliche Arbeiten ungleich stärker ausgehandelt werden, dabei entstehen Konflikte. Diese treten besonders stark hervor, sobald Mitarbeitende unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie sie Dinge am besten erledigen. Dann variiert nicht nur das Verständnis vom täglichen Arbeiten von Person zu Person, sondern auch die Gestaltung der holakratischen Kreise. Betroffen sind Führungsstil, die Freiheiten, die den einzelnen Kreismitgliedern zugestanden wird, die Art des Meetings, die Form der Kommunikation, das Konfliktverhalten und die Atmosphäre.
Das kann bis zu einem regelrechten Rückzug ins Private führen, bei dem die einzelnen Mitarbeitenden möglichst wenig mit ihren Kolleg*innen zu tun haben wollen, da jedes Zusammentreffen neuen Streit bedeuten könnte. Gemeinsame Aktivitäten werden nicht wahrgenommen und der Wechsel ins HomeOffice entpuppt sich, aufgrund der wenigen kollegialen Gespräche, für das Arbeitsklima als förderlich. Die auf das nötigste beschränkte Kommunikation schützt so vor dem Auffliegen der unterschiedlichen Wissensbestände und erhält die Fiktion eine geteilten Organisationsvorstellung aufrecht. Das hört sich alltagsfremder an als es ist. Aus diversen Small-Talk-Ratgebern können wir lernen, dass für das erste oberflächliche Gespräch, Politik und Religion schlechte Themen sind. In dem sie ausgespart werden, ist es leichter die Vorstellung aufrechtzuerhalten, die Gesprächspartner*innen würden die gleichen Ansichten teilen.
Wo zu viele Regeln, neue Regellosigkeit produzieren, entsteht beim täglichen Arbeiten Unsicherheit und Frust. Machtquellen können ebenso schlecht thematisiert werden, wie Machtvakuen mit einheitlichen Vorstellungen gefüllt werden können. Das Arbeiten in der Regellosigkeit schafft Konflikte. Verstärkt wird diese Tendenz vom Anspruch der Holakratie, dass es keine Informalität, also Handeln neben der Formalstruktur gibt. Dabei ist grundfalsch zu behaupten: die Formalstruktur sei die Organisation. In jeder Organisation bilden sich informale Pfade, problematisch sind diese nur, wenn diese grundsätzlich nicht thematisierbar sind und bei den Mitarbeitenden das Gefühl von Frust entsteht. So zeigt die Holakratie lehrbuchhaft, wie komplex das gemeinsame Arbeiten in Organisationen ist, aber auch, dass ein immer Mehr an Regeln sich am Ende gegen die Regel selbst richten kann.
[1] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:22020A1231(01)&from=EN
[2] Luhmann, N. (1964). Funktionen und folgen formaler organisation (Vol. 20). Berlin: Duncker & Humblot, 304ff.
[3] Freeman, J. (1972). The tyranny of structurelessness. Berkeley Journal of Sociology, 151-164.
[4] Luhmann, N. (1964). Funktionen und folgen formaler organisation (Vol. 20). Berlin: Duncker & Humblot, 72ff.