Es folgen wenige Erklärungen, ein paar Verwunderungen, einige Fragen, alles in der Absicht zu verstehen, warum sich nichts verstehen lässt, obwohl es das Ziel sein muss. Alles so wirr erzählt, wie es der Gesellschaft angemessen ist.
Zu Beginn ein Ausflug nach Weißrussland, von dort berichten die Zeitungen Sagenhaftes. Mit dem Wunsch nach Demokratie gehen Menschen dort auf die Straße, um zu demonstrieren. Doch sie sagen dazu nichts, geben sich nicht durch Protestnoten zu erkennen, tragen keine Transparente. Die gängigen Erklärungen verweisen auf die individuelle Angst. Wer erkannt wird, wird mitgenommen. Auch die Staatsmacht nimmt ohne Uniform teil. Doch es gilt wohl auch Folgendes: Es wissen schon alle Bescheid, es gibt nichts dazu zu sagen. Die Präsenz der Einzelnen ist die politische Aussage der Masse.
Das ist aus vielerlei Richtungen phänomenal. Für Soziologen, weil Kommunikationstheorien Probleme bekommen, wenn die Kommunikation darin besteht, nicht zu kommunizieren (zumindest nicht mit Sprache und Schrift). Für die Politik, weil Repräsentations- und Partizipationsprinzipien dort jeder politischen Handbuchpraxis widersprechen – gerade was Widerstand und Protest betrifft. Für die Journalisten, weil niemand der Teilnehmer erklärt, was es zu verstehen gibt.
Und trotzdem wissen wir ziemlich gut, was dort passiert. Wir können es beinah physisch mitvollziehen, wenn wir die Berichte lesen. Das Verhalten der Einzelnen muss nicht erklärt werden, Beschreibungen reichen. Wir wundern uns und versuchen zu verstehen. Erklärungen würden die Logik des Phänomens vielleicht sogar zerstören oder zumindest ausfransen lassen. Wir wissen was eine Demokratiebewegung ist, wir kennen die Berichte über Alexander Lukaschenko – es sind keine weiteren Erklärungen notwendig.
Und jetzt die steile These: Genau das gilt für alles! Warum lesen Sie diesen Text? Warum schreibe ich ihn? Warum begegnen wir uns durch ihn zu diesem Thema? Wir wissen es nicht. Und Erklärungen zu unserem Verhalten, womöglich noch von uns selber, würden daran kaum etwas ändern.
Google gründet in Berlin ein „Institut für Internet und Gesellschaft“. Was gibt es da zu erklären? Philip Banse hat dieses Google-Ereignis genutzt, um uns seine Meinung darzulegen: Google hat ein zeitlich begrenzt (und dazu eigentlich unter-)finanziertes Institut gegründet, liegt der „deutschen Wissenschaftsgemeinde“ damit aber weit voraus, weil sie derzeit zum Thema Internet versagt. Frank Rieger argumentiert etwas sachter und informierter, geht aber in dieselbe Richtung: Google hat gelernt, nicht nur als Marktteilnehmer aufzutreten, sondern auch gesellschaftlich eine Rolle zu spielen. Die wissenschaftliche Rolle bot sich an.
Man kann es so erklären. Man könnte auf der Ebene dann Erklärungen anschließen. Weshalb Google in der Wissenschaft und nicht als unverzichtbarer Kultursponsor auftritt. Man könnte erklären, warum ein relativ abgeschlossenes Institut gewählt wurde und keine verteilten Stiftungsprofessuren oder Sonderforschungsbereiche mit Lehreanteil. Auch die Frage, nach dem Standort ist natürlich ein paar Erklärungen wert. Man könnte weiter Erklären: Googles Weltmachtstellung, wissenschaftliche Institute als politische Einflussgröße, Berlin als auserwählter Standort.
Diese Erklärungen findet man jetzt auch zuhauf. Deshalb geht es hier nur indirekt mit Erklärungen weiter. Es sollen ein paar Wunder und Verwunderungen expliziert werden, die ebenso drängend sind.
Verwunderungen #1
Bei Google arbeiten wohl die klügsten Menschen und sie verdienen so viel Geld, wie nirgends sonst verdient wird. Doch das Geschäftsmodell besteht allein darin, die Aufmerksamkeit der Internetbenutzer zu verkaufen. Man kann für ein Googlemailkonto pro Jahr 50 Euro zahlen, dafür erhält man die Garantie, dass es immer online ist. Mehr gibt es nicht direkt zu kaufen. Die Ausgaben in der Milliardensphäre für Servertechnologie und –technik, für Satellitenbilder und Energie werden nicht direkt gegenfinanziert. Alles läuft über einen großen Topf, der mit dem Ertrag verkaufter Aufmerksamkeit gefüllt wird. Zwar kann sich Google wohl besser als das Privatfernsehen darüber informieren, was aufmerksamkeitsträchtig ist – doch das zugrunde liegende Prinzip stellt eine bemerkenswerte, neue und unverstandene Art der (innerorganisationalen) Trennung von Kapital und Arbeit dar.
Man muss sich auch darüber wundern, dass Google immer als Zentralmacht dargestellt wird, während die Firma selbst bedeutend mehr im Nebel stochert, als es die Darstellungen erahnen lassen. Dass Google das „socialweb“ nicht im Griff hat, war bis vor zwei Wochen noch Konsens. Jetzt gilt Google+ plötzlich als der Facebook-Killer, als hätte man sich kurzfristig in der Googlezentrale dazu entschieden. Dass Google sich nicht nur vom Publikum, sondern auch von seinen eigenen Mitarbeitern ständig überraschen lässt („20%-Regel“), wird schon gar nicht mehr erwähnt. Google ist sicherlich eine einflussreiche Organisation, Gesellschaften gezielt steuern kann sie jedoch wie jede andere Institution: gar nicht.
Google hat mal behauptet, Börsenkurse voraussagen zu können. Man hat sich aber dagegen entschieden, dies Fähigkeit zu nutzen – aus ethischen Gründen. Darüber wundere ich mich und schwenke kurz ab in Erklärungen. Das Prognostizieren von Börsenkursen ist schon längst aus der Mode. Es geht aktuell eher darum, tatsächliche Kursbewegungen (in beide Richtungen) vor der Konkurrenz zu wissen. (Das Wissensproblem ist also ein getarntes Zeitproblem.)
Und um diesen Unterschied von 15 und 5 Millisekunden nutzen zu können, benötigt es einen erheblichen Aufwand, wie ihn nur Organisationen erbringen können. Die Serverstandplätze, die „Script-Designer“, die Technik, das muss alles nicht nur finanziert werden. Auch die Organisationsstrukturen müssen zu ihrer Umwelt passen und auf Befehl sensibilisierbar oder gar direkt änderbar sein.
Genau das gilt auch, wenn man das „socialweb“ revolutionieren will. Die gute Idee zählt fast nichts. Man muss sie umsetzen können. Niemand außer Google konnte Facebook was anhaben. Und niemand kann Google was anhaben. Mit Google+ ist das „socialweb“ am Ende seiner Geschichte angekommen. Da ändern auch eine Million engagierte Blogger oder kluge Garagentüftler nichts mehr dran.
Was an dieser Stelle für tragfähige Erklärungen fehlt, ist eine umfangreiche Organisationsforschung. (Und das Forschungsobjekt ist nicht nur Google, sondern ganz allgemein die Organisation der heutigen Gesellschaft.)
Verwunderung #2
Wieso geht man beim Thematisieren des Internets eigentlich so häufig von einem Unterschied zwischen Internet und Gesellschaft aus (der nicht als System/Umwelt-Unterscheidung angelegt ist)? Ist das Internet nur ein Regulator der für sich dahinoperierenden Gesellschaft? Wenn Philip Banse sagt: „Der Plan ist, andere Geldgeber ins Boot zu holen, damit die Internet-Forscher irgendwann auch ohne Stütze vom Google forschen können.“ Was stellt er sich unter „Internet-Forscher“ vor? Die Institutsgründer sind Juristen, Politologen und Ökonomen, machen die statt Jura/PoWi/VWL jetzt Internet-Forschung? „Das Internet“ zu erforschen hat allenfalls naturwissenschaftlich-technische Attraktivität. Gesellschaftsforschung sollte Gesellschaftsforschung bleiben und nicht abdriften in Teilthemen. Es ist jedenfalls nur eine Privatmeinung, das Internet so wichtig zu finden wie „die Luft zum Atmen“. Ein interdisziplinäres „Institut für Luft und Gesellschaft“ rechtfertigt das nicht.
So wie der Europaausschuss des Bundestags aufgelöst wurde, weil jeder Ausschuss mittlerweile einen eigenen Europa-Unterausschuss hat, gehört auch die Internetforschung in die sozialwissenschaftlichen Spartenforschungen aufgelöst. Die Politikwissenschaft, die Ökonomie, die Soziologie und viele weitere sind beauftragt „Internet-Forschung“ zu betreiben. Und oh Wunder, genau das machen sie auch.
Dass die investierten Millionenbeträge in Forschungsbereiche und Studiengänge aber nicht beachtet werden, dafür die 4,5 Millionen Peanuts-Google-Euro ihre riesige Aufmerksamkeit bekommen, ist das Problem derer, die die Welt nur durch die Massenmedien beobachten und immer für eine kollektive Erregung zu haben sind. (Das verwundert eigentlich nicht, ist hier aber trotzdem erwähnt.)
Verwunderung #3
Frank Rieger schreibt: „Mit wenig Geld ist hier ein subtiler, aber nachhaltiger Einfluss auf politische und gesellschaftliche Denk- und Entscheidungsprozesse zu gewinnen, die auch für die Zukunft des Konzerns höchst relevant sind.“ Gesellschaftliche Denk- und Entscheidungsprozesse interessieren sich für gewöhnlich kaum für wissenschaftliches Wissen. Die Forscher am Institut für Internet und Gesellschaft haben an dieser Stelle ein zusätzliches Problem zu bewältigen. Umso offensiver sie mit eigenen Erkenntnissen werben, desto mehr stempeln sie sich mit dem Google-Logo ins wissenschaftliche Abseits. Umso subtiler sie ihre Beiträge in die Forschungslandschaft einbringen, desto weniger wird man sich dafür interessieren. Interdisziplinäre Forschung ist noch immer ein waghalsiger Traum, den man in Deutschland nach dem morgendlichen Aufwachen vergisst. Ohne massenmedialtaugliche Figuren wird solch ein Institut nichts erreichen. Zumindest nichts Wissenschaftliches. (Sie stellt aber natürlich für die Politik eine interessante Adresse dar. Welche Folgen das aber hat, kann auch nicht gesagt werden.)
Verwunderung #4
Die abschließende Verwunderung zielt wieder auf die Erklärungen. Eine These zur „nächsten Gesellschaft“ könnte wie folgt lauten: In einer entfesselten und haltlosen Gesellschaft sind alle Erklärungen Erklärungen von gestern. Das benötigte Minimum an Orientierung wird allein über ungelöste aber gemeinsam geteilte Fragestellungen ermöglicht. Nach dem Vertrag und dem Konflikt, ruht die anschließende Gesellschaft auf dem Modell der gemeinsamen Probleme.
Interessanterweise ist mit einer guten Fragestellung heute noch nichts zu gewinnen. Noch immer wirken die Erklärungen. Und wenn sie dumm, unnütz und überholt sind, ist das egal, solange es Erklärungen sind. Das verwundert, da Erklärungen inhaltlich immer kürzer gelten und überhaupt an Reichweite abnehmen – und das auch faktischen Leidensdruck verursacht.
Wunder #1
Die beschriebenen Verwunderungen lassen sich an dieser Stelle zusammenführen. Google ist nicht auf der Suche nach Erkenntnis und Erklärung, jedenfalls nicht substanziell. Sie wollen wissen, welche Probleme in Zukunft zu bewältigen sind und welche Fragestellungen es sich heute schon lohnt zu ermitteln. Googles Geschäftsmodell besteht schließlich darin, in Resonanz mit der Gesellschaft zu sein wie sonst niemand. Dafür brauchen sie Forscher, die ihren Kopf benutzen. Nur das erregte Publikum kümmert sich jetzt um die Frage der wissenschaftlichen Unabhängigkeit, als ob das Institut demnächst mit Studien aufwartet, die darstellen, dass am Bildschirmlesen besser ist als Papierlesen oder, dass Streetview gesund ist, weil man seinen Arzt im Notfall schneller findet. Google ist sicherlich kaum an derartigen Alibi- und Propagandaerklärungen, dafür aber an künftigen Fragen und Problemstellungen interessiert. Und ist darin als Organisation der Gesellschaft schon weit voraus.
Google sucht Fragen, die natürlich auch darauf abzielen die eigenen Produkte besser zu machen, aber eben Fragen, die überhaupt erstmal verstehen lassen, welche Korridore sich aufzeigen, um überhaupt irgendetwas Konstruktives zu tun.
Google ist damit ein interessanter Phänotyp des aktuellen sozialen Wandels. Und wenn man folgende Etappen des kollektiven Erkenntnisprozesses unterstellt: Erklären, Wundern, Fragen, Verstehen könnte man sagen, sie sind der gesellschaftlichen Gegenwart schon enteilt. Noch erklärt heute jeder ständig irgendetwas, doch es interessiert schon immer weniger, selbst Dissertationen verlieren gerade rapide an Erklärungskraft (man erfährt ja beispielsweise eindrücklich, dass sie überhaupt nicht gelesen werden).
Erklärungen sind nicht mehr interessant. Und man beginnt unterdessen, sich zu wundern. Zum Beispiel darüber, dass Weblogs und Podcasts fast nichts mit Zeitungen und Fernsehen zu tun haben – obwohl sie sich doch auf den ersten Blick so ähnelten. Oder darüber, dass die Musikindustrie mehr Geld verdient als früher, obwohl der Anteil konsumfinanzierter Musik im Musikvertrieb stetig sinkt. Man wundert sich darüber, dass plötzlich deutschlandweit ein umgefallener Blumenkübel thematisiert wird, die größte Hungerkatastrophe Afrikas jedoch unbeobachtet bleibt. Die aktuelle Gesellschaft hält viele Wunder bereit, weil sie beinah keine der erklärten Wünsche beachtet hat.
Die Fragen nach dem Wie? und Warum? werden häufiger gestellt. Die ersten 5-Jahres-Dissertationen werden nun fertig. Institute werden gegründet. Die Politik passt ihre wohlfahrtsstrudelige Themenagenda an, wenn auch noch sehr holprig. Nachdem Unternehmen blitzartig Software gekauft haben, beauftragen sie nun Sozialwissenschaftler um langfristige Wirkungsstudien zu machen oder stutzen ihr Technikarsenal von selbst zurecht.
Nach Erklärungen, Verwunderungen und Fragen bleibt nur das (kollektive) Verstehen ein Problem. Solange sich nicht die „anschließende Gesellschaft“ aus der „nächsten Gesellschaft“ herausevoluiert hat, gibt es keine Kontur, anhand derer sich ein klarer historischer Prozess aufzeigen lässt. Aber es ist schon viel gewonnen, wenn man sich nun auf seine Fundamente besinnt und für alles Weitere offenbleibt. Die Ideologisierung der „Internetgesellschaft“ geht vorüber und nun ist man bereit für praxistaugliche, offene Fragen. Es könnte sein, dass wir morgen trotz Tagesschau-App, Facebook-Party, Wikileaks und Kinox.to zufriedener leben können, weil wir im Chaos wieder die Ruhe finden eine Zeitung zu lesen, den Garten zu machen, einen Urlaub mit Beratung zu planen und ins Kino zu gehen.
Ausgeruht und zufrieden könnten wir uns dann den ganz wichtigen Fragen zuwenden: Warum gibt’s so große Banken? Warum gibt’s keine Spaceshuttles mehr? Warum hungert dieses Kind?
(Bild: Stefan Andrej Shambora)
„Das ist aus vielerlei Richtungen phänomenal. Für Soziologen, weil Kommunikationstheorien Probleme bekommen, wenn die Kommunikation darin besteht, nicht zu kommunizieren (zumindest nicht mit Sprache und Schrift).“
Watzlawick? =)
Gruß
Ja? Ich kann mich mit seinen Überlegungen nicht anfreunden, finde sie auch nicht sehr soziologisch. Aber vielleicht wolltest du damit noch was Weiterführendes sagen?