Das Problem der doppelten Ununterscheidbarkeit
Mit Bezug auf die Landtagswahlen im Frühjahr 2008 liest man in den Kommentierungen von Presse, Politik und Politischer Wissenschaft, die deutsche Parteienlandschaft sei „in Bewegung“ und erlebe einen Strukturwandel. Dabei wird auf die Schwierigkeit verwiesen, Regierungen zu bilden, denen zumindest mittelfristig Stabilität zuzutrauen ist. Die sich aktuell in westdeutschen Parlamenten konsolidierende Fünf-Parteien-Konstellation aus DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, FDP und CDU erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass keine der beiden „großen“ Parteien SPD und CDU als klarer Sieger den Regierungsauftrag für sich reklamieren oder die eine nicht ohne die andere regieren kann. Gründe dafür sind u.a., dass
- der aufgrund einer gemeinsamen Geschichte und inhaltlicher Schnittmengen prädestinierte Koalitionspartner den Einzug in das Parlament verpasst hat,
- die Bildung von Dreier-Koalitionen mit zwei Juniorpartnern ausgeschlossen wird oder
- eine der „kleineren“ gewählten Parteien als nicht ministrabel gilt.
Alternativen sind dann so genannte Große Koalitionen von Sozial- und Christdemokraten (wie z.B. 1966 bis 1999 sowie seit 2005 auf Bundesebene) oder die Inkaufnahme einer Situation, in der Oppositionsparteien issue-spezifisch mitregieren. Ein Beispiel ist die Tolerierung der sachsen-anhaltinischen SPD durch die damalige PDS in den Jahren 1998 bis 2002 („Magdeburger Modell“).
Wenig überraschend liest man in unübersichtlichen Phasen der Regierungsbildung Schlagzeilen wie „Regieren wird immer schwieriger“ (Westfälische Rundschau, 29.2.2008). Bemerkenswerterweise handelt es sich bei diesem konkreten Beitrag nicht um einen Artikel der Redaktion, sondern um einen Leserbrief. Paul Kotzot schlägt vor, man sollte alle fünf in Hessen gewählten Parteien gemeinsam an der Regierungsverantwortung beteiligen. Man könnte meinen, dass er dabei die „Zauberformel“ der Schweiz vor Augen hatte, in der seit den 1950er Jahren eine so genannte Konkordanz aller bundespolitisch aktiven Parteien existiert, d.h. alle „großen“ Parteien regieren faktisch ohne parlamentarische Opposition.
Folgt man dagegen Chantal Mouffe („Über das Politische“, Suhrkamp 2007), geht gerade von Konsensmodellen politischen Entscheidens eine erhebliche Gefahr für die Demokratie aus. In Bezug auf die „Volksmobilisierung“ um nationalpopulistische Parteien wie die FPÖ in Österreich stellt sie dar, dass sowohl die demokratische Linke als auch die demokratische Rechte sich nicht in der Lage sehen, den Kern „des Politischen“ in der modernen Gesellschaft zu erfassen. Dabei handelt es sich um die Unhintergehbarkeit von Grenzziehungen zwischen eigenen und gegnerischen Positionen, über die sich kollektive Identitäten formen. Wenn liberale Demokratien diese Wir-Sie-Unterscheidungen nicht mehr aus sich heraus hervorbringen und in einem geregelten Modus austragen, steigt die Chance, dass nicht-demokratische Bewegungen „Leidenschaften“ von Bevölkerungsgruppen für sich zu nutzen wissen, die in den institutionellen Verfahren keine Anerkennung mehr finden.
Zeigt das Erstarken von Nationalpopulismen an, dass die Demokratie in Europa „in Gefahr“ ist? Ist sie von Ablehnung bedroht, wie sie in anderen Regionen der Weltgesellschaft feststellbar ist bzw. war, wo Opposition unterdrückt wird oder wie in der ehemaligen DDR ohne eigenen Gestaltungsspielraum zugelassen war, um den demokratischen Schein zu wahren?
Meines Erachtens verweisen nationalpopulistische Erfolge auf eine doppelte Ununterscheidbarkeit, die sich in westeuropäischen Demokratien beobachten lässt.
Erstens fehlt es an Unterscheidbarkeit im Spektrum der Parteien, die in den letzten 20 Jahren in wechselnden Konstellationen Regierungsverantwortung getragen haben. Es hat sich eine „Krise der Repräsentation“ eingestellt, wie Michael Vester für die Bundesrepublik Deutschland konstatiert. Keine der konservativen, liberalen, sozialdemokratischen und grünen Führungsgruppen reagiere hinreichend auf die Erfahrungen sozialer Destabilisierung in den großen Volksmilieus. Wenn die Parteien keine plausiblen Gegenwartsentwürfe entwickeln können, wie sollen sie dann Orientierungen für die Zukunft geben?
Zweitens (und eng damit verbunden) wird die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft eingezogen. Wenn im demokratischen politischen System keine Alternativen mehr ihren Niederschlag finden, gibt es auch nichts zu entscheiden, sondern nur zu akklamieren. Zwar wird fortlaufend über Veränderungen entschieden. Es kommt jedoch auf die Zurechnung an. Wird die Veränderung als im Dissens zu anderen Entscheidungsmöglichkeiten „erkämpft“ verstanden? Oder kann man davon ausgehen, dass auch die Opposition vergleichbar entschieden hätte bzw. sogar in einem übergreifenden Kompromiss mit entschieden hat, wie im Fall der Agenda 2010? Im Gegensatz zur Unterschiedslosigkeit des heutigen Politikbetriebs, bei dem Berufspolitiker über einen „Dritten Weg“ (Anthony Giddens) „jenseits von Links und Rechts“ (Ulrich Beck) einer kontinuierlich schrumpfende Mitte nachlaufen, habe z.B. die erste sozialliberale Koalition mit der Regierung Brandt/ Scheel auf kontroverse politische Aussagen gesetzt, meint Micha Hilgers. Aufbruchstimmung sei entstanden, wo alternative Politikansätze überzeugend vorgetragen und mit Glaubwürdigkeit vertreten worden seien. Ausgehend von einer plausiblen Situationsbeschreibung wurde Kontingenz erzeugt („die Zukunft ist anders möglich“) und Orientierung geschaffen („die Zukunft ist folgendermaßen möglich“). Eine „gute“ Idee („Mehr Demokratie wagen“) und das „richtige“ Thema („Ostpolitik“) entfalteten katalytische Wirkung, weil in nahezu einem Schritt positive Gefühle für die Politik freigesetzt und genutzt wurde.
Wesentliche Bedeutung für diese Katalysefähigkeit hat die Einführung von Alternativität: gegen den Status Quo und gegen konkurrierende Meinungen des politischen Gegners. Die Absorption von Emotionalität beruht auf reguliert ausgetragenem Streit, der eine „ungeheure vergesellschaftende Wirkung“ hat, wenn er in Form von Konkurrenz ausgetragen wird, wie Georg Simmel schreibt. Konkurrenzsituationen sind dadurch gekennzeichnet, dass mindestens zwei Parteien um ein „Gut“ streiten, das sich nicht in der Hand des jeweiligen Gegners befindet. In dieser Weise werden die Konkurrenten unhintergehbar an jene Dritten herangedrängt werden, um deren Gunst geworben wird. Übertragen auf die Demokratie handelt es sich bei diesem „Gut“ um die relative oder sogar absolute Mehrheit an Wählerstimmen und der Zustimmung im Lauf einer Legislaturperiode, d.h. um die „Gunst“ des Volkes.
Das Beispiel der Regierung Brandt/ Scheel zeigt, dass die eingeführte Unterscheidbarkeit politischer Positionen eine Bindungsfunktion des Volks an Parteien und darüber an die Demokratie erfüllt. Diese Bindung ergibt sich vielmehr aus relativ zeitstabilen Themen,
- für die es sich zu streiten lohnt
- über die von Parteien signalisiert wird, dass man die Sorgen des Volkes besser als der politische Gegner „verstanden“ habe und
- über die man sich durch „bessere“ Beiträge von seinen Konkurrenten abheben kann.
Werden Unterscheidbarkeiten nicht mehr in der demokratischen Auseinandersetzung von Regierung und Opposition erzeugt und befriedet, steigen die Chancen, dass die Demokratie als Ganze als eine Seite der Unterscheidung aufgefasst wird, die es nationalpopulistisch oder über ähnliche Mobilisierungsstrategien zu bekämpfen gilt. Also ihr demokratischen Parteien: macht selbst den Unterschied!
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