Im Heute leben, aber über gestern reden

Tiere sind alle Autisten. Sie leben einfach vor sich hin, fressen, laufen herum, spielen mit den Gegenständen die ihnen vor ihrer Nase rumkullern und wissen heute nicht was sie morgen tun werden. Sie können nicht wirklich planen, sie sind der Welt zu sehr ausgeliefert, als das sie sich die Natur zum Untertan machen könnten. Sie sind an ihr Schicksal gebunden.

Und das alles nur, weil sie nicht reden können. So klug sie auch sein mögen, sie können sich nicht koordinieren, weil sie sich nicht verstehen. Beim Menschen ist das anders, er muss sich nicht zerfleischen, wenn er sich selbst begegnet – er kann miteinander reden und sich verständigen, z.B. darüber das der Eintritt ins eigene Territorium was kostet. Das hat Vorteile für beide, der eine überlebt und der andere wird reich.

Da Begegnungen dieser Art meist Win-Win Situationen ergeben sind sie so populär geworden, dass sich Menschen im Laufe der Jahrtausende immer häufiger begegneten und sich die Welt absichtsvoll so einrichteten, dass sie sich noch häufiger begegneten.

Irgendwann war sie dann fertig, die schöne neue Welt. Die Globalisierung war ausgereizt und alle Ressourcen angezapft. Die Menschheit hatte sich tatsächlich (wenn auch nicht überall) ihr Walhalla geschaffen. Nicht nur sprichwörtlich: Die gegrillten Hänchen flogen durch die Luft, es gab Ströme aus süßem Wein und die Wiesen waren übersät mit Süßigkeiten, die man sich apriori nicht erträumen konnte.

Doch plötzlich, wurde das Öl wässrig, die Milch teuer und das Plastikspielzeug mit billigem aber giftigem Teer versetzt. Was war geschehen? Eine Katastrophe. Die Ressourcen neigten sich dem Ende, Win-Win wurde zu Win-Loose oder Loose-Loose, Geld gab es nur noch mit negativem Vorzeichen. Angst schlich sich ein, man wurde plötzlich vorsorglich beobachtet, da die Walhallaliferanten ihr Paradies schrumpfen und voller Betrüger sahen. Und die, die als erstes aus dem Paradies vertrieben wurden oder immer nur zuschauen durften begannen es von außen durch Terror zu zerstören.

Und warum? Weil die Ressourcen aufgebraucht sind, die Natur zerstört ist und wir uns unseren jetzigen Lebensstandard nicht mehr leisten können. So die herkömmliche Diktion. Dabei liegt das Problem leicht anders. Der Mensch hat sich eine Welt herbeigeredet, die es einfach nicht gibt. So lange sich alles linear und aufwärts entwickelt scheint es gut zu sein – niemand fragt auf welcher strukturellen Basis das tagesübliche Blabla basiert – aber wehe, es geht bergab. Dann springen alle im Dreieck und werfen Anker, obwohl schon längst kein Boden unter ihren Laberei mehr vorhanden ist, indem sie sich verankern können. Das Gerede der Menschheit hat keine strukturelle Entsprechung mehr.

Und das ist vielleicht der wichtigste Punkt in der Betrachtung. Das Verhältnis von Laberei und struktureller Realität (Semantik und Sozialstruktur, sagen diszipliniertere Schreiber) ergibt sich nicht von selbst, sondern muss selbst durch Kommunikation hergestellt werden und dafür gibt es nur einen Mechanismus: Man Reagiert auf die Gegenwart und schafft Semantikstrukturen, die jetzt, aber nicht mehr morgen, funktionieren.

Beispiele dafür sind u.a.: (1) Jeder souveräne Nationalstaat, der eine Verfassung hat, die intern integriert aber keine Antwort darauf hat, wie man mit einer globalisierten Wirtschaft umgehen kann. (2) Alle Tageszeitungen, in denen Redakteure aufwändig selegieren, was wichtig und unwichtig ist, ihre Auswahl dann auf Papier drucken und am nächsten Morgen verteilen – obwohl die Mehrheit der Menschen schon alles was sie interessiert am Tag davor gelesen hat. (3) Firmen die aufwändig TV-Kabel mit Internet-Anschluss verlegen, obwohl schon heute sowohl digitales TV als auch Internet gefunkt wird. …

Die Welt die wir uns zusammenreden, weil wir es können und weil es entscheidende Vorteile hat, entspricht immer einer Weltstruktur von gestern. Diese Dialektik ist förmlich nicht aufzuhalten. Selbst die klügsten Soziologieprofessoren an unserer Uni staunen darüber, dass Teilnehmer nach Seminaren regelmäßig ihre Handys statt ihre Kommilitonen konsultieren und fragen sich, was das bloß soll. Und die Handyfuzies können auf Nachfrage dazu keine Antwort geben. Das wird erst in zehn Jahren möglich sein – wenn wieder jemand ein Generation XY Buch geschrieben hat, alle mit der angebotenen Semantik des Buches einverstanden sind und es damit sogleich in die Geschichte eingeht.

Luhmann nennt diese Differenz im Übrigen, obwohl er vier Bände über „Gesellschaftsstruktur und Semantik“ geschrieben hat, im ersten Band viel treffender „Historismus“ und „Funktionalismus“. Und mit dieser Wortwahl gewinnt auch der dümmste Antiwitz der Gegenwart ein bisschen Sinn: Warum leckt sich der Hund die Eier? Weil ers kann. Das gleiche gilt für alles andere was die-Jugend-ohne-Geschichtsbewußtsein tut. Warum nutzen sie social networks auf dem Handy? Warum guckt man sich dumme Kurzfilme im Internet an? Warum hackt man fremde Computer? Warum geht man S-Bahn surfen? Warum tauscht man im Internet unbezahlte Musik? Weil es funktioniert! Und weil die Bedingung, dass man eine befriedigende Begründung ins Weltkommunikationsnetz einspeisen kann, keine notwendige ist. Wer darüber reden kann was er tolles macht, lebt zwangsläufig im gestern.

7 Kommentare

  1. Enno Aljets sagt:

    Ich schau auf mein Handy, weil ich keine andere Uhr habe. Häufig wird das (nicht nur von Dozenten) falsch zugerechnet. Sie denken dann, ich würde „chatten“ oder so. Armbanduhren sind aber so yesterday…

  2. Stefan Schulz sagt:

    Naja, du bist da ein Außnahmefall – liegt sicher daran, dass dein Handy einfach nicht mehr kann. ;-) Normalerweise guckt man ja nach SMSn, E-Mails und Anrufen. 1 x die Woche entscheidet sich für mich z.B. erst im Moment des Handychecks wo ich 25min später Mittag esse. Das wäre für den Prof an den ich mich erinnerte absolut undenkbar.

  3. […] (Hier habe ich das Argument übrigens genau anders herum gebaut ;-) […]

  4. Henrik Dosdall sagt:

    Ich denke, man wird im Anschluss an Luhmann sagen können, dass man sowieso keine Zeit zur Verfügung steht, da die Gegenwart die nur je aktualisierte Einheit von Vergangenheit und Zukunft ist- die eben aber sofort wieder zerfällt. Somit ist auch Kommunikation zwangsläufig dazu verdammt, sich in der Retrospektive zu beobachten. So weit so gut. Das bedeutet aber, dass man de facto nur im „Gestern“ leben kann. Man kann dies zwar –theoretisch distanziert- beschreiben, kann die Einsicht dennoch nicht außer Kraft setzen (auch diese Kommunikationsofferte kann sich, wenn sie denn kommuniziert, erst im Rückblick beobachten). Und sicherlich folgt daraus nicht die Einsicht, dass alle nur noch wie ferngesteuert rumrennen. Ich würde behaupten wollen, dass das mit der Differenzierung von Gesellschaftsstruktur und Semantik erst einmal noch nichts zu tun hat.
    Die Differenz gewinnt, meiner Meinung nach, vor allem dort ihren Wert wo man beobachten kann, dass die Gesellschaft so beobachtet wird, als ob sie durch einzelne Akteure änderbar wäre (Politik, Massenmedien, Politikwissenschaft, usw.). Wo also die eigentliche Unerreichbarkeit der Gesellschaft in Erreichbarkeit gedreht wird. Auch dies kann man dann sicherlich soziologisch distanziert beschreiben, muss letzten Endes aber doch anerkennen, dass die Trivialisierung der Gesellschaft eine Notwendigkeit ist, da man sich ansonsten nicht mehr zurecht finden würde. Man könnte sich beispielsweise vorstellen, wie Politik funktionieren soll, wenn sie akzeptieren würde, dass sie Gesellschaft nicht steuerbar ist. Trivialisierung ist Bedingung von Handlungsfähigkeit. Somit muss die Semantik handlungsleitend sein- die Struktur kann es nicht sein, weil sie wichtige Illusionen (zB die Steuerbarkeit von Gesellschaft) außer Kraft setzen würde.
    Deinen Beobachtungen würde ich also zustimmen, deinem, fast schon eschatologischem, Schluss nicht. Oder braucht man eine neue Semantik um zu wissen, dass Leute per Tauschbörse Musik downloaden, weil sie in dem Fall nichts bezahlen müssen?

  5. Stefan Schulz sagt:

    Ja, also im Text wollte ich hintenraus mit der Semantik / Stuktur Unterscheidung das Phänomen beschreiben, das es beinah überall in der Gesellschaft operativ wirksam ist „Hab ich in der Zeitung gelesen“ zu sagen – obwohl es Tausende von Zeitungen aller couleur gibt. Der Satz „las ich im Internet“ kommt dagegen zumeist nicht so gut an. Strukturell gesehen ist das Internet aber eine etablierte Sache – es hat die Gesellschaft sogar schon mehr durchdrungen als es Zeitungen je könnten und konnten… Dennoch wird es noch eine Weile dauern, bis Journalisten und Wissenschaftler ohne Print gleiche Grade von Reputation und Prominenz erlangen können.

    Den Zeitaspekt muss man streng ausgelegt wohl so interpretieren wie du es getan hast – aber ich glaube Luhmann legt ihn in beide Richtungen so aus – es gibt sowohl eine vergegenwärtigte Vergangenheit als auch eine vergegenwärtigte Zukunft. (Oder eine Mischung aus beiden, in der jeweils eine Richtung überwiegt). So stelle ich mir zumindest Börsjaner als diejenigen vor, die die Zukunft vergegenwärtigen (auch wenn sie das nur durch Bezüge auf die Vergangenheit erreichen können). Vielleicht müsste man sagen, das man auch prinzipiell im Heute leben aber schon über das Morgen reden kann. Peter Sloterdijks tolle Ummalung von Bildung ist: „Lernen ist die Vorfreude auf sich selbst“ – würde ja bedeuten, dass Schüler und Studenten im „Morgen“ leben.

  6. Enno Aljets sagt:

    Nur, um den Zeitbezug noch zu ergänzen: Die Vergangenheit kann man auch nur vergegenwärtigen, wenn man einen Bezug zur Zukunft herstellt. Alles Erinnern steht unter der Prämisse, des Handelns, das nur mit einem auf die Zukunft gerichteten Motiv funktioniert. Es ist also immer ein wechselseitiger Bezug vorhanden.

  7. Henrik Dosdall sagt:

    @Stefan:

    Du hast sicher recht mit der Beobachtung, dass Printmedien als eher „zitationswürdig“ angenommen werden als internetbasierte Berichterstattung. Aber da würde ich zu Bedenken geben, dass bei Blogs die Differenz zwischen Leistungs- und Publikumsrollen erodiert. Die „Gate-Keeper“ fallen also sozusagen weg. Ich will damit auch nicht hintenrum argumentieren, dass Internetmedien per se „schlechter“ sind als Printmedien, aber durch den Wegfall der Rollendifferenzierung eignen sich Printmedien wahrscheinlich eher als Träger von „Vertrauen“ (in die Kompetenz und/ oder Qualität) als Internetquellen.

    Ob das fachlich gerechtfertigt ist, kann ich nicht beurteilen. Schließlich existieren ja eine Menge prominenter und gut recherchierter Blogs…

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