Die Biografiefalle

Sinn und Unsinn von Praktikervorträgen

Die BA-Studiengänge sollen berufsqualifizierend sein. Dass hier ein gap zwischen Wunsch und Wirklichkeit besteht, ist offensichtlich. Vorträge von „Praktikern“ werden in Reformdiskursen als das Allheilmittel dargestellt um die wissenschaftliche Theorie mit der beruflichen Praxis zu verbinden. Leider sind die meisten Praktikervorträge, die in Universitäten organisiert werden, kontraproduktiv. Denn Praktiker, die über sich und ihre Berufsfindung sprechen, idealisieren oder bagatellisieren ihren eigenen Werdegang derart, dass orientierungsbedürftige Studierende entweder auf Grund der biografischen Geschlossenheit der Darstellung verunsichert werden oder ihr Studium vollkommen naiv zu Ende bringen.

Alfred Schütz ist es zu verdanken, dass wir heute viel darüber wissen, wie wir uns dazu befähigen unsere Handlungen zu organisieren. Analytisch unterscheidet er dabei zwei Motive, die unsere Handlungen mit Sinn versorgen: Um-zu-Motive und Weil-Motive. Diese Unterscheidung werde ich im Folgenden auf die Entstehung und vor allem auf die Darstellung einer Biografie beziehen. So wird das Problem der Biografiefalle deutlich werden.

Weil-Motive (Vergangenheitsorientierung)
Das Weil-Motiv konstituiert den Sinn einer Handlung durch bereits vollzogene Handlungen. Um Handlungen mit Sinn zu versehen, ist es nötig auf bereits abgeschlossene Handlungen Bezug zu nehmen. Und das macht ja die Praktikervorträge so reizvoll. Der Experte aus der Praxis soll zeigen, welche Erfahrungen er im Studium gemacht hat und wie sie mit „der Entscheidung“ für einen bestimmten Beruf, bzw. eine bestimmte Praxis zusammenhängen. Allerdings hat der Praktiker zu seiner Biografie keinen privilegierteren Zugang als ein anderer Beobachter, da seine Rekonstruktion der Ereignisse genauso widerlegt werden kann, wie die eines anderen Beobachters. Seine glasklare Erinnerung kann sehr trügerisch sein. Mit anderen Worten hat der Praktiker die Wahl, ob er sich an bestimmte Dinge erinnert, ob er sie verfälscht oder unterschlägt. Die Perspektive auf die eigene Vergangenheit ist Beobachter-abhängig. Es stellt sich also die Frage, was dir Perspektive des Praktikers leitet.

Um-zu-Motive (Zukunftsorientierung)
Menschen handeln, um etwas zu erreichen. Dafür bedienen sie sich eines imaginären Tricks. Sie entwerfen einen zukünftigen zu erreichenden Zustand, und um diesen zu erreichen eine modo futuri exacti als abgelaufen entworfene Handlung. Der (meist noch recht junge) Praktiker nutzt den Vortrag vor Studierenden vor allem dafür, sich selbst zu bestätigen, dass er mit seiner Berufswahl und seinen aktuellen beruflichen Aufgaben die richtige Entscheidung für sich getroffen hat. Er wird also die meiste Zeit damit verbringen davon zu sprechen, wie sehr im die Arbeit gefällt. (Wenn der ehemalige Betreuer der Abschlussarbeit das Seminar leitet, wird die Motivation des Vortragenden in einem guten Licht zu erscheinen, noch stärker sein.)

Zusammenwirken der Motive
Für die Analyse des Praktikervortrags ist nun entscheidend, dass die Orientierung an einer Zukunft die Auswahl der Vergangenheit beeinflusst. Konkret: Der Vortrag des Praktikers wird in erster Linie dazu genutzt, um die aktuelle berufliche Praxis in einem guten Lichte erscheinen zu lassen. Dieses um-zu-Motiv beeinflusst nun die Darstellung des Praktikers, der sich bemühen wird zu zeigen, dass er heute in der Praxis erfolgreich ist, weil er damals im Studium (der „Theorie“) bestimmte Entscheidungen getroffen hat. Das weil-Motiv unterstellt dabei eine klare Kausalität, die es aber empirisch überhaupt nicht gibt, sondern einzig dem um-zu-Motiv geschuldet ist. Denn der vortragende Praktiker hat das Problem, dass er – wie alle anderen – die Verbindung zwischen Theorie und Praxis weder sehen noch beschreiben kann. Er kann nicht wissen, warum aus dem Soziologen ein Berater, Versicherer, Beamter, Lehrer, etc. geworden ist.

Retrospektive Sinngebung
Für ihn selbst ist das nicht weiter schlimm. Das retrospective-sensemaking, wie Karl E. Weick diesen Prozess nennt, ist für die eigene Handlungsorientierung unerlässlich. Aber für Praktikervorträge hat die retrospektive Sinngebung den Effekt, dass die Verbindung von Theorie und Praxis mit einem blinden Fleck des Praktikers belegt ist. Der Zusammenhang von im Studium gelernter Theorie und ihrer Anwendung in der Praxis wird eben nicht offen gelegt, sondern vielmehr verdeckt, idealisiert und/oder bagatellisiert. Und das hat Folgen für die ursprüngliche Intention des Praktikervortrags, die sich durch drei Stichworte beschreiben lassen: Idealisierung, Bagatellisierung und Verdeckung.

Idealisierung: Der Praktiker stellt sich häufig als der strebsame, linientreue Optimal-Soziologe dar, der schon im Studium wusste, was er später beruflich werden wollte. Dementsprechend liest sich die vorgestragene Vita wie ein logisch aufeinander aufbauender, roter Faden. Empirisch gesehen, gibt es diese Studenten aber so gut wie nicht.
Bagatellisierung: Der Praktiker wird den Studierenden weiß machen wollen, dass die „eigentliche Ausbildung“ erst mit der Aufnahme eines Berufes beginnt. Man sei als Soziologe zwar breit qualifiziert und könne sich daher schnell in verschiedenste Tätigkeiten einarbeiten, aber die wahre Schule des Lebens fange erst mit richtiger Arbeit an. Demzufolge könne man darauf verzichten bereits während des Studiums über den Sinn und Zweck der Soziologie-Ausbildung zu sinnieren.
Verdeckung: Der Praktikervortrag ist für die Problematik des Theorie-Praxis-Verhältnisses nicht informativ. Das Thema steht nicht im Mittelpunkt, vielmehr geht es dann um Gehaltsfragen, Studierendengeschichten oder so spannende Themen wie das „Arbeitsklima“. Das mag interessant sein, trägt aber sicherlich nichts zur Berufsqualifizierung bei.

Konsequenzen:
So führt der blinde Fleck des Praktikers bei den Studierenden nicht dazu, dass sie eine Vorstellung von der Theorie-Praxis-Problematik entwickeln könnten und somit einer Berufsqualifizierung näher kämen. Entweder werden sie massiv eingeschüchtert, weil sie selbst dem Bild des Optimal-Soziologen so wenig entsprechen. Oder sie studieren bis zur Abgabe ihrer Abschluss-Arbeit vollkommen naiv weiter, ohne sich auch nur einmal mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, was sie mit ihrem Abschluss später erreichen könnten. Beide Gruppen von Studierenden werden keine selbstbewussten Soziologen, die offensiv auf dem Arbeitsmarkt auftreten. Denn entweder werden sie ihre eigenen soziologischen (!) Fähigkeiten gering schätzen und/oder sich prinzipiell für alle zu übernehmenden Aufgaben bereit erklären und dabei auf einen soziologischen Bezug der Aufgaben verzichten.

Sind Praktikervorträge unnütz?
Nein. Praktikervorträge können im Rahmen einer Berufsqualifizierung der Studierenden sinnvoll sein. Aber nur dann, wenn die Biografiefalle als solche vorbereitend auf die Vorträge von den Studierenden erarbeitet wird. Darüber hinaus erscheint es mir sinnvoll, dass Studierende bereits vor der Konfrontation mit Praxiserfahrungen durch berufstätige Soziologen in einen intensiven Prozess eingetreten sind, der die Frage thematisiert, was sie mit ihrem Studium erreichen können und wollen. Eine Theorie-Praxis-Reflexion sollte von den Studierenden daher kontinuierlich während des Studiums betrieben werden. An der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld gibt es solch ein Programm bisher nicht. Eine Le(e/h)rstelle.

Literatur:

  • Schütz, Alfred (1960): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Springer.
  • Weick, Karl E. (1985): Der Prozess des Organisierens, Suhrkamp.

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