Was macht man eigentlich mit einem Mathematikstudium, wenn man lieber handfest arbeitet, anstatt philosophisch und zahlenfrei über den Grundproblemen zu brüten? Man heuert bestenfalls in einer Investmentbank oder einem Rückversicherer an. Der Einstieg geschieht wohl am ehesten über Erstversicherer und normale Banken. Bei ihnen errechnet man kundenspezifische Finanzströme, ermittelt Werte, legt Preise fest und gibt dann seinen Klienten über die eigenen Rechenergebnisse bescheid. In diesen Positionen ist man ein fachmännischer Finanzdienstleister für den kleinen und einzelnen Kunden.
Die angesprochene Ebene höher, bei Investmentbanken und Rückversicherern, sieht der Alltag ähnlich aber doch auch ganz anders aus. Man rechnet ebenfalls mit Zahlen, hat Klienten, errechnet Preise und legt Werte fest – nur eben nicht für den kleinen Einzelkunden, sondern für Gesellschaften, Märkte und Kollegen. Man spricht hier nicht mehr von Finanzdienstleistern sondern von Analysten.
Finanzdienstleister braucht jeder der irgendwo ein Konto, egal welcher Art, hat. In der funktional differenzierten Gesellschaft ist jeder auf andere angewiesen. Jeder ist ein Fachidiot, der von der Fachidiotie der anderen profitiert. Wer 8h am Tag mit Dachdecken beschäftigt ist, greift für alle anderen Belange seines Lebens auf andere Fachleute zurück, geht zum Fleischer, Bäcker, Arzt und Steuerberater. So greifen alle Räder ineinander und erwirken Prosperität und Lebensfreude für jeden Einzelnen (oder zumindest der Mehrheit).
Allerdings darf keines der Rädchen ausfallen. Wenn Fachsparten der Gesellschaft, beispielsweise Ärzte oder Piloten, streiken, führt das zu einem Orientierungsverlust, der vom Betroffenen allein nicht zu kompensieren ist. Ab einer gewissen Größe einer Gesellschaft ist solch ein fachspezifischer Komplettausfall, abgesehen von Streiks, nicht zu befürchten. Wenn ein Arzt, Pilot oder Finanzdienstleister ausfällt, steht ein nächster qualifizierter Agent bereit.
Dieses „Harmoniebild“ lässt sich jedoch, um bei den Finanzdienstleistern zu bleiben, nicht so einfach auf die Ebene der Analysten übertragen. Analysten sind keine Einzelkämpfer, die sich wie „kleine“ Steuerberater oder Finanzdienstleister allein mit ihrer Motivation zum Arbeiten, ihrer Ausbildung + Erfahrung und dem Gesetzbuch herumschlagen müssen. Analysten sind untereinander aufeinander angewiesen. Sie beobachten vor allem sich selbst. Sie raten, bewerten und finanzieren sich gegenseitig. Normale Finanzdienstleister profitieren von den Analysten, da sie sich von deren Analysen leiten lassen können. Auf gleiche Weise wie Analysten so dem Markt helfen, sich selbst zu beobachten, helfen Meinungsforscher den Politikern beim Reflektieren und Spartenjournalisten den restlichen Gesellschaftssparten. Jedes Funktionssystem verfügt so über einen eigenen Begriff von Öffentlichkeit, in dem sich die Akteure wie im Spiegel selbst beobachten.
Wenn in den Medien die letzten Monate von Analysten die Rede ist, geht es vor allem um die anhaltende Finanzkrise und das aktuelle Bankensterben. Dabei dominieren jedoch, obwohl man so viel erzählen könnte, fast ausschließlich Namen und Zahlen die Berichterstattung. „Lehmann Brothers“ und „613 Mrd. Dollar Schulden, die nicht bedient werden können“ – das sind Nachrichtenwerte, mit denen keiner, der ansonsten nur Tages- und Sportschau guckt etwas anfangen kann. Trotzdem sind dies die einzigen Kategorien, die den medialen Raum erobern.
Hier soll daher mal ein anderes Problem thematisiert werden: Die gesellschaftliche Funktion der Analysten und das Problem, das durch ihre Verunsicherung bzw. ihr Verschwinden akut wird.
Eingeleitet mit dem wie immer handfesten Beispiel Öl. Öl ist ein Gut, das gehandelt werden muss. Hauptsächlich sprudelt es dort, wo es nicht gebraucht wird und nicht aus dem Grund desjenigen, der es benötigt. Also muss es klassisch durch Handel seinen Besitzer wechseln. Nur wird, auf den ersten Blick auf erstaunlich Weise, der Preis des Öls nicht zwischen Verkäufer und Käufer ausgehandelt, sondern weit entfernt an Ölbörsen. Bei 95% des weltweit gehandelten Öls stehen Käufer und Verkäufer, nicht aber der Preis, lange vor der Transaktion fest. Der Preis wird an fernen Börsen ermittelt und gilt dann als Richtwert für alle Öltransfers. Für die Ermittlung des Ölpreises werden tatsächlich nur 5% des Öls als „echte“ Handelsmasse benötigt (Quelle: Quark und Co. WDR-Fernsehen). Aber auch die sieht niemand der Parketthändler jemals tatsächlich. Markt und Preisgestaltung sind also physisch entkoppelt. Gehandelt wird nur an Börsen, fernab der „Realwirtschaft“. Beim Öl ist dieser Vorgang extrem ausgeprägt. Aber auch sonst, im Supermarkt, an der Tankstelle, im Blumenladen – überall wo Güter auf “echte Bedürfnisse“ statt auf „Nachfrage“ treffen, wird nur noch gekauft und nicht mehr gehandelt.
Analysten und Rückversicherer haben in diesem Geflecht nun eine besondere Aufgabe, sie sind der Rückhalt für alles und jeden. Sie ermitteln den Wert chinesischer Turnschuhe, errechnen die Haltbarkeit der Alpen als Skiort und versichern asiatische Küsten für den Fall weiterer Tsunamis. Nur beziehen sie sich nicht direkt auf die Objekte, sondern beobachten die Erstversicherer- und Finanzdienstleistungsagenturen, welche die Objekte direkt beobachten, kaufen, handeln. Als Rückversicherer versichern sie Versicherungen, als Analysten, beispielsweise in Investmentbanken, finanzieren sie Finanziers. Nur durch sie, ihr „Gehampel“ an Börsen oder ihre Vermutungen, ob sich ein „Ike“-Hurrikan alle 3, 10 oder 20 Jahre wiederholt, wird das moderne gesellschaftliche Gefüge zusammengehalten bzw. überhaupt erst ermöglicht.
Man kann Investmentbanken, wie sie gerade ins Gerede kommen, vorwerfen, durch Eigen-Fremdkapital-Kredithebel von 1:35 ihre gesellschaftliche Funktion absolut eigensinnig und unverantwortlich ausgefüllt zu haben, man kann ihre gesellschaftliche Funktion negieren und ihnen den „Tod“ wünschen – aber man darf nicht übersehen, dass ab einer gewissen Größe des Bankensterbens mehr gesellschaftlicher Wert vernichtet wird als bloßes Papiergeld.
Niemand kann wissen, wie unsere Gesellschaft mit der Situation umgehen wird, dass es demnächst eventuell nur noch eine unabhängige Investmentbank an der größten Finanzbörse der Welt geben wird. Es wird eine bisher unbekannte Orientierungslosigkeit einsetzen, deren Folgen und Reichweite noch nicht absehbar sind. Die Finanzströme in dieser Sphäre, die für die Finanzströme der „Realwirtschaft“ unabdingbar sind, werden meiner Meinung nach sowieso viel mehr von Voodoo, „psychologischen Effekten“, Rating-Listenpanik und Meinungen als von „echter Mathematik“ geprägt, trotzdem bilden sie, insgesamt gesehen, eine Art Golfstrom des Wirtschaftsklimas, der nun leicht ins Stocken geraten ist. Für Soziologen nicht ganz uninteressant.
Update 17.09.2008, 15 Uhr: Seit heute wissen wir, dass das „leichte Stocken“ des Finanzgolfstroms eher schwer ausgefallen ist, bzw. teilweise einem Aussetzen entspricht. Es gibt sehr viele Verweise die hier gemacht werden könnten, von allen möchte ich eine empfehlen: Game over! Nur in welchem Spiel?