Muss Angela Merkel ein Buch lesen, wenn es von einem Bundesbankvorstand kommt und eine „öffentliche Debatte“ über seinen Inhalt und zwangsläufig auch über den Autor geführt wird? Nein! Denn wenn es ein belletristisches Lesebuch wäre, würde es zu keiner derartigen Debatte führen, wenn es dagegen ein Sachbuch oder enger ein wissenschaftliches Buch ist, reicht es erst mal, sich als Kanzlerin von seinem Stab ein Dossier zum Thema und Buch anfertigen zu lassen und diese 5 Seiten zu lesen.
Wissenschaftliche Literatur liest sich nämlich einfacher als gedacht, wenn man mit Verstand an einen Text herantritt. Denn das was in Belletristik das Wunder darstellt, ist in der wissenschaftlichen Literatur „Füllmasse“, die sich um Prämissen, Thesen und Argumente legt und aus kleinen Ideen große Bücher macht.
Thilo Sarrazin hat ein derartiges wissenschaftliches Buch vorgelegt. (Mit dem Unterschied, dass es als wirtschaftswissenschaftliches Buch nicht nur aus Prämissen, Thesen und Argumenten besteht, sondern auch aus einer erheblichen Meinungsmasse.) Angela Merkel hat die Auszüge des Vorabdrucks dieses Buches gelesen und sich sicherlich weiterführend informieren lassen. Wenn man Übung mit dieser Textform hat, bedeutet das: Sie weiß über die Prämissen die der Autor legt Bescheid und kennt die Thesen und Argumente hinreichend. Auch wenn sie den Text nicht in Gänze kennt, reicht das um zu urteilen und eine politische Meinung zu bilden. (Mir reicht es, diese Liste an Zitaten die „weissgarnix“ heute zusammengetragen hat zu lesen, um mir eine Privatmeinung über Sarrazins Buch zu bilden. Es werden zentrale Prämissen genannt, die die Argumentationskorridore festlegen. Ich brauche nicht jedes einzelne Argument in richtiger Reihenfolge zu kennen um die Idee des Buches abzulehnen.)
Frank Schirrmacher meint, es sei beschämend, dass die Kanzlerin als politisches Oberhaupt das Buch nicht nur nicht gelesen hat, sondern auch öffentlich damit kokettiert, es nicht im Einzelnen zu kennen. Meiner Ansicht nach toppt er mit seinem heutigen FAS-„Wutausbruch“ die „Muss man bitteschön sagen dürfen“-Haltung der BILD mit einer „Das muss man gefälligst Lesen“-Haltung der FAZ. Die entlarvenden Sätze sind meiner Meinung nach folgende:
„Wir wollen unsere Texte nicht in Dossiers wiederfinden, wo sie von Menschen, die das Buch nicht gelesen haben, dazu verwendet werden, jemanden zu sanktionieren. Wir schreiben nicht für Personalchefs und karrierebewusste Bundesbankpräsidenten, der Journalismus ist nicht dafür da, an den Rufmord grenzende Prozesse zu munitionieren, in denen die Ankläger sich nicht dazu herablassen, auch nur mit einem Wort Argumente zu widerlegen.“
Schirrmacher benutzt die „Wir“-Form um eine Gruppe Intellektueller zu fassen, die in (zumeist mit zu vielen Füllwörtern aufgefüllten) Büchern ihre Meinungen bekunden und auf öffentliche Popularität (oder genauer: Autorität) statt (wissenschaftliche) Reputation abzielen. Die urteilenden Politiker haben die Pflicht, sich diese Bücher durchzulesen, bevor sie urteilen. Das Anfertigen von Dossiers sei nicht statthaft, da es auf die Argumente ankommt.
Ist es aber Journalismus, sich in reißerischer Form einem stets präsenten Thema zu nähern, es in Buchform zu erörtern und das Ergebnis, des Themas und der Popularität wegen, zur Pflichtlektüre zu ernennen? Reicht die Behauptung, das Buch verkauft sich bald 1.5 Millionen Mal, um seine Relevanz zu untermauern? Muss man jedes einzelne Argument diskutieren, obwohl man die Prämisse eines ideologischen (wirtschaftswissenschaftlichen), biologistischen Gesellschaftsbildes ablehnt und dafür gute Argumente hat?
Die Integrationsdiskussion kann man nicht gründlich genug führen. Und es ist sicherlich auch richtig, sie sowohl im FAZ-Feuilleton und in den RTL2-News zur Sprache zu bringen. Die Sarrazin-Debatte wird langsam aber wirklich lästig und nervig. Dass Frank Schirrmacher nun in der FAS das Thema umlenkt um eine Meinungsfreiheitsdebatte abzuleiten und meint zu glauben, welche Meinungsbekundungen in der Diskussion Pflichtbeiträge seien und wie mit ihnen umzugehen ist, ist schlimm.
(Man kann nun sagen: Aber es geht Schirrmacher doch darum, dass die Politiker, die Sarrazin des Amtes enthoben haben, sein Buch hätten lesen müssen. Dann würde ich sagen: Nein, des Amtes hätte man ihn schon entheben müssen, als er durchblicken ließ, dass „obstverkaufende Kopftuchmädchen“ für die Wirtschaft einer Gesellschaft, einer Stadt, nicht relevant seien. Der Vorwurf wäre dann fachliche Inkompetenz. Auf sein Buch hätte man für eine gerechtfertigte Verbannung aus dem öffentlichen Dienst nicht warten müssen. Außerdem: Dieses Anliegen Schirrmachers nennt er zwar, es geht ihm aber trotzdem eher um die Autorität der buchschreibenden Meinungselite des Landes.)
(Wenn Schirrmachers Text online verfügbar ist und ich daran denke, verlinke ich ihn nachträglich noch. -> Hier isser.)
(Bild: Kenny Louie)