Millionengehälter und Gehirne bei der S21-Schlichtung

Unsere moderne Vorstellung von Politik und allem anderen weltbewegenden, außer der Liebe, ist durch eine Besonderheit geprägt: Wir sehen nur, was Politiker(, Manager, …,) entscheiden, wir sehen aber selten wie sie es tun. Das politische Tagesgeschäft versteckt sich in Organisationen und deren Teilbereiche. Dort, in Ministerien, Rathäusern und Abgeordneten-Bürogebäuden zirkulieren die Papiere, werden die Termine entschieden, wird im kleinen Kreis getüftelt und diskutiert – und nur ab und zu kommt mal jemand mit einer Fernsehkamera, niemals unangekündigt, und dann wird kurz und knapp vor schöner Kulisse verlesen, was herausgekommen ist.

Organisationen bieten dabei, gegenüber „Basisdemokratie“, wie sie im mittelalterlichen Dorf und in durch Engagement getragenen Spontanvereinigungen praktiziert wird, einige handfeste Vorteile: Argumente und Informationen werden schriftlich präsentiert und können in Abwesenheit vom Autor und ohne ad-hoc-Antwortdruck besprochen, getestet und abgewogen werden. Argumente und Informationen können ohne den Druck selbst entscheiden zu müssen besprochen und aufgelistet werden. Für knifflige Themen stehen Spezialistenteams zur Verfügung. Usw.

Interaktionen sind in dieser Hinsicht, trotz ihres augenscheinlich simplen Settings, erheblich kniffliger. Meinungen treffen direkt aufeinander; Fakten-Checks sind kaum möglich, alles muss direkt beantwortet werden; Ein Argument kann kaum vom Vortragenden gelöst werden; Alle Beteiligten werden in gewisser Hinsicht mit ihrem Gehirn allein gelassen – und auch wenn, etwa in größeren Unternehmen, mehrere Hierarchiestufen zusammensitzen, deren Gehalt sich um das 20-fache unterscheidet – die Gehirnleistung tut dies nicht. Die „Eigenrechte“ der Interaktion müssen viele Rahmenbedingungen der Organisation schlicht ignorieren, wenn sich nicht alle anschweigen wollen.

In dieser Hinsicht ist die S21-Schlichtung, die im TV ausgestrahlt wird, ein wirklich interessantes und selten beobachtbares Unterfangen. Dort treffen jugendliche Aktivisten, alterserhabene Politiker, sehr alte Professoren, millionenschwere Vorstandsmitglieder, milliardenbewegende Wirtschaftsverbandsfunktionäre und aktive Landesminister aufeinander, um ein Milliarden teures und politisch hochbrisantes Thema zu besprechen, dass zwar formal entschieden ist, dessen externe Einflüsse aber gegenwärtig unberechenbar sind – das also völlig offen ist.

Diese Damen und Herren bereiten sich vor, inhaltlich wie diskussionstechnisch, doch letztlich müssen sie von Minute auf Minute mit inhaltlichen Überraschungen und geplanten Taktiken, die mit Tagesordnungspunkten nichts zu tun haben, rechnen. Wenn man Vorständen ihre Referenten und Politikern ihren wissenschaftlichen Dienst nimmt, bleibt von der leistungsbezogenen Begründung für ein Millionengehalt nichts übrig. Man erkennt schnell, dass es die Organisation ist, die die Vorteile verschafft und jeder einzelne nur ein (wenn auch nicht beliebig) auswechselbarer Angestellter ist.

Eine empirische Untermauerung dafür ist auch das obige Video. Schäuble, dem gerne ein scharfer Verstand und zweckorientiertes Handlungsvermögen unterstellt wird, dreht erst durch und dann etwas ab und lässt die Interaktion mit seinem Sprecher vor offener Kamera einfach laufen. Zu spät merkt er, dass das dumm war – weil sein Sprecher nüchtern, emotionslos und sachlich reagiert – und versucht einen Witz daraus zu machen. Doch das einzige was er noch erreichen kann, ist Verlegenheitslachen der Journalisten, die lachen, weil sie gar nicht anders können, da sie in der Situation genauso gefangen sind wie er.

Auch wenn die Fassaden noch so schön und die Geschichten noch so heroisch sind – letztlich sitzen überall nur Menschen, die für sich genommen so einfach gestrickt sind, wie jeder andere Mensch. Und das bedeutet, etwa für S21, dass eine einmal eröffnete und mit Legitimation zur Entscheidung ausgestattete Interaktion (an der im Fall der Schlichtung etwa 100 verschiedene Menschen beteiligt sein werden) Milliardenkonzerne und Regierungen übertrumpfen kann.

(Ein kluger Einwand wäre, dass die Schlichtung natürlich auch ein hohes Maß an Organisation benötigt, und jede Organisation auf Interaktionen angewiesen ist – das stimmt, doch es ändert am prinzipiellen Argument nichts.)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

4 Kommentare

  1. […] Schulz hat sich bei den Sozialtheoristen mal das öffentliche Verhältnis zwischen Wolfgang Schäuble und seinem Sprecher […]

  2. Wie sagt:

    Ich versuche mal zusammenzufassen:

    Formale Organisationen werden durch einzelne Akteure vertreten. Diese einzelnen Vertreter können die Macht ihrer Organisation nur unzureichend repräsentieren. Speziell in Situationen, die durch Präsenz und verbale Kommunikation gekenzeichnet sind, tritt dies zu Tage, da die Ressourcen der Organisation dort unwirksam sind. Die Dynamik der Situation kann den Vertreter überfordern. In diesen Situationen kommt es deshalb vermehrt zu Abweichungen relativ zu den prinzipiellen Machtverhältnissen zwischen den vertretenen Organisationen oder relativ zur von Organisationen gewünschten Außendarstellung.

    Ist das dein Argument?

    Deine Begriffe sind ziemlich schwammig. Deine These teile ich zwar, doch finde ich den Vergleich der Schlichtung und des Schäuble-Auftritts etwas an den Haaren herbeigezogen. Eine Pressekonferenz ist viel formalisierter, prinzipiell asymmetrisch und leichter durch die Organisation zu kontrollieren. Außerdem war das Problem nicht, dass der Schäuble von einem Journalisten ins Schwitzen gebracht wurde, sondern durch organisationsinterne Fehler. Auch gefährdet Schäubles unsouveräne Reaktion nicht das ‚Projekt Steuerschätzung 21‘, sondern wirft lediglich ein wenig schmeichelhaftes Licht auf was auch immer (seine Laune, seinen Charakter, seine Reflektiertheit im Umgang mit Korrdinationsschwierigkeiten, seine Verhältnis zu Herrn Offer,…).

    Gruß
    Wie

  3. Stefan Schulz sagt:

    Man muss ja nicht jedesmal so einen Theorie-Begriffs-Popanz aufziehen, nur weil es die Begriffe und Theorien gibt. Mein Argument wird oben ganz gut deutlich.

    Schäuble und die Schlichtung vergleiche ich nicht, sondern verweise auf sie als, sozusagen, freilaufende & öffentlich beobachtbare Interaktion mit Sachverhalten, die normalerweise in Organisation behandelt werden (Entscheidungsfindung und Personaldisziplinierung in den beiden Fällen).

  4. Wie sagt:

    Meine Zusammenfassung sollte kein Vorschlag für deine Schreibe sein.
    Vielleicht fehlten mir nur sowohl die ‚Sprengkraft‘ als auch die ’soziologische Beobachtung‘, wobei es natürlich nicht leicht ist, Verdaubarkeit und Schärfe zusammenzubringen.

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