Heute war wieder einer der „Lehrbuchtage“. Ein Tag, an dem ein dozierender Sozialwissenschaftler sein Notizbuch zückt und die Kuriositäten der sozialen Wirklichkeit notiert um empirisches Dekomaterial für kommende Theorieveranstaltungen zu haben. Für ein Uni-Seminar ist das gut und witzig, für den Vorgeführten eher nicht. Heute traf es Bundesminister Rainer Brüderle.
Er fiel durch ein protokollgemäß paraphrasiertes Zitat auf, in dem er sich über Druck auf die Politik und zur Rationalität von politischen Entscheidungen äußerte. Solche Sprüche führen, verständlicherweise, zu Empörung und Gelächter. Aber auch zu Nachdenklichkeit, wenn man sich überlegt, dass an dem Tag, an dem ein Atomkraftwerk explodiert solche geistige Kühle in einem Politikergehirn herrscht. Ich will darauf gar nicht weiter eingehen.
Viel interessanter ist ein anderer Aspekt, der mit dem Zitat zusammenhängt. Wenn man hört, dass der deutsche Bundeswirtschaftsminister und die BDI-Spitze zusammentreffen, würde man doch eigentlich ein gewisses Potenzial an strategischem Denkvermögen, Kreativität, Intelligenz und Erfahrung vermuten. Doch unser Wirtschaftsminister redet über „nicht immer rationale“ Entscheidungen.
Das stimmt nachdenklich, weil in diesem Satz eine Idee mitschwingt, die so grundlegend überholt ist, dass sie einem an einer sozialwissenschaftlichen Fakultät mit dem Eintritt ausgetrieben wird. Über „rationale Entscheidungen“ kann schon kaum mehr geredet werden, ohne dass müde gelächelt oder genervt abgewunken wird. Es sei denn, man thematisiert am konkreten Einzelfall das Rationalitätskontinuum, in dem sich eine Entscheidung als rationale qualifiziert.
Ohne große Untersuchung mithilfe operativer Hermeneutik (oder anderer spiritueller Spielereien) kann man Brüderle unterstellen, dass er über diesen Aspekt nicht nachgedacht hat. In seiner Vorstellungswelt schlummert anscheinend noch die Idee einer universalen, letztbegründenden Rationalität, die eigentlich „Vernunft“ heißt.
Bereits ein Fünfjähriger muss in unserer Gesellschaft aber feststellen, dass jede Entscheidung, etwa die in einer Frage nach einem Eis, nicht vernünftig beantwortet werden kann, sondern je nach Rationalitätskontinuum (Lebensfreude / Gesundheit / Finanzvermögen / Zeitvermögen / …) unterschiedlich ausfällt. Jede Unterscheidung ist stets richtig und falsch – es muss nur die richtige Perspektive, die adäquate Rationalität angelegt werden.
Brüderle hat sich über sein Rationalitätskontinuum keine Gedanken gemacht. Man kann die Sinnhaftigkeit aber nachträglich rekonstruieren. Was heißt es also, wenn Brüderle meint, die spontane Abschaltung der deutschen Atomkraftwerke sei „nicht rational“? Zwei Antwortmöglichkeiten:
1. Er liegt falsch. Denn politisch war es eine rationale Entscheidung. Mit Bezug auf die Ereignisse hat die Regierung die Entscheidung getroffen, die am meisten Rückhalt in der Bevölkerung, also das höchste Mobilisierungspotenzial für politische Unterstützung hat: „Abschalten“ (wenn auch erstmal auf Zeit).
2. Er liegt richtig. Denn wirtschaftlich war es eine irrationale Entscheidung. Es hatte sich weder die konkrete Gefahrensituation für deutsche Atomkraftwerke geändert, noch hat das Abschalten eines der Atomkraftprobleme gelöst, schließlich bleibt entzündeter Brennstoff entzündeter Brennstoff. Das Einzige, was die Entscheidung erwirkte, war eine Verschlechterung der Profitaussicht.
Man kann feststellen, für einen Politiker hat sich Brüderle recht eindeutig positioniert. Außerhalb der Politik. ;-)
(Bild: K2D2vaca)
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