Letzten Freitag war die Welt in Ordnung. Der Prinz heiratete seine Prinzessin und jeder der zu Hunderttausenden in London anwesenden Gäste spürte, dass er am richtigen Ort war, in der Welthauptstadt für einen Tag. Ein kollektives Zufriedenheitsgefühl wohl, wie man es seit den 1990ern nicht mehr erlebte. Zwei Nächte später wurde anderswo auf den Straßen gefeiert. Den New Yorkern kann man die kollektiv gefeierte Erleichterung noch nachsehen, bei den gerade zwanzigjährigen Collegeboys, die überall in den USA auf die Straße rannten, fällt das schon schwerer. Doch ihnen ist eigentlich auch kein Vorwurf zu machen. Sie können sich an die Unbekümmertheit der 90er nicht erinnern, ihr halbes Leben wurden sie mit bin-Laden-Tonbändern vollgedröhnt und nun ist er endlich tot.
Als man gestern in Europa erwachte, erwartete einen schon die Nachrichtenwelle aus den USA. Doch anstatt sich über die Skurrilität dieser Feierlichkeiten wundern zu können, wurde man überrascht von einer Kanzlerin, die sich darüber „freue“, dass es „gelungen ist“ jemanden „zu töten“. Es handelt sich um einen interessanten Fall von Bündnistreue, in dem man die eigenen Werte kurz vergisst, um semantischen Beistand zu leisten.
Man muss die Welt hinnehmen, wie sie ist, doch ein paar Anmerkungen kann man machen. Dass es gerechtfertigt ist, mit Kampfhubschraubern in ein souveränes Land zu fliegen und dort in einer nicht unbedingt wenig besiedelten Wohngegend eine Villa zusammenzuschießen um jemanden gezielt zu töten, war gestern bei Twitter eine erstaunlich breit geteilte Ansicht. Der „Typ“ war schließlich ein „Oberkrimineller“ und „deutsche Besserwisserei“ ist da mal fehl am Platz (tweet von „Herr Schinka“, einem Berufsschullehrer für Politik). Herr „Dr. show biz. Käse“ (@Einstueckkaese, der eigentlich durch die twitterübliche Wortspielereiklugheit inkl. Realitätsbezug angenehm auffällt) findet diejenigen „niedlich“, die einen bin-Laden-Prozess erwartet haben. Die warten sicher auch auf „Weltfrieden“ und „Gratisnutella“ (tweet). Diese beiden sind für meine gestrige Timeline zum Thema recht repräsentativ.
Erschreckend eigentlich. Zum einen, dass wir plötzlich, wo wir dachten, bin Laden sei schon lange tot glauben sollen, dass er doch noch lebte und nun aber wirklich tot ist. Und zum anderen, wie sehr wir uns auf solch eine Erzählung einlassen sollen, anstatt sie zumindest ein bisschen kritisch zu sehen. Obama hat gestern einen Punktsieg gelandet, vielleicht den ersten auf seiner vor drei Jahren aufgestellten Liste außenpolitischer Maßnahmen. Wenn man das Ereignis aber nur ein bisschen historisiert wird es ein merkwürdiges Bild.
Gestern trafen sich Helmut Schmidt und Peter Scholl-Latour im TV. Ich habe nur die letzte halbe Stunde gesehen, in der sie kaum noch über Osama bin Laden gesprochen haben, doch man konnte noch fühlen, dass für Schmidt der Anlass bestand, über Tagespolitik zu sprechen, für die er sich ja schon seit Jahren, das betont er oft, nicht mehr zuständig fühlt. Schon den Tag über war zu lesen, dass er den Einsatz kritisch und als völkerrechtswidrig einschätzt.
So ist es nun, dass wir an einem Tag zwei Kanzlermeinungen haben, die nicht weiter auseinanderliegen können. Die aktuelle Kanzlerin findet es erfreulich, dass es gelingt, gezielt zu töten. Der Altkanzler findet es erschreckend, dass dies offizielle Linie ist.
Es war Helmut Schmidt, der einmal die gesamte Politikgeschichte der Bundesrepublik auf eine Unterscheidung zusammenzog: Es gibt die Politikergeneration, die den Krieg erlebt hat und die, die ihn nur erzählt bekommen hat. Diesen Bruch markiert die Kanzlerwahl 1998. interessanterweise fand mit dem Kosovokrieg im gleichen Jahr auch der erste, direkte Kriegseinsatz Deutschlands seit dem Krieg statt. Man kann also die Schmidt-Idee noch weitertreiben und sagen: Es gibt die Kanzler, die den Krieg erlebten und nie welche führten und es gibt die Kanzler, die den Krieg nicht erlebten, die aber Kriege führ(t)en.
Die Ersteren mussten sich für ihre kriegerische Enthaltsamkeit nie rechtfertigen. Selbst 1991, als beinah die gesamte westliche Welt in den Krieg zog, war eine deutsche direkte Nichtbeteiligung kein Grund für politische Verstimmung. Auch wenn bereits andere Diskussionen im Volk möglich waren, war die offizielle politische Linie klar.
Das Erleben von Krieg ist mittlerweile vergessen. Die Daten und Fakten gibt es noch, eingereiht im Kanon des Schulbuchwissens. Die Generation, die noch davon erzählen könnte, ist dazu aber kaum mehr in der Lage. Das Mitfühlen beim Zuhören richtet sich noch ein bisschen auf die Erzählungen, viel auffälliger ist allerdings inzwischen die Gebrechlichkeit der Erzählenden. Es gibt schon jetzt keine lebendige Erinnerung mehr an den Krieg. Wer sich der Aufgabe stellen will, ihn zu verstehen, muss in die Bibliotheken und Museen gehen.
An der Politik, die gegenwärtig gemacht wird, kann man das ablesen. Kriege werden inzwischen wieder – im Kanon der politischen Instrumente – geführt. Es gibt die großen Einsätze und die kleinen Scharmützel. Wenn eigene Soldaten sterben, steht das mediale Skript für die Bewältigung dieser, eigentlich nur noch familiären Tragödien, bereit. Häufiger sterben jedoch die anderen. Die Opferzahl in Afghanistan pro Jahr ist vierstellig und steigt kontinuierlich. Im Irak haben unkontrollierbare Privatarmeen die militärischen Aufgaben übernommen, da erfährt man nicht mal mehr, wer von den „eigenen“ stirbt. In Libyen läuft ein Einsatz, den Obama vor mehr als einem Monat mit einer Laufzeit von „days and not weeks“ veranschlagt hat – da gibt es überhaupt keine Einsichten in das Geschehen. Alles läuft aus dem Ruder. Oder: Krieg ist politischer Alltag (geworden).
In den 1990ern gab es zwei große Ereignisse. Bill und Monica hatten einen kleinen Privatspaß und zum Ende dachten alle, dass die Computer ausfallen. Mittlerweile wünscht man sich, sie wären es. Doch die Computer liefen weiter, die Welt blieb nicht stehen und es begann eines der wirklich finsteren Jahrzehnte, das mit der Freude über eine gezielte Tötung sicherlich noch nicht aufhört.
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