Bin Laden ist tot, und soweit ich es sehe, gibt es eine Verschwörungstheorie, die irgendwie auf der Hand liegt aber bislang noch nirgendwo erzählt wurde. Und überhaupt, wird die Kulturform gute Verschwörungstheorie zu selten gewürdigt. Wenn Autoren die bekannte Nachrichtenlage neu zusammenbauen und dabei überraschen, fühle ich mich häufig gut unterhalten (informiert bin ich ja schon, ist schließlich Voraussetzung). Aber immer wieder stößt man auf eine, insbesondere unter Gebildeten verbreitete, Parallelitätsallergie. Akzeptiert sind allenfalls „Was wäre wenn“-Geschichten (wie diesen Samstag in der F.A.Z. über „Usama bin Ladin“ als „der Angeklagte“ statt Erschossene). Die guten Geschichten, die History und Story klug vereinen und genau deswegen unterhaltsam sind, könnten etwas salonfähiger sein. Zumindest sollte man über HAARP, die Earthquakemachine oder die Zahl 33 plaudern können, ohne dass jeder zweite Anwesende sogleich mit Immunisierungsbemühungen seine Redlichkeit aufrechtzuerhalten versucht. (Wer so denkt wie ich, dem sei hiermit die No Agenda Show wärmstens empfohlen.)
Die Rahmenbedingungen zu dem bin-Laden-Einsatz vergangenen Sonntag sind bekannt. Die CIA leitete die Aktion, die Regierungsmannschaft im amerikanischen Weißen Haus schaute zu. Es kam anscheinend merkwürdige neue Helikoptertechnik zum Einsatz. Es wurden beim Einsatz Bilder gemacht aber später nicht veröffentlicht. Die erste offizielle Erzählung zu den Geschehnissen wurde anschließend recht grundlegend aktualisiert.
Nicht so häufig genannt wurden folgende Dinge. Zum Zeitpunkt des Einsatzes befanden sich Präsident, Vizepräsident, Außenministerin und Verteidigungsminister am gleichen Ort, sogar im gleichen Raum. Die Ansprache an das Volk war relativ zügig fertig geschrieben und wurde auch schnellstmöglich gehalten. Pete Souza hat, wie immer, eindrucksvolle Bilder der Politiker in Action gemacht.
Wie passt es nun zusammen? An der Front führt ein Team, das SEAL Team Six, von dem beinah nichts bekannt ist, einen Einsatz gegen eine Person, die schon längst vergessen, eigentlich schon seit Jahren tot geglaubt ist, ist erfolgreich und lässt die Leiche verschwinden. Es gibt keine Videos und keine Bilder, allenfalls ein paar Schnappschüsse, die überall hätten gemacht werden können.
Auf der anderen Seite, an der Heimatfront, steht nicht nur der Präsident mit einer hollywoodtauglichen Rede bereit, sondern es ist auch noch sein Vize, sein Verteidigungsminister und seine Außenministerin da. Es entsteht eines der Zeitgeschehen-Bilder, das die Welt nachhaltig faszinieren wird. Und, zu guter Letzt, es werden Entscheidungen getroffen, die von allen Nachrichtenredaktionen auf der Welt kommentiert werden. Zusammengefasst: Eine Rede, ein paar Bilder und Entscheidungen bahnen sich in Höchstgeschwindigkeit innerhalb weniger Stunden als Informationen ihren Weg durch die Gesellschaft.
Soweit die Fakten. Die dazugehörige Deutung: Letzten Sonntag/Montag probte die politische Führungsspitze der USA ihre Medienschlagkraft. Man stellte sich eine Frage, deren Antwort sich nicht simulieren ließ. Was passiert, wenn der Präsident eine Erklärung abgibt, die das Terrorthema betrifft, die eilig ist und deren Faktenunterbau unklar ist oder bleiben muss. Würden die Amerikaner hören, was er sagt? Wie lange würde es dauern, bis alle informiert sind? Wird dem Team in Washington geglaubt? Wie wird auf eine existenzielle aber eigentlich absurde Nachricht reagiert? Wie verbreitet sich eine solche Nachricht? Wie spielen redaktionelle und private Medien ineinander?
Um diese Fragen zu beantworten, lag es auf der Hand, eine Nachricht zu wählen, die einerseits ziemlich folgenlos ist, die andererseits aber einen so hohen Informationswert hat, dass man sie nicht nur ab dem Moment ihrer ersten Verbreitung verfolgen, sondern auch zu bestimmten Zeitpunkten modifizieren konnte. Man hat beim Tod von Michael Jackson gesehen, dass die privaten Nachrichtenkanäle ausreichen, die gesamte Welt zu informieren, bis, mit leichter Verzögerung, die redaktionellen Medien Erklärungen nachliefern und die Musikcharts verrücktspielen. Der Wunsch, diese Art der gesellschaftlichen Informationsverarbeitung zu verstehen und politisch auszubeuten liegt nahe.
Zwar gibt es den ein oder anderen selbst ernannten Internetversteher, doch was und wie etwas im Internet passiert bleibt weiterhin unklar. Man fragt sich, wie es jemals verstanden werden soll, wenn nicht einmal die, vergleichsweise einfache, historische Analogie gelingt. Bis heute wird gerätselt, ob und welchen Einfluss die Entwicklung von Mikrofon- und Radiotechnik auf die Diktaturentstehungen hatte. Welche Wirkung hat nun der „soziale Medien“-Bereich auf die „Arabellion“, Chinas Kulturverständnis, Obamas kommenden 1.-Mrd.-Wahlkampf, … ? Man kann es nicht mit Sicherheit sagen…
Man kann nichts mit Sicherheit sagen. Der Weg von der Verschwörungstheorie zurück zu gesellschaftlich akzeptierten Beschreibungsformen der Gesellschaft ist recht kurz, es muss nur die Deutungskomponente gestrichen werden. Übrig bleibt dann die übliche Erklärung: Dinge passieren einfach. Nichts beliebig, aber alles mehr oder weniger zufällig. Entscheidend ist die Nachbetrachtung. Wir haben uns daran gewöhnt, dass es nur eine gültige Geschichte gibt, was, von wem und wo auch immer erlebt wird. Die Fragen sind dann, warum wird eine Erzählung als die eine akzeptiert und wann wird sie modifiziert?
Nils Minkmar hat in der heutigen F.A.S. einen Text zu bin Laden geschrieben. Tenor: Osama bin Laden war ein Verlierer. Er war kein erfolgreicher Unternehmer, kein hilfreiches Familienmitglied, kein guter Terrororganisator. In der gedruckten Ausgabe titelt man, dem Text angemessen, mehrdeutig mit „Verloren“. Man sieht schon welche Fragen offen sind und dass sie nicht nur die engagierten Verschwörungstheoretiker herausfordern. Wie kam es dazu, dass die gängige Erzählung einen Taugenichts ins Zentrum stellt und ein Jahrzehnt jeder Landes- und Bundesinnenminister seine Gedankenwelt an ihm orientierte? Wer hat und wie wurde eigentlich die gesamte „westliche Welt“ in die Mitleidenschaft eines globalen Antiterrorkrieges verwickelt? Oder kurz: Wie kam es zu der gängigen Deutung? Müssen wir die Geschichte neu schreiben?
Diese Fragen können jetzt (hoffentlich) gestellt werden, ohne dass der noch gültige Gründungsmythos des Jahrhunderts weiter gepflegt werden muss. Politikwissenschaftler haben ein Jahrzehnt lang erklärt, wie alles was tagesaktuell geschieht, mit dem 11. September 2001 zusammenhängt. Nun ist hoffentlich die Zeit der klugen Soziologen und Historiker, die die Tageslagen entdramatisieren, die Vorstellung über die Organisierbarkeit von globalem Terror entmystifizieren und dazugehörige politische Strategien entzaubern. Zumindest fände man sich in einer Gesellschaft, die als Terror-Threat-Level auch mal grün akzeptiert, etwas wohler, weil sie viel eher zur tatsächlich erlebten Lebenswelt passt. Der amerikanische Unfug ist mit Distanz betrachtet einfach viel erträglicher.
(Bild: zebble)
Update: Ich war mit meiner Verschwörungstheorieidee doch nicht so alleine. Siehe: Wahrnehmungs-Management durch Spekulations-Stimulation, auch gestern in der Telepolis.
[…] Zeit gab Anlass zu rechtschaffender, wenn auch nicht zu rechtfertigender Auffassung, dass da im Ganzen etwas nicht stimmen kann. Man erinnere sich an das Jahr 2003, indem vom deutschen […]