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Seit ein paar Tagen folge ich Stefan M. Seydel bei Twitter. Bekannt ist er mir unpersönlicherweise aus seinen alten ((( rebell.tv ))) -Zeiten. Er hat die Verfügbarkeit seines reichen Video- und Ideenarchivs gekappt. Was nun noch bleibt, sind seine Tweets. Darunter fällt, was bei Twitter bemerkenswert üblich ist, eine regelmäßige Wiederholung des immer gleichen Tweets: seine morgendliche 10-Uhr-Behauptung, dass dieser Ort (Twitter) sicher sei. Die Erklärung zur Behauptung findet sich hinter dem immer mitgesendeten Link http://bit.ly/giOrw4.
Ich bin dem heute einmal nachgegangen. Er führt zu sicherlich einer der zutreffendsten, weil absichtlich unklaren, unfertigen aber inspirierenden Twitterbeschreibungen, die man derzeit findet. Sie problematisiert (statt thematisiert) die Potenziale von Twitter, die immer dann überdeckt werden, wenn es mal wieder zum Koordinierungs-Tool für Weltrevolutionen degradiert wird.
Mir fiel bei der Lektüre wieder ein, dass Martin Oetting auf meine Kritik zu seinem Vortrag mit dem Satz antwortete: I’am not talking to you!, dann fiel mir ein, was ich zuletzt bei wirres.net gelesen habe: die von mir geteilte Feststellung, dass sich die 14 Jahre alte Idee, das Internet sei ein Push-Medium, als „komplett falsch“ herausgestellt hat. Und nun, als Drittes, der Text von Seydel und Kollegin, der zurecht behauptet, mit Twitter sei alles neu. Alle drei Texte zeigen in dieselbe Richtung.
Mit Twitter ist wirklich alles anders und ich möchte, aus dem weiten Kosmos der auf dieser Feststellung beruhenden Probleme, zwei herauslösen und in eine Frage umwandeln: 1. Twitter ermöglicht Kommunikation. 2. Twitter adressiert nicht. Frage: Wie kann (gesellschaftsstrukturell konstruktive) Kommunikation entstehen, wenn auf die twitterartige Weise Informationen mitgeteilt werden, die gar nicht oder nur sehr zurückhaltend adressiert sind?
Eine einfache Erklärung wäre ein historischer Vergleich. Per Twitter werden Informationen in die Welt distribuiert, wie die Massenmedien seit 200 Jahren Informationen in die Welt distribuieren. Auch die „alten“ Medien funktionieren ohne ein bestimmtes (oder bestimmbares) Publikum. Sie sind allerdings „Massenmedien“. Quantitativ, weil sie hunderttausend- bis millionenfach gekauft und beachtet werden. Qualitativ, weil sie in den gesellschaftlichen Problem- und Themenzentren beachtet werden (dort finden sie schließlich ihr eigentliches Publikum) und man, zumindest das, weiß.
Twitter funktioniert auf ähnliche Weise. Nur: Das Publikum ist ebenso unbestimmbar und viel kleiner. Nur wenige Twitterer, vermutlich nur diejenigen über 2500 Follower, können begründet vermuten, dass ihre Botschaften einen folgenreichen „Impact“ erzielen. Ein Durchschnittstweet versendet sich folgenlos, er wird reaktionslos gelesen. Solch ein Tweet wird vielleicht von ähnlich vielen Leuten gelesen, wie eine SMS, die nach dem Lesen kurz herumgezeigt wird.
Also, „massenmediale SMS“? Das Einzige, was noch an SMSen erinnert, ist der @reply, er hebt jedoch den massenmedialen Charakter wieder auf, seit man sich bei Twitter entschied, ihn aus den Timelines der anderen auszublenden, wenn der soziale Bezug fehlt. @replys sind in diesem Sinne zumindest als „öffentliche SMS“ zu beschreiben. Doch diese Art des twitterspezifischen Kommunikationsverhaltens ist ein Produkt durch Nachrüstung, es ist nicht der Kern von Twitter.
Das entscheidende, den Unterschied ausmachende, Merkmal von Twitter, überraschend auch erst durch Nachrüstung entstanden, aber, so würde ich behaupten, den Erfolg verursachend, ist der #hashtag. Die aus der künstlichen Not der Platzknappheit gewonnene Praxis, Sprachinhalte auf nicht mehr als einen Begriff zu kürzen und die Kürzung mit einem, genau darauf hinweisenden, Zeichen „#“, nebst inhaltlicher Bedeutung, zu markieren.
Der #hashtag erfüllt viele Funktionen, die Seydel in seinem Text nennt. Er kürzt Sätze auf Begriffe und öffnet dadurch einen Interpretationsspielraum, auf den Kommunikation in der Breite eigentlich nicht angewiesen ist. Er überführt Themen in Beiträge und gliedert sie in eine „Listenförmigkeit“, deren Gestaltung beinah ausschließlich der Kommunikation selbst übergeben und überlassen wird. Von außen ist keine Kontrolle möglich. Es bleibt nur die Beobachtung einer „offenen Ordnung“.
Ich finde solche Beobachtungen ziemlich klug. Zum einen, weil sie – was gerade heute äußerst notwendig ist – darstellen, dass das Potenzial zur Sinnstiftung von Kommunikation sehr davon abhängt, welche Widerstände sie überwindet. Zum anderen, weil sie – was heute ebenfalls sehr notwendig ist – darstellt, dass wir Menschen eher beitragend als kontrollierend an Kommunikation teilnehmen. Beides sind keine Neuerungen durch Twitter, aber man kann es an Twitter besser als je zuvor studieren.
Seydel weist, in seinem Text sehr prominent, darauf hin, dass man Lösungen am „Verschwinden des Problems“ erkennt. Das ist wahr aber irgendwie dreht Twitter selbst hier die Logik um. Twitter ist in seiner Praxis so simpel, dass man das Potenzial zur Lösung von Kommunikation studieren kann, bevor die dazugehörigen, spezifischen Probleme entstehen. (Ich denke jedenfalls, ein solches Studieren von Twitter könnte man sich auch in einer Uni-Abschlussarbeit zutrauen.)
Twitter ist unadressierte Kommunikation die selbstständig, durch ihre Form, nächste Autoren zum Verstehen, zu einer nächsten Kommunikationsofferte provoziert. Viele Tweets verlaufen kommunikativ im Sande, doch hin und wieder wird verstanden. Die Ordnungsleistung der Kommunikation wird in der Kommunikation selbst erbrachte, das lehrt Twitter anschaulich, wie kein anderes Kommunikationsmedium. Mit Tweets kann man niemanden zurufen, anbrüllen oder ansprechen (man kann aber sehr gut über Andere reden). Es bleibt nur die Möglichkeit der Provokation. Twitter ist daher für viele Lebensbereiche völlig untauglich, eröffnet aber einen ganz neuen: einen Raum, in dem „inhaltliches Verstehen (…) gänzlich unmöglich“ ist und sich die Einsicht durchsetzt, dass inhaltliches Verstehen (oder seine Unterstellung) auch nicht (mehr) notwendig ist.
Inhaltliches Verstehen ist ein höchst individuelles Problem, um dass sich die Kommunikation nicht kümmert, weil sie darauf nicht angewiesen ist. Sie kann blockiert werden, wenn Nachfragen zur Aufklärung die konstruktive Weiterbehandlung eines laufenden Themas verhindern. Twitter widersetzt sich einem solchen Reflexionsversuch. Die Kommunikation auf Twitter integriert sich über #Themen, deren Abarbeitung sich nicht stören lässt. Wer eine Rückfrage hat, kann auf Antwort hoffen, er kann aber nicht das Mikrofon für sich beanspruchen und die anderen „Anwesenden“ zur Aufmerksamkeit zwingen. Der beste Phänotyp für derartiges Kommunizieren sind die durch Twitter geprügelten Wortspiel-Meme.
Es bleiben aber dennoch, mindestens, zwei Dinge offen. Das Angebot von Twitter, ohne Adressierungsdruck Kommunikation zu ermöglichen, kann genutzt werden, um den ganzen Vorteil der unauffälligen, belästigungsfreien Kommunikation ins Gegenteil zu verkehren. Die 140 Zeichen reichen nämlich durchaus, indirekt zu adressieren, in dem man nicht mit jemandem, sondern über jemanden per Twitter spricht. (Dieses Problem ist hier gerade erst behandelt wurden.) Vielleicht könnte man die ganze Dramaturgie entschärfen, in dem man fordert, man müsse das Twittern und Twitter aushalten lernen. (Eine unzureichende Antwort, die auch nur für Pädagogen attraktiv ist.)
Wichtiger wäre noch die Frage, ob es demnächst ein Kommunikationswerkzeug gibt, das wie Twitter die Adressatenfrage, auch die Autorenfrage bei funktionierender Kommunikation offen lässt. Bekannt sind schon die Börsencomputer, die Informationen mitteilen aber den Autoren kaum mehr benötigen, weil nur noch Informationen (Preise) interessieren. In der Art gibt es viele Beispiele und viele Problematisierungsbemühungen von Dirk Baecker. Diese Kommunikationswege zeichnen sich aber alle dadurch aus, sachlich nicht besonders generalisiert zu sein.
Es bleibt also erstmal offen. Vielleicht überrascht uns demnächst ein konstruktives 4chan, das uns dann kommunikative Teilhabe ermöglich obwohl es uns vollständig ignoriert aber trotzdem für uns attraktiv ist. Aber diese Art der Kommunikation widerspräche dann wohl vollends der menschlichen Natur und würde von niemandem akzeptiert, obwohl sie von allen Kommunikationsmitteln wohl am einfachsten nutzbar wäre.
Wie auch immer. Erstmal gilt die Diagnose, dass sich derzeit, abgesehen vom Spielen mit Unterzweijährigen, nirgendwo risikoärmer Kommunikation üben lässt als bei Twitter. Wer nicht versteht, ist selber schuld. Twitter ist ein sicherer Ort.
(Seydel verweist in seinem allmorgendlichen Tweet übrigens auch auf sein etwas umfänglicheres Schriftstück: Die Form der Unruhe. Dessen Inhalt kenne ich aber nicht. Vielleicht will es mir jemand schenken?)
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