Protestieren gehen heute

Beim Lesen eines Textes zu politischer Partizipation (Deth 2009) entwickelte sich folgender kurzer Gedanke: Ausgangspunkt ist die Überlegung von Milbrath und Goel (1977:57) zu politischem Selbstvertrauen (‚political efficacy‘), das definiert wird als das Gefühl, dass man den öffentlichen Entscheidungsfindungsprozess beeinflussen könne. Wenn eine Person glaube, dass sie die politischen Entscheidungsträger oder öffentliche Themen beeinflussen könne, könne ihr Handeln als subjektiv wirksam bezeichnet werden.

Dies korrespondiert mit einem Gedanken Luhmanns, wonach erfolgreiche Kommunikation (meint: Übernahme ihrer Information als Prämisse eigenen Verhaltens) in der Regel unwahrscheinlich sei (Luhmann 1984:216). Diese Unwahrscheinlichkeit wirke als Schwelle der Entmutigung, welche dazu führe, dass eine für aussichtslos gehaltene Kommunikation unterlasse werde. Geht man davon aus, dass es sich bei Protest um eine ganz normale Kommunikation handelt, die das Nein überprivilegiert (Virgl 2011:16), also um die Kommunikation von Widerspruch, dann müsste man sagen können: protestieren geht man nur, wenn man daran glaubt, damit etwas verändern zu können. Das sich etwas verändert dürfte wiederum mit der Zahl der Protestierenden zusammenhängen: eine Demo mit 50 Menschen schafft es mit Glück in die Lokalpresse, eine mit 150.000 Menschen dagegen relativ sicher bis in die Tagesschau, womit sie sich von der Politik nicht mehr so einfach ignorieren lässt.

Bis vor kurzem musste man auf die Demonstration selbst gehen, um zu erfahren, wie viele andere Mitprotestierende sich einfinden würden. Damit ist ein gewisses Risiko verbunden, besteht doch die Möglichkeit, dass man feststellen muss, dass das Thema anderen nicht so wichtig ist und man seine Zeit besser hätte verbringen können, als durch die Fußgängerzone zu tapern und sich für seine offensichtlich nicht mehrheitsfähigen Ansichten belächeln lassen zu müssen. Eine Möglichkeit dieses Risiko zu vermindern liegt in Organisation: wenn beispielsweise SPD und Gewerkschaften zur Demonstration zum 1. Mai aufrufen, kann man vergleichsweise sicher sein, dass viele Genossinnen und Genossen diesem Ruf Folge leisten werden (allein schon auf Grund sozialen Zwangs: wer will schon auf der nächsten Ortsvereinssitzung erklären müssen, was es denn Besseres zu tun gegeben habe, als die gemeinsame Sache der Arbeiter voranzutreiben?). Mit abnehmenden Mitgliedszahlen dieser Organisationen, bzw. einer Ausweitung der Palette an Themen, für oder gegen die es sich demonstrieren lässt, verliert diese Form der Rückversicherung jedoch an Zuverlässigkeit. (Im nordafrikanischen/arabischen Raum, wo Proteste wohl ihren aktuell größten Wirkungsgrad erreichen, hat sie in dieser Form vermutlich nie bestanden.)

An dieser Stelle lässt sich nun das ‚Web 2.0‘ einhaken: zum einen eignen sich (Verbreitungs-)Medien wie Facebook, Twitter, etc. gut dazu, Aufrufe zu Demonstrationen schnell einem großen Personenkreis zugänglich zu machen. Zum anderen ermöglichen sie es aber auch abzuschätzen, wie die Beteiligung ausfallen könnte. 500.000 „Gefällt mir’s“ übersetzen sich zwar nicht in 500.000 Protestierende, wenn aber auch nur ein Bruchteil der Sympathisierenden ihrer Ankündigung Taten folgen lässt, ist mit einer stattlichen Demo zu rechnen. Hinzu kommt, dass man sich in dem guten Gefühl sonnen kann, mit der eigenen Meinung nicht alleine dazustehen (und für diese Annahme bessere Anhaltspunkte hat, als nur die Behauptung, für ‚die schweigende Mehrheit‘ zu marschieren). Zugleich dürfte die Wahrscheinlichkeit, dass eine von vielen geteilte Meinung dazu führt, dass sich etwas ändert höher sein, als bei eher randständigen Anliegen. Die Schwelle der Entmutigung liegt also niedriger und die Teilnehmerzahl entsprechend potentiell höher.

Facebook, Twitter, etc. unterscheiden sich also von klassischen Verbreitungs- bzw. hier: Mobilisierungsmedien (Flugblätter, Poster) dadurch, dass sie es zusätzlich ermöglichen Erwartungen in Bezug auf den von ihnen erreichten Mobilisierungsgrad zu bilden. Dadurch erhöhen sie unter Umständen die Zahl der Teilnehmer (durchaus auch in einem sich selbst verstärkenden Prozess) und damit die potentielle Wirksamkeit der Proteste. Anders gesagt: mit Hilfe von Facebook, Twitter und Co. lassen sich nicht nur viele Menschen schneller als per Flugblatt mobilisieren, sie bieten vielmehr noch eine eigene, zusätzliche Mobilisierungsleistung, indem sie eine Möglichkeit bieten zu entscheiden, ob es sich lohnt heute protestieren zu gehen (oder ob der Grad der gesellschaftlichen Unterstützung für ein Protestthema so gering ist, dass eine erfolgreiche Umsetzung der Ziele unwahrscheinlich ist).

Literatur:
Deth, Jan W. van (2009): Politische Partizipation, in: Viktoria Kaina und Andrea Römmele (Hrsg.): Politische Soziologie – Ein Studienbuch, Wiesbaden: VS Verlag, S. 141-161.
Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Milbrath, Lester W. und Madan L. Goel (1977): Political Participation. How and Why People Get Involved in Politics, Chicago: RandMcNally.
Virgl, Christoph J. (2011): Protest in der Weltgesellschaft, Wiesbaden: VS Verlag.

Bild: _ankor

3 Kommentare

  1. Stefan Schulz sagt:

    Es ist ja derzeit zu beobachten, dass die Polizei sogenannte „Facebook-Parties“ verbietet oder verlegt, obwohl sie noch gar nicht stattgefunden haben. Sie finden quasi im Facebook statt und bringen die Polizei schon im Stadium der Ankündigung zum Fürchten.

    Vielleicht gibt’s derartiges auch bald für politische Demonstrationen. Man kündigt eine Demonstration für nächstes Jahr an, in der Zeit bis dahin melden sich eine Million Mitprotestierer dafür an und schon die Ankündigung alleine bringt die Politik dazu, Zugeständnisse zu machen, woraufhin die Demonstration dann, vor ihrem Beginn, wegen Erfolg abgesagt wird. ;-)

  2. Guten Tag.
    Interessanter Artikel.
    Zum Teilaspekt Be-, bzw. Ent-mutigung muß ich allerdings sagen, dass ich dies für mich persönlich nicht als Kriterium gelten lasse. Es geht um meine ethischen Ansprüche, es geht darum, ob ICH für selbige einstehe. Ob da noch ein Zweiter sich dazu gesellt, oder noch 20 ooo- das ist uninteressant. Denkstrukturen in diese Richtung sind mir auch nicht geheuer. Diese Strukturen gehen mir zu arg in Richtung kalter, ökonomischer, kapitalistischer Ausrichtung. Ich bin hier nicht im „Kaufladen“, sondern auf dem Felde der Menschlichkeit und Humanität.
    MfG BukTom Bloch

  3. Kai Mürlebach sagt:

    @Stefan: wenn es so kommt, dann würde die Demonstration doch eher aus Angst vor ihrem Erfolg abgesagt, oder? Denn wie gesagt, viele Likes sagen noch nichts über die Teilnahme aus, nur über die Zahl potentieller Teilnehmer.
    Wie man bei den Pro-Guttenberg Demos gesehen hat, bei denen dann doch keiner auftauchte (vermutlich auf Grund von Manipulation [http://medienstratege.de/2011/03/alles-nur-ein-fake-neue-indizien-auf-gefalschte-guttenberg-fans/] )
    *edit* ich sehe grade wieder, wer lesen kann ist klar im Vorteil: könnte funktionieren, so wie Du meinst. Aber ob Menschen, die Sachen auf Facebook liken – eine Tätigkeit mit geringen Hürden – in der Mehrzahl so reflektiert sind, dass sie sich mit den erreichten Kompromissen zufriedengeben und nicht auf die ursprüngliche Maximalforderung beharren? Erfahrungen mit Trollen scheinen dagegen zu sprechen.

    @BukTom Bloch: Ihre Haltung ist, ohne Ihnen zu Nahe treten zu wollen, natürlich ‚die Richtige‘ in einem normativen Sinne. Natürlich muss man kommunizieren, dass man aus Überzeugung an einer Demonstration teilnimmt. Würde strategisches Denken an dieser Stelle zugegeben, würde auch jegliche andere Kommunikation unter einen verstärkten Motivverdacht fallen.
    Die Kritik einer ‚zu ökonomischen‘, inhumanen Denkweise wird gegenüber der Systemtheorie ja häufig erhoben.
    Geht man allerdings nicht von lokalen Gegebenheiten aus (in Westeuropa hat es in der Regel – aktuelle Ausnahme vll. Dresden, aber so ein Fall wird gleich (zu recht) skandalisiert – keine negativen Auswirkungen zu demonstrieren), sondern blickt man etwa in den arabischen/nordafrikanischen Raum wird etwas anderes deutlich: dort bietet die Möglichkeit, das Maß der Teilnahme im vorhinein abschätzen zu können Sicherheit. Eine kleine Demonstration lässt sich schnell auflösen, erst eine große Demonstrantenmenge bietet (vergleichsweise) Sicherheit. Hier könnte eine weitere These anschließen, dass in autoritären Staaten Demonstrationen wie gesehen erst möglich werden, wenn man erfahren kann, dass die eigene Meinung von vielen geteilt wird.
    MfG kmu

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