Solidarische Entsolidarisierung

In der heutigen F.A.Z. ist im Wirtschaftsteil ein kleiner Text („Eine Frage der Ehre am Golf“, S. 10) versteckt, der in den arabischen Ländern eine „geistige Revolution“ beobachtet: „Auch in den Golf-Staaten nimmt die Komplexität des Wirtschaftens zu, und eine Vielzahl neuer gesetzlicher Regelungen, sei es zum Kapitalmarkt oder zum Konkursrecht, wird dieser Komplexität gerecht.“ Das Recht gewinnt an Bedeutung und löst andere Mechanismen der (wirtschaftlichen, herrschaftlichen) Verhaltensorientierung ab: „Gerade die „Arabellion“ und die Umwälzungen in der arabischen Welt zeigen, dass sich die Jugend nicht länger dem Begriffspaar „Macht/Furcht“ fügen will.“

Das ist aus ziemlich vielen Perspektiven hochinteressant. Denn es zeigt, und die journalistischen Aussagen sind Reformulierungen eines Unternehmers, der seit 20 Jahren vor Ort ist, dass zu vielen historischen Zeitpunkten und in vielen Kulturen dieselben evolutionären Mechanismen greifen, wenn sich Gesellschaften verändern und entwickeln: Menschen begegnen einander und beschleunigen die Zirkulation von Gütern und Ideen mit Hilfe von Geld. Es entsteht ein Wirtschaftskreislauf und in dessen Schlepptau Ungleichheit. Jeder Marktteilnehmer zeichnet sich durch sein eigenes Haben/Habenwollen-Profil aus und mit jedem Kontakt verschieben sich diese Asymmetrien unter den Marktteilnehmern.

Funktionierende Märkte ruhen auf den wirtschaftlichen Asymmetrien ihrer Teilnehmer. Aber auch auf Erwartungssicherheit, die nicht durch jedes individuelle Crossing der Linie zwischen Haben und Habenwollen umgekehrt wird. Sie benötigen die Hilfe des Rechts, das die wirtschaftliche Asymmetrisierung stabilisiert, indem sie sie ignoriert. Der F.A.Z.-Text handelt von dieser Etappe. Wenn die wirtschaftlichen Interessen anspruchsvoller werden, wird das Recht komplizierter und die Gesellschaft insgesamt, die Wirtschaft und Recht nicht parallel, sondern zirkulär baut, komplexer. Die nächste Evolutionsstufe besteht darin, die Asymmetrien des Rechts wiederum extern abzusichern. Dies gelingt mithilfe der Politik.

Man kann es erstaunlicherweise bei so unterschiedlichen Autoren wie Jürgen Habermas, Max Weber und Niklas Luhmann auf ähnliche Weise lesen: (1) Wirtschaftliche Asymmetrien stabilisieren sich im Recht. (2) Rechtliche Asymmetrien stabilisieren sich mit Politik. Und (3) politische Asymmetrien werden, so die historisch aktuelle Lösung, per Demokratie im immer nur vorläufig entschiedenen Konflikt abgesichert.

Nun zum eigentlichen Anliegen:

1. Im arabischen Raum versucht man derzeit die Geschichte auf den Kopf zu stellen und mit Demokratie anzufangen, um durch sie Recht und Wirtschaft zu befeuern. Diese Idee der „Demokratieverordnung“ hat jedoch, vom historischen Sonderfall Deutschland abgesehen, bislang nie und nirgends funktioniert. Demokratie bleibt eine Reaktion auf innergesellschaftliche Komplexität, egal welche individuellen Wünsche vorherrschen. Das dies auch heute im arabischen Raum so ist, zeigt der Bericht aus Dubai und Abu Dhabi. Demokratie ist sinnlos, wenn die Hälfte des Volks nicht an der Wirtschaft teilnimmt (das gilt auch für Spanien und Griechenland).

2. Wenn man unter rechtsstaatlichem Recht versteht, was man heute unter Recht verstehen sollte, bedeutet es vor allem eins: Entsolidarisierung! Rechtsfindung, egal ob sie sich mit politischen, wirtschaftlichen, familiären oder sportlichen Themen befasst, bedeutet vor allem: Blindheit gegenüber den beteiligten Personen, gesellschaftlichen Rollen und gesellschaftlichen Verflechtungen. Rechtsstaatliches Recht kennt nur seinen eigenen Rechtstext und seine eigene Verfahrenslogik. Es kann nur evolutionär wachsen und wird durch Revolution bedroht.

Dass sich mithilfe eines auf Solidarität beruhenden Volksaufstands ein Rechtsstaat erfolgreich herstellen ließe, ist ebenso unwahrscheinlich, wie eine per Krieg herbeigeführte Demokratie. Ohne das Fundament Wirtschaft und wirtschaftliche Teilnahme sind die Versuche reine Übungen.

(Ergänzende Erklärung: Die Idee des „Vorsprungs“ der okzidentalen Gesellschaft steckt im obigen Text drin. Aber nur, weil es mir zu mühsam war, sie herauszuargumentieren. Der arabische Raum muss historisch nicht zwingend auf das europäische Demokratiemodell zulaufen und China wird es, das ist heute schon sichtbar, auch nicht. Die vorgestellte evolutionäre Logik gilt denke ich dennoch.)

(Bild: Vladimer Shioshvili)

22 Kommentare

  1. awj sagt:

    die Bereitschaft zum Rechtsstaat – und somit das Entsagen von Macht/Furcht – kann durchaus über den (für diesen Fall) paradoxen Zustand der Solidarität initiiert werden. Auch wenn es natürlich keine hinreichende Bedingung ist, aber, zumindest doch eine Notwendige.
    Die in allen Berufen sich einstellende kognitive Dissonanz – oder, im aufgeklärten Falle: kontrollierte Schizophrenie – stellt sich dann, wenn Person XY in Ämtern steckt, sehr schnell und schnell genug ein um das Gesamtsystem „Funktionsysteme“ aufrecht zu erhalten.
    (ein kleiner Erfahrungsbericht:
    http://www.weissgarnix.de/2011/07/04/zeise-sieht-verschworer-am-werk/#comment-120736 )

  2. Stefan Schulz sagt:

    Ich argumentiere eigentlich genau gegen diesen Punkt. Die Bedingung des Rechtsstaats ist eben nicht die individuelle Bereitschaft zu seiner Initiierung.

    Die Bedingung des Rechtsstaats ist, dass eine hinreichende Mehrheit ihre wirtschaftliche Prosperität bewahren möchte. (Auch und gerade vor sich selbst.)

    Über den Weg der Zustimmung erreicht man nur sehr prekäre Sozialmodelle. Beispielsweise, weil sich alle gegenseitig kennen müssen. Oder, weil seine Regulierung sehr zeitaufwändig ist. Der moderne Rechtsstaat ist kein Sozialmodell des Vertrags zwischen Individuen. Kinder müssen ihrer Strafmündigkeit ab 14 nicht zustimmen.

    Ihr Erfahrungsbericht adressiert ein anderes Problem, das auf Organisation referiert. Anders als die Gesellschaft kennen sie Hierarchien, Zweckorientierung und Formalisierung – weil Exklusion stets eine konkrete Alternative ist.

  3. awj sagt:

    Günter Grass: „Ach, wenn doch nur Demokratie ohne Kapitalismus ginge“ – Andererseits wird er gerade von diesem mehr und mehr zerstört.

  4. Stefan Schulz sagt:

    Haben wir noch Kapitalismus?

  5. Awj sagt:

    Wie meinte Pispers so schön: Kapitalismus („hier“) – Finanzkapitalismus („dort“) — Wasser („hier“) – nasses Wasser („dort“)…
    Ansonsten: präfinales Stadium? Stamokap gepaart mit Banken-Kaputalismus?

  6. Awj sagt:

    Ist Ihre Darlegung nicht ein Beleg für Marx These, dass der Überbau letztlich nur (Herrschafts-)Ideologie ist?

  7. Stefan Schulz sagt:

    Ihre Anmerkungen fransen arg aus, um darauf noch zielführend zu antworten.

  8. awj sagt:

    jetzt seh ich erst: es war nicht mein Erfahrungsbericht – ich wollte damit nur ein Beispiel geben.

    Habermas spricht ja, soweit ich aus dem letzten Seminar noch weiß, nicht von Komplexitätszunahme innerhalb der Gesellschaft mit anschließendem Fortgang von Institutionalisierungen, sondern von Rationalitätszunahme innerhalb der Lebenswelt, die dann zur Komplexitätszunahme innerhalb der Systemwelt (Geld Macht) führt.

    Also eine umgekehrte Kausalrichtung, wie Sie sie beschreiben.

    Nun scheint mir die Zunahme von Rationalität (Gleichberechtigung etc.) doch dort gegeben zu sein – nur eben die Komplexitätszunahme innerhalb der Systemwelt (Recht etc.) gelingt nicht.
    Könnte der Grund hierfür nicht vielleicht eher das Verteidigen von alten Posten alter Eliten sein, als eine Paradoxie auf der Ebene der Einstellungen?

    Die Solidarisierungen, wie sie das Bild oben zeigt, ist ja auch keine persönlich Adressierte sondern eine symbolische, zum Zwecke des Ereichens eines politischen Ziels.
    mfG

  9. Stefan Schulz sagt:

    Ich weiss nicht, ob Habermas irgendwo direkt von „Kompelxität“ spricht. Man kann ihn aber reformulieren, wenn er davon spricht, dass „kulturelle Selbstverständlichkeiten“ des familialen Lebens „aufgestört“ werden. Sein Argument: Wenn das „soziale Mehrprodukt“ nicht mehr nur innerhalb von Familien (Beispiel: grundherrschaftliche familia), sondern zwischen Familien in Dörfern, Städten, der Gesellschaft zu verteilen ist (durch Trennung von Haus und Hof, Arbeit und Kapital) entsteht (zwangsläufig) Ökonomie. Der soziale Frieden muss dann, sozusagen interfamiliär, neu geregelt werden, so, dass die Bevorteilten die Armen nicht bis zum Exitus aussaugen, so, dass die Benachteiligten die soziale Ordnung, trotz ihrer Rolle, akzeptieren. Es geht in der Argumentation dann weiter mit „Herrschaft“, gefolgt von der Frage, wie diese Herrschaft (als soziale Ordnung, und nicht jede einzlene Herrschaftsentscheidung) legitimiert werden kann.

    … wie gesagt: Ökonomische Asymmetrie -> Rechtliche Asymmetrie (Herrschaft als soziales Ordnungsprinzip) -> Politische Asymmetrie (Legitimation).

    Ihr verweis auf das Bild ist interessant, denn es zeigt den Gegenpol meines Textes auf. Denn wenn der Rechtsstaat einmal geschaffen ist und die Entsolidarisierung gelang, bietet sich die Möglichkeit, sich wieder zu solidarisieren, um beispielsweise gegen Atomkraftwerke zu streiten, die rechtsstaatlich abgesichert laufen.

  10. Siri sagt:

    „Der moderne Rechtsstaat ist kein Sozialmodell des Vertrags zwischen Individuen. “

    http://de.wikipedia.org/wiki/Vertragstheorie

    Das alles also auf den Müll?

  11. Stefan Schulz sagt:

    Nicht auf den Müll, ins Museum (da hast du es ja auch gerade hergeholt). (Das gilt aber nur für die (1) moderne (2) Gesellschaft)

  12. Siri sagt:

    Du meinst also die arabische Revolution baut auf dem gleichen Irrtum wie die Theorien Hobbes, Kants, Lockes, Rousseaus und Rawls, die ihrerseits die Demokratie eher behinderten als förderten?

  13. Stefan Schulz sagt:

    Das ist eine schöne Frage. Um sie beantworten zu können fehlen nur die Angaben zu Problemstellung, Prämisse, historischer Zuschnitt, These und Argument.

  14. Siri sagt:

    Die Frage nach Problemstellung, Prämisse, historischer Zuschnitt, These und Argument einer Frage (wie der Deinen „Haben wir noch Kapitalismus?) zu beantworten ist Aufgabe des Antwortenden. Hier kann er sein improvisatorisches Geschick unter Beweis stellen. Aber anders:

    „Diese Idee der „Demokratieverordnung“ hat jedoch, vom historischen Sonderfall Deutschland abgesehen, bislang nie und nirgends funktioniert.“

    Nehmen wir noch den Sonderfall Frankreichs dazu und den Terror der französischen Revolution. Möglicherweise ließen sich noch mehr Sonderfälle aufführen. Was mich an Deiner Herangehensweise stört, ist, dass du eine „richtige“ Evolution („so herum allein entsteht Demokratie, andersrum nicht!) einer falschen gegenüberstellen willst. Meiner Meinung nach gibt es gerade für den Evolutionstheoretischen Ansatz kein richtig- und falschherum, keine didaktische Belehrungsmöglichkeit…

  15. Stefan Schulz sagt:

    Verstehen ist Aufgabe (und Problem) des Lesenden. Du verstehst meinen Text oben nicht und ich verstehe deine Anmerkungen nicht…

    Ich rede nirgends von einer „richtigen“ Evolution! Sowas wäre doch dumm. Ich habe doch extra eine erklärende Ergänzung angehangen…

  16. Siri sagt:

    „Die vorgestellte evolutionäre Logik gilt denke ich dennoch.
    „Die nächste Evolutionsstufe besteht darin..“

    Die Aufzählung von Stufen, die wie Lernmodule zu absolvieren sind, um das Klassenziel zu erreichen, weil es immer schon so, und NUR so, funktionierte: das ist in meinen Augen „Sozial-Pädagogik“ keine Evolutionstheorie.

    Und ist die Unterstellung eines Primats der Wirtschaft mit systemtheoretischen Prämissen zu vereinbaren?

  17. Stefan Schulz sagt:

    Also. Die Evolutionslogik, die ich oben beschreibe, ist historisch vollständig neutral formuliert. Wenn du „Primat“ sagst, meinst du „Bedingungen“ – und da bleibe ich bei meiner obigen Aussage: Eine Bedingung von Demokratie ist Ökonomie für alle. Die Demokratie ist sozusagen eine Lösung für ein Problem, das Ökonomie hervorruft.

    Da rüttelt auch, mit provokantem Hintergedanken, hingeworfene marxsche Semantik nicht dran: Demokratie ist eine entökonomisierte Lösung des ökonomischen Verteilungskampfes.

  18. Siri sagt:

    Wenn man so ökonomistisch argumentieren wollte, was mir nie in den Sinn käme (denn es gilt genauso: Demokratie ist – das Versprechen auf – Recht für alle, Wissen für alle, Kunst für alle, usw), dann wäre der Ökonomiebegriff zumindest zu erweitern: es geht um (etwa im Sinne von Bourdieu) Zugriff auf Ressourcen oder Kapital: ökonomisches K., soziales K., kulturelles K., symbolisches K. Und in den Bereich das sozialen Kapitals fällt auch das Knüpfen von Kontakten, des sich Zusammentuns zum „Erwirtschaften“ gemeinsamer Ziele, usw.
    Eben dies wird ja mit Grund zu verhindern gesucht.
    Solidarisierung in diesem Sinne ist dann nichts anderes als die Gründung eines Unternehmens und die Anwerbung von Mitgliedern. French Revolution Enterprises ist ein bis heute erfolgreiches Franchising Konzept.

  19. Stefan Schulz sagt:

    Wenn du die Begriffe so aufblähst, ist das deine Sache. Ich weiss, viele erklären gerne alles auf einmal. Ich nicht, weil es so nicht geht.

  20. Siri sagt:

    „weil es so nicht geht“

    mir kam´s so vor als wäre es ganz gut gegangen…

    Es ist ja nun nicht so, dass ich Deine Belehrungen darüber, wie Demokratie NICHT geht und wie Erklären NICHT geht, etc, nicht grundsätzlich zu schätzen wüsste.

    Nur ist diese normativ-pädagogische Methode, per Verweis auf ein Modell (SO geht Demokratie, SO geht Erklären) und das Rügen der Abweichung intellektuelle Distinktionsgewinne zu verbuchen, leicht zu durchschauen. :-)

  21. Siri sagt:

    Darüber hinaus allerdings sind wir einer Meinung. LG, Siri!

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