Resonanz & Widerstände

Die Uni Bielefeld hat ihren eigenen Humor.

Als wir vor etwas mehr als drei Jahren hier angefangen haben, war die Idee ziemlich einfach. Wir wollten die Diskussionen aus unseren Uniseminaren konservieren und fortführen. Tatsächlich umgesetzt haben wir dann aber die noch viel einfachere Idee: Jeder schreibt einfach wann und was ihm beliebt. Das, was in Uniseminaren nicht geht und wofür man auch die ganze Härte eines Bielefelder Soziologiekolloquiums kassiert, hat sich als zentrale sozialtheoristische Idee herausgeschält: Beliebigkeitssoziologie. Oder wie Klaus Kusanowsky es neuerdings in anderem Kontext nennt: Assoziologie (es geht ums Assoziieren, nicht um Asozialität). Die Definition dessen ist recht einfach. Es geht darum, ein tagesaktuelles oder anders interessantes einzelnes, empirisches Phänomen, meistens eins das bereits massenmedial beobachtet wird, zu nehmen und es mit soziologischer Theorie zu konfrontieren. Eine Voraussetzung dafür ist die gründliche Theorieauslegung, doch genau das sollte nicht gleich übertrieben werden. Zumindest fehlten in meinen Texten immer die Quellenverweise und absoluten theoretischen Rückversicherungen. Denn zentral stand ein ganz anderes Anliegen: das Argumentieren einer Perspektive, die durch den Text allein anschlussfähig ist. Auch wenn es sich anders liest, genau dieses lockere Herunterschreiben, bei dem man sich an Lektüre erinnert, aber nicht zur Suche nach Seitenzahlen verpflichtet ist, stellte sich letztlich als extrem entspannend heraus. Zumindest kann ich sagen, das Füllen dieser Internetseite hat mir immer mehr Spaß gemacht. Ich würde fast sagen, am Ende ging es nur noch um die Freude – auch wenn die Themen anderes zeigen.

Freude auch deswegen, weil die Resonanz auf die Texte stetig zunahm. Je nach Thema ergaben sich immer wieder interessante Episoden, die die Sozialtheoristeninhalte in einen weiteren Diskussionszusammenhang stellten. Ganz zentral ist hier Klaus Kusanowsky zu nennen. Insbesondere, weil er häufig direkt antwortete, die Problemstellungen unterstützend aufgriff und doch inhaltlich stets im Widerspruchsmodus blieb. Sebastian Plönges bildet den zweiten Eckpfeiler. Man liest von ihm manchmal wochenlang nichts, doch dann ist er plötzlich da und kommentiert auf den Punkt. Die restlichen hin-und-wieder-Verlinkungen wurden, mir zumindest, immer weniger wichtig. Im März hatte mal das Bildblog einen Text verlinkt, daraufhin kamen beinah 2000 Besucher und gingen auch wieder. Meine Privatmeinung zu den Privatmeinungsverlinkungen breite ich an dieser Stelle nicht noch einmal aus.

Das sozialtheoristische Zwischenfazit läuft auf zwei Aussagen hinaus: 1. Das Internet bietet zu wenig Widerstand. 2. Das Resonanzpotenzial des Internets enttäuscht mich geradezu. (Ich hoffe, es ist an dieser Stelle klar, dass es sich im Folgenden um kein sozialtheoretisches, sondern ein sozialtheoristisches also beinah biografisch-privates Fazit handelt.) Zu 1. Ich habe lange überlegt, wie ich das mit dem konstruktiven Widerstand und dem Internet in Worte fasse, als ich eine gute Formulierung hatte, geschah Google+ und wir wundern uns gerade, weshalb plötzlich so disziplinierte Diskussionen möglich sind. Vielleicht hat Kathrin Passig recht, die die Ursache dessen im Initialisierungswunder sieht, vielleicht habe ich recht und das Potenzial für gute Diskussionen lag die ganze Zeit unter dem Technikwirrwarr vergraben, den Google nun abgetragen hat. Je nachdem, falls ich recht habe, habe ich mit Folgendem unrecht: Im Internet kann man keinen konstruktiven Widerstand aufbauen, es sei denn, man behilft sich mit Unhöflichkeit, lenkt so aber von der sachlichen auf die soziale Ebene. Ein eigentlich kaum auflösbares Problem. Dazu erstmal keine weiteren Worte, es muss abgewartet werden. Zu 2. Das Thema Resonanz hat ein wenig mit dem Widerstandsproblem zu tun. Hier kann ich meine Ansicht aber genauer fassen, weil auch Google+ da scheinbar nicht aushilft. Mit den Sozialtheoristen war nie die Resonanz zu erzeugen, wie ich sie mir idealtypisch wünschte. Anfangs haben wir Autoren uns gegenseitig die Texte kommentiert, doch das wurde uns schnell zu mühselig (im Vergleich zum üblichen Gespräch am nächsten Tag). Als die Seite etwas mehr Leser bekam, stieg die Anzahl der Kommentare. Doch die Texte, die mir selbst am wichtigsten waren, blieben beinah ausnahmslos bis heute unkommentiert.

Und das weißt peripher auf das eigentliche Problem, dass mich wirklich stört. Dass Habermas mit seinen Ideen einer diskursiven Gesellschaft nicht recht hat, lernen wir in Bielefeld im Studium. Doch das er so daneben liegt, dass selbst Hardcore-Luhmannianer sich darüber wundern, ist dann doch eine überraschende Enttäuschung. Wenn Thomas Strobl mir damals nicht per weissgarnix.de die Welt erklärt hätte, als sie akut erklärungsbedürftig war und wenn sich Frank Lübberding als Ko-Autor nicht so rührend um Europa kümmern würde und wenn, als Dritter im Weissgarnix-Bunde, Hans Hütt nicht immer wieder durch seine Themenwahl und Tiefenschärfe eine Rolle spielen würde – ich glaube ich würde die gesamte Blogosphäre an dieser Stelle für (am eigenen Anspruch) gescheitert erklären.

So etwas wäre natürlich grundfalsch, denn es gibt das interessante „Erlebnisbloggen“, für das Felix Schwenzel das Maß aller Dinge ist und Don Alphonso kommentiert ganz prächtig aus seinem Kannenkabinett – doch da bei Johnny Häusler schon längst die Luft raus ist, mich Mode- und Kinoblogs nicht interessieren, habe ich jetzt schon eine Ahnung, wie der mich interessierende Internetausschnitt nach dem 9. September aussehen wird: kahl. Ich wüsste gar nicht mehr, wo die Themen aus privater Perspektive behandelt werden, wo es mitzudiskutieren gilt und was zu diskutieren ist. Das ist die eine Seite, die andere ist, dass ich mir diese Resonanz wie sie die genannten bekannteren Webseiten erzeugen für die Sozialtheoristen nicht wünsche. 200 Kommentare pro Artikel, von denen die 10% Wertvollen mühsam zu finden und zu schützen sind, gegen die Flut gelangweilter Mitmacher und Lese- und Denkverweigerer. Ich will mich an dieser Stelle um keine wohlwollendere Bezeichnung bemühen.

Wie gesagt, das Internet hat mich enttäuscht, weil es als etwas anderes angekündigt war. Ich ziehe nicht so viel Sinn daraus, eine neue Gesellschaft auszurufen, nur weil ich jetzt schon am Tage der Verkündung erfahre, wie viele Pixel das nächste iPhone hat. Und die Meinung darüber, ob einer von 100 Zeitungsartikeln eine hyperspektakuläre Weltsichtsverwirrung enthält, weil der Autor mal wieder ‚nicht verstanden‘ hat, was doch so offensichtlich offensichtlich ist, interessiert mich überhaupt nicht. Ich will mich nicht weiter beschweren, genug Zwischenfazit. Na eins noch, Sascha Lobo hat die Texte hier als „schmerzhaft luzide“ bezeichnet – das ist ein wirklich schönes Kompliment. Ich kenne Sascha Lobo nicht persönlich, schätze aber seine Auftritte aller Orten, die ich als wichtiges soziales Engagement werte, auch wenn Einwürfe des Ego- & Privatmarketings zulässig sind (obwohl ich sie nicht teile). Das freut mich persönlich, es gibt aber noch positivere persönliche Dinge.

***

Im März, als Guttenbergs Abgang gerade Thema war, wollte Thomas Strobl einen Text von mir auf seine weissgarnix-Seite holen, um ihn dort zur Diskussion zu stellen. Ich erzählte ihm, dass ich gerade auf Volontariatssuche bin, und dass ich es begrüße, wenn meine Texte Resonanz erzeugen. Wenig später meldete sich Frank Schirrmacher bei mir und bot mir nach seiner Sozialtheoristen-Lektüre ein Volontariat bei der F.A.Z. an. Diese Woche bin ich nun nach Frankfurt gezogen. Während ich das hier schreibe, schaue ich aus dem Fenster und gucke den Flugzeugen am Horizont beim Starten zu.

Als ich gestern erstmalig im F.A.Z.-Gebäude war, fühlte ich mich fast wie in einer kleinen Uni-Bielefeld. Ein geschlossener Campus, überall geruhsame Geschäftigkeit und was Architektur und Mode betrifft alles etwa um den Faktor 10 ansehnlicher. Mehr verrate ich nicht, aber man hätte mich dort nicht freundlicher empfangen können. Der Abschied aus Bielefeld und dem dortigen universitären / lebensweltlichen Kontext ist mir nicht leicht gefallen, doch das gestrige Gespräch mit Frank Schirrmacher heilte viele Wunden. Wenn ich eine Lebensumgebung gesucht habe, dann die, die dort vorzufinden ist.

Am Montag beginnt meine Hospitanz und nächsten April das Volontariat. Das bedeutet für die Sozialtheoristen, dass es etwas ruhiger wird (zumindest von meiner Seite). Zukünftig stelle ich alle meine Themen und Texte unter „FAZ-Vorbehalt“. Zusätzlich wird die Textarbeit zukünftig natürlich nicht mehr im bisherigen Maße dahingeschrieben werden, wird also mehr Zeit in Anspruch nehmen und sich vielleicht ein wenig kannibalisieren. Ich muss an dieser Stelle aber nicht weiter über die Zukunft spekulieren, es ist mir offiziell erlaubt, mich weiter, auch von mir selbst, überraschen zu lassen. Zudem ist die berufliche Sache nicht die Einzige, die mir demnächst die Freiheiten und Widerstände neu ordnet.

***

Einen Sozialtheoristen-Text habe ich aber noch, zumindest habe ich schon drüber nachgedacht, als ich den neuen Kleiderschrank aufgebaut habe. Vielleicht gibt’s am Wochenende noch einen Nachklang zum Google-Thema. Mir ist aufgefallen, dass man zwischen Geräten, Gehirnen und Gesellschaft mehr unterscheiden muss. Zumindest darf man nicht die Technik auf der einen und die Menschen auf der anderen Seite einer Unterscheidung belassen, denn wenn wir uns fragen, was Google mit unseren Gehirnen macht, sollte vorher geklärt werden, was die Gesellschaft mit unseren Gehirnen macht. Sich per Google-Maps durch Gehwege zu navigieren ist nämlich, so wäre die These, bei Weitem nicht in dem Sinne und in der Radikalität artifiziell, wie einen Handwerker mit bedrucktem Pferdehaar dazu zu motivieren, eine Spülmaschine zu montieren, von deren Nutzen er gar nichts hat. Gehirne bleiben bei sowas außen vor, es sei denn, der Preis der Dienstleistung ist verhandelbar oder man will, obwohl man für die Tätigkeit bezahlt, ausnehmend gastfreundschaftlich sein und denkt sich dafür eine Strategie aus. Ziel ist, die Fragestellung zu schärfen, die ermitteln soll, was Google tatsächlich tut.

Und damit Sascha Lobo nicht wieder auf die Idee kommt, mir Solipsismus zu unterstellen, gibt’s ein paar Literaturhinweise obendrauf, manche 100 Jahre alt. Denn wenn, neben dem Allen, noch eine Frage zu klären ist, dann folgende: Wieso wissen wir so wenig, obwohl es so viele kluge Bücher gibt, in denen vieles, wenn nicht alles, schon drinsteht, wenn man sie nur richtig liest.

(Bild: Herr Herrner)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

16 Kommentare

  1. Enno sagt:

    Ich wünsche auf jeden Fall einen guten Start in Frankfurt!

    Zwei Anmerkungen noch: (1) Ich habe viel Anerkennung für dein Engagement in den letzten Monaten und Jahren hier bei den Sozialtheoristen und habe die allermeisten Texte gelesen (manche mehr, manche weniger gern… aber das ist ja so gewollt!). Weil wir anderen in diesem Zeitraum nur sehr spärlich mitgeschrieben haben, hattest du den Raum, die Sozialtheoristen mit einer „Assoziologie“ zu prägen. (2) Viele andere Texte (von Rena oder Henrik beispielsweise) hatten da einen anderen Anspruch und waren theoretisch, begrifflich und sprachlich – für einen Blog – anspruchsvoll. Auch diesen Stil finde ich legitim und vielleicht findet er jetzt mehr Platz, wenn er denn von anderen so engagiert genutzt wird wie du es getan hast.

    Ich selbst würde mir von mir selbst mehr Zeit und Muße für diese Art Texte wünschen. Aber durch mein Engagement im Forschungsprojekt und mit meiner eigenen Dissertation, bleibt halt wenig Gerhinschmalz über, um hier noch etwas beisteuern zu können.

  2. Stefan Schulz sagt:

    Ja, ich kann in dem Sinne empfehlen, es zur Entspannung zu tun. Die thematische Zwanglosigkeit kommt dem sehr entgegen.

  3. Danke für den schönen Kommentar. Aber eines interessiert mich wirklich:

    „Und das weißt peripher auf das eigentliche Problem, dass mich wirklich stört. Dass Habermas mit seinen Ideen einer diskursiven Gesellschaft nicht recht hat, lernen wir in Bielefeld im Studium. Doch das er so daneben liegt, dass selbst Hardcore-Luhmannianer sich darüber wundern, ist dann doch eine überraschende Enttäuschung.“

    Debatten in blogs wie bei uns sind der herrschaftsfreie Diskurs. Es kommt nicht darauf an, wer was sagt, sondern was und wie er es sagt. Die meisten schreiben anonym. Es ist nur kein akademischer Diskurs oder Ringelpietz mit Anfassen. Das was man nur lernen konnte: der herrschaftsfreie Diskurs ist nicht besser, sondern nur anders. Man sollte sich damit befassen, und sich fragen welche neuen Regeln man in diesem Kontext braucht. Und welche Rolle der Normativismus dabei spielt.

    Wäre das nichts für Frankfurt?

  4. Stefan Schulz sagt:

    Ja, zu Habermas Idee des Diskurses sehe ich es auch so, aber im Modell der deliberativen Demokratie sind auch inhaltliche Ansprüche mitgegeben. Und meine Kritik geht eher in die Richtung, dass im Internet zu wenig über die Gesellschaft selbst und ihre Teilbereiche diskutiert wird. Gäbe ja genügend Themen. Die Netzpolitik ist eine Ausnahme. Die EU-Diskussion finde ich zu schwach, dafür das so viel Schreibpotenzial im Internet umgesetzt wird. (Aber wie gesagt, dass ist in hohem Maße eine Privatmeinung, die mich soziologisch betrachtet nicht wundert. Und es ist ja alles nicht nur im Wandel, sondern auch im Entstehen. Es bleibt also, auch für mich, durchaus ein Thema.)

  5. „Modell der deliberativen Demokratie“

    Nur als Hinweis: Das war das Modell vor der Digitalisierung.

  6. kusanowsky sagt:

    Deine Enttäuschung über das Internet – mag sie vielleicht daher kommen, dass wir vielleicht stärker von einem Habermasprogramm geprägt sind als wir es zugestehen wollten? Denn schaut man darauf, wie sehr sich Hoffnungen und Ängste an die Entwicklung des Internets knüpfen – und die die jüngste Schirrmacher-Diskussion wäre nur ein weiteres Glied in einer langen Beweiskette – so möchte ich vermuten wie sehr eine Habermas-Soziologie auf die Selbstbeschreibung einer Gesellschaft angepasst ist, die sich über ein stolzes und furchteinflößendes Menschentum mehr irritiert als über die Bedingungen der Möglichkeit solcher Selbstbeschreibungen, die in jedem Augeblick ins Abseits geraten, wenn sie ihre Wirkmächtigkeit für alle Anschlussfindung bemerkbar machen. Dies meine ich insbesondere bezogen auf die Gutenberg-Galaxy. Und wenn nun unter dieser Voraussetzung und unter Beobachtung von Gewohnheiten, die eine funktional-differenzierte Gesellschaft entwickelte und über Massenmedien reproduzierte, das Internet zu benutzen und zu beurteilen ist, wenn es also ganz konventionell auf seine Zukunftsfähigkeit betrachtet wird, die ja immer verstanden wird als Kontinuität der Integration von Unterscheidungen, die eine Letztbegründung im Menschsein finden sollen, so kann man plötzlich feststellen, dass die Erwartungen andere sein müssten. Aber genau die kann niemand ändern. Insofern sind die eifrigsten Luhamannianern habermasianischer orientiert als sie es zu geben wollten. Diese Luhammnsche Art der Gesellschaftsbeschreibung ist eben genauso an die Gutenberg-Galaxy angepasst wie alles andere auch, weil nur unter dieser Voraussetzung die Selbstbeschreibung dieser Gesellschaft in der Soziolgie anders geraten kann. Aber was wäre, wenn die Ontologie der Gesellschaft sich ändert und eine Form annimmt, die in der System schon mitberücksichtigt ist? In dem Fall stünden die Luhmannianer da wie Dackel ohne Herrchen, ohne Gegenstand, ohne Widerstand. Sie müssten eigentlich unter solchen Bedingungen ihre Theorie ändern, aber das Zugeständnis am Scheitern einer Theorie war schon immer der Knackpunkt der Ideologie von Theorie unterscheidbar machte. Und mir scheint nicht nur die Luhmannianern wagen die Halteprobe auf Ideologie und Verderben, sondern die Gesellschaft überhaupt. Man nichts dagegen, dass sich etwas ändert, dies aber nur unter der Voraussetzung, dass alles so bleibt wie es ist.

  7. Stefan Schulz sagt:

    Ja, ich würde die Deutung aber eine Stufe pragmatischer ansetzen. Es hätte sich wohl mehrere Themen angeboten, den obigen Text zu schreiben. Die Enttäuschung über das Internet ist eine Variante, die Enttäuschung über die Seminarsoziologie eine andere, denn dort (meine Erfahrung) werden die Theorien durchgeprügel, ohne das auf Anwendungserkenntnisse Rücksicht genommen wird. In dem Sinne stimme ich deiner Beobachtung zu. Aber. Soziologie bleibt immer nur ein Beobachtungsangebot, wie sollte man sonst diskutieren können und was wäre das alles ohne Diskussion. Wenn man die Theorie orthodox auslegt, erblindet man, weil man dann nur noch mit der Theorie und kaum noch mit ihrem empirischen Erklärungspotenzial beschäftigt ist. Abstrichte zu machen ist also kein Problem, sondern das Wahrnehmen eines Angebots (und im Falle der Systemtheorie ein Anliegen von Luhmann, so habe ich es immer verstanden).

    In diesem Sinne, die Fortbildung des gesellschaftlichen Zeitungswissen ist eine interessante Aufgabe, weil sie auf diese Weise unfestgelegt ist. Weil der Anspruch eines Autoren an dem Anspruch einer Redaktion konturiert werden muss und weil, ganz simpel, jeder Tag ein neuer Tag ist.

    Als dritte Variante für den Text hätte es sich übrigens angeboten, zu sagen, dass mir die reine Beobachterrolle nicht mehr reicht, seit ich eine Tochter habe und ich, ganz menschlich, ihre Welt auch (bewusster Imperativ:) mitzugestalten habe, im Großen wie im Kleinen.

  8. Frank Schirrmacher sagt:

    Das Ideal 1995:
    Zeitungen fressen die Randdiskurse auf Compuserve Foren und werden gross und fett.

    Das Ideal 2005:

    Zeitungen fressen die Zentraldiskurse im Google-Net, die sie mit ihrer eigenen Substanz gefüttert haben, und schlachten die gemaesteten Diskurse vor dem Mittagslaeuten

    Die Situation 2011:
    Zeitungen sind ausgehungert und suchen nach den Hungrigen im Netz.

  9. Sebastian sagt:

    Lieber Stefan,

    ob das Drosseln des hier gepflegten (und in dieser „schmerzhaft luziden“ Form – in der Tat ein schönes Kompliment – einzigartigen) Sozialtheorismus die angemessene Reaktion auf die bisher nur mäßig eingelösten Versprechen des Internets sein mag, kann sicherlich diskutiert werden. Vielleicht war es nicht exakt jene Art gelehrter „Parallelpoesie“, von der Herr L. aus Oe. bei B. im dritten Band seiner Soziologischen Aufklärung einst schrieb. Aber sicherlich doch sehr präzise Textarbeit, die den dort diagnostizierten Bedarf nach einer „Zweitfassung“ befriedigt, „die alles noch einmal anders sagt und damit die Wissenschaftssprache in die Grenzen ihres Funktionssystems zurückverweist“ (200f.) – eine ebenso lohnens- wie lesenwerte Ergänzung zur herkömlichen Seminarsoziologie. Dass sich mit Deiner Entscheidung die Gesamtzahl der von mir regelmäßig freudig erwarteten RSS-Feeds auf einen Schlag um exakt 1/3 reduziert, muss dann vielleicht auch gar nicht mehr erwähnt werden.

    Aber Du schreibst ja selbst, dass es sich bei der Internet-Malaise nur um einen von mehreren möglichen Aufhängern für diesen Artikel handelte – und entsprechend erspare ich uns allen etwaige Umstimmungversuche. Und möglicherweise ist das auch alles gar nicht wirklich schlimm. Was uns so oder so bleibt: empirisches Material in großer Zahl für weitere Studien zur dysfunktionalen Differenzierung der Gesellschaft, prototypisch und lokal isolierbar unter Bedingungen des Internets. Ganz ohne Zynismus: das ist doch auch schon mal was.

    Und da jede Seite ja bekanntlich zwei Medaillen hat (M. Basler): Vielleicht muss halt doch das (leider soeben ausgelaufene und bisher nicht verlängerte) FAZ-Abo reaktiviert werden. Oder Du bekommst eines dieser tollen Blogs bei denen, wie Weissgarnix auch. Wir werden sehen. Danke jedenfalls für drei Jahre angewandten Sozialtheorismus und alles Gute in Frankfurt. Die Chancen stehen gut, dass sich der Versuch für beide Seiten lohnt. Ich schließe aber mit P. Gascoigne: „I never predict anything and I never will.“

    P.S. Den 9. September-Link oben musst Du mir bei Gelegenheit noch mal erklären…

  10. Stefan Schulz sagt:

    (Der Link war falsch, im Text ist jetzt der richtige.)

    Ja, mal wieder auf den Punkt. Wenn ich als 14 jähriger mehr Geld gehabt hätte, hätte ich mir ein Paul Gascoigne Trikot geholt, nachdem er bei der EM 96 einmal so spektakulär am Ball und deutschem Tor vorbeigerutscht ist. ;-) Hatte es im Laden schon in der Hand, mehr als 50 Mark waren dann aber doch zu teuer… Aber es gehört immer noch zu meinen lebhaftesten Fussballerinnerungen (dieses Spiel Eng vs. Ger).

    Dieses Zitat passt ganz wunderbar. Schließlich fährt man mit allem am Besten, wenn man gut vorbereitet ist und sich trotzdem überraschen lässt, anstatt die Zeit mit Planung und Prognosen zu verschwenden.

    Eigentlich gibts kaum Grund zu sozialtheoristischem Wehmut, denn eigentlich ist es ja so, dass ich ab nächstem Montag so viel Zeit zum Schreiben habe, wie vorher nie. Das letzte Jahr war ich jedenfalls mehr Papa, während meine Frau dieses Karrierezeug gemacht hat.

    Und ab sofort beobachte ich die Soziologie ein bisschen von aussen. Könnte also sein, dass die obigen Diskussionen über die Zukunft der Soziologie aus ganz neuer Perpsektive hier demnächst breitgetreten werden, während ich in meinem massenmedialen Büro sitze. ;-) Wer weiss… über Seminar- und Unisoziologie gäbe es jedenfalls noch viel zu sagen, der Aufhänger ist auch ganz sicher die soziologische Aufklärung, die sich, wie man oben schön sieht, auch nicht immer ganz frei macht von Ansprüchen, auch wenn sie negiert werden, werden sie doch erwähnt – das sind ja schonmal genug Aufhänger für nächste Themenstränge. Die nächsten drei Monate ist aber erstmal lebensweltliche Hospitanz angesagt.

  11. Stefan Schulz sagt:

    Und was die FAZ-Abos angeht, die sind in jedem Fall zu (re)aktivieren!!! Es werden keine Ausreden zugelassen. ;-)

  12. Sascha Stoltenow sagt:

    Willkommen in Frankfurt, und wenn „die Gesellschaft“ enttäuschend ist, müsste das doch mit Hilfe der Gesellschaftswissenschaft erklärbar, die Soziologie konsequent auf sich selbst anwendbar sein – etwas, was ich im Übrigen bei Luhmann, White und Baecker gegeben sehe.

  13. konradi sagt:

    „… Zumindest kann ich sagen, das Füllen dieser Internetseite hat mir immer mehr Spaß gemacht. Ich würde fast sagen, am Ende ging es nur noch um die Freude – auch wenn die Themen anderes zeigen…“ – ein sehr wichtiger Satz, denn andere Blogger verwechseln Freude mit „Selbstmarketing“. WGN hat recht: Deinen Namen sollte man sich merken! – Viel Glück!

  14. Pansen sagt:

    Herr Schulz,

    Humor ist, wenn man trotzdem lacht.
    Ihr Geschwurbel ist nur ein weiterer Baustein des neoliberalen Gefasel.

    Viel Glück weiterhin als Rattenfänger…

  15. eiffe-wie-immer-höflich sagt:

    Hallo Herr Schulz,

    was soll denn an dem, was Sie öffentlich bloggen, SOZIOLOGISCH sein?

    fragt eiffe der bär
    wie-immer-höflich

  16. Dietmar Tischer sagt:

    Ich lese Sie hier erstmals und bleibe bei diesem Satz hängen:

    >… 200 Kommentare pro Artikel, von denen die 10% Wertvollen mühsam zu finden und zu schützen sind, gegen die Flut gelangweilter Mitmacher und Lese- und Denkverweigerer.>

    Dem ersten Teil des Satzes stimme ich zu. Er verweist auf die Ineffizienz von Blogs für diejenigen, die nicht Meinungsvielfalt und Unterhaltung, sondern Klärung suchen. Der zweite Teil stimmt so nicht, wenn Sie woanders davon reden, dass es interessantes Erlebnisbloggen gäbe. Die Mitmacher, die Sie mit „gelangweilt“ belegen, sind nicht gelangweilt. Dafür sind sie in der Regel viel zu aktiv am Blog. Für sie ist Bloggen eine Bühne haben, um Anerkennung und Bestätigung zu erfahren oder sich abarbeiten zu können. Lese- und Denkverweigerer sind sie auch nicht. Sie lesen und denken auf ihre Weise, mit dem gleichen Recht wie Sie es tun, wenngleich vielfach auf einem anderen Niveau.
    Das Spiel – und ein Spiel könnte man es nennen – ist einfach: Immer wieder werden neue Kugeln angestoßen, die auf andere treffen, die wieder andere anstoßen … ein Billardspiel ohne Ziel und Ergebnis. Oder: Das Spiel selbst ist Ziel und Ergebnis.

    Sie sind meiner Ansicht auch auf diesem Trip.

    Mein Beleg dafür ist die Passage, mit der Sie Ihren Artikel zu Breivik in der faz.net abschließen:

    „Man kann Tat und Täter eigentlich nicht verstehen. Darum liegt es nahe, ihn für wahnsinnig zu erklären. Doch nicht unser Mangel an Antworten und Erklärungen verhindert das Verstehen, sondern der Umstand, dass wir nicht wissen, welche Fragen jetzt zu stellen sind und an wen.“

    Die Tat und den Täter nicht zu verstehen, heißt, dass wir nicht DAS oder DIE Erklärungsmuster haben, um etwa sagen zu können: Ist doch klar, dass er so ist und so gehandelt hat, weil dies oder jenes der Fall ist. Wenn das die Auffassung sein muss – und das muss sie sein nach den unzähligen Fragen, die Sie zuvor selbst gestellt haben –, dann enden Sie doch einfach mit dem ersten Satz dieses Zitats. Ich verstehe jedenfalls nicht, was der letzte Satz noch besagen will, wenn es offensichtlich AUCH unser Mangel an Erklärungen ist, den richtigen, zu denen auch die passenden Antworten gehören würden, der das Verstehen unmöglich macht. Wenn Sie Erklärungen, Fragen und Antworten so pirouettenhaft auseinander dividieren, stoßen auch Sie die Billardkugel an…

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