Der europäische Krisenzustand führt gegenwärtig zu aberwitzigen Ideen. Nach einem Jahr anhaltender Staatsschuldenkrise, kommt die Idee auf, ein Land könne wirtschaftlich bankrottgehen. Historiker verweisen derzeit sogar darauf, dass dies in den letzten beiden Jahrhunderten schon annähernd einhundert mal geschehen ist. Allein Griechenland war, seit seiner Unabhängigkeit 1829, schon fünfmal bankrott und gar die Hälfte seiner Bestehenszeit zahlungsunfähig. Und nicht nur in der neueren und neusten Geschichte wird das Phänomen scheiternder Staatlichkeit behandelt. Auch vor zweieinhalbtausend Jahren befasste man sich an gleicher Stelle wie heute mit den zeitlos drängenden Fragen.
„Was ist das Beste für den Menschen?“ fragte Chilon von Sparta etwa 590 v. Chr. das Orakel von Delphi und es antwortete mit seinem berühmten Satz: „Erkenne dich selbst.“ Chilons Zeitgenosse Solon, der Athener stellte eine ebenso heikle Frage: „Wie soll regiert werden?“ „Es ist deine Aufgabe, das Schiff zu lotsen. Nimm deinen Platz in der Mitte des Schiffes. Du hast viele Verbündete in Athen“ antwortete das Orakel.
Es wirkt verwegen, aber es ist es nicht, zu behaupten: Das Orakel von Delphi hatte das Rezept einer Krisenbehandlung, wie es heute fehlt. Und vielleicht könnte es helfen, die moderne Mathematik-Magie, mit der die Krise umfänglich aber unzureichend beobachtet wird, wieder einzutauschen, gegen die alte Orakel-Magie der Antike.
Denn Solon, der Athener, hat die Schuldenkrise seiner Zeit mit Hilfe des Orakelspruchs gelöst. Er erklärte die Schulden der Armen für ungültig, verbot die Schuldknechtherrschaft und bildete den Boule, einen 400 Mann starken Volksrat, der ein Gegengewicht zur Oligarchie bildete und heute als eine historische Etappe zur berühmten griechisch-antiken Demokratie gilt. Rückblickend wird ihm staatstragender Mut zugerechnet. Das Orakel bedeutete ihm nicht wie, aber doch das, durch ihn, zu handeln sei.
Und 2011 n. Chr.? Der griechische Staatschef Giorgos Papandreou fährt zu keinem Orakel, aber auch er bedient sich einer höheren Instanz. Eine Delegation der „Rettungs-Troika“ aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds hat das Orakel ersetzt und verkündet in der nächsten Woche mathematische Weisheiten, von denen das Schicksal des Landes abhängt. „Wie soll regiert werden?“ Ist die wieder aktuelle Frage, auf deren kommende Antwort mehr gewartet als gehofft wird. Sie wird gar gefürchtet. Und, so ließ es sich in der vergangenen Woche (Mittwoch) in den Zeitungen lesen, wird ihr auch eilig vorgegriffen.
Das Athener Finanzministerium hat 150 staatseigene Firmen beauftragt, jeweils eine Liste mit den Namen von 10% der Belegschaft aufzustellen. Die Genannten sollen anschließend für ein Jahr zur „Arbeitsreserve“ versetzt werden, in der Hoffnung, dass in dieser Zeit noch andere Lösung als die dann drohende Arbeitslosigkeit gefunden wird. Im Gesamten zielt dieses Regierungshandeln darauf ab, über eine Million Staatsbedienstete, also jeden Dritten in diesem Bereich, zu entlassen.
Ist dieses Vorgehen nun ein Zeichen politischen Muts? Soll es eine Etappe kreativer und konstruktiver Krisenbewältigung sein, die Bevölkerung zu beauftragen, demokratisch darüber zu befinden, wer aus den eigenen Kollegen- und Freundeskreisen die Bauernopfer zu erbringen hat? Ist das die neue, moderne Antwort auf die Frage: „Was ist das Beste für den Menschen?“
Vielleicht lässt sich mit Hilfe der Mathematik noch der ein oder andere Indikator in der anstehenden Volkswirtschaftsdiagnose schönrechnen. Politisch aber hat sich das Land, in dem die Demokratie erfunden wurde, für bankrott erklärt. Nicht weil es die falschen Ziele verfolgt, sondern weil es für diese Wahl der Mittel keine Politik benötigt. Das alle sozialen Kontexte ignorierende Herunterfahren des Staates um 10% lässt sich auch aus Brüssel erledigen.
(Bild: bryon.manley)