Dürfen, können, wollen (nicht)?

Drei andere Kategorien sozialer Ungleichheitsforschung

Die Situation von Frauen in Europa bewegt sich zwischen drei Positionen: Sie dürfen, können oder wollen nicht so richtig inkludiert werden wie ihre männlichen Artgenossen. Die gängige Zeitdiagnose ist: Der Heiratsmarkt sichert Frauen nach wie vor besser ab als der Arbeitsmarkt, schreibt Jutta Allmendinger in der neuesten Ausgabe Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ). Geschlecht sei eine der zentralen Kategorien bei der Untersuchung sozialer Unterschiede in vormodernen wie modernen Gesellschaften. Ihre Evidenzen generiert sodann die postmoderne Ungleichheitsforschung und Strukturanalyse methodisch weitgehend über multivariate Regressionsmodelle und qualitative Biografieforschung. Medial vielzitiert sind v.a. die OECD-Berichte über die Babies and Bosses, die sich auf eine umfangreiche Datenbasis stützen und dabei die Gewinne und Verluste politischer Programme unterschiedlicher Länder erheben, visualisieren und vergleichen.

Verbesserungswürdig für eine Absicherung auf dem Arbeitsmarkt sind in Deutschland im Verglech zu Frankreich oder Skandinavien insbesondere die ungleichen Kosten und Plätze für Kindertagesstätten und die ungleiche Entlohnung gleicher Stellen – der so genannte Gender Gap. Diese Sicht ist bereits ein Allgemeinplatz. Aber dann wird es schwierig mit der Identifizierung und Justierung der Stellschrauben zur Förderung und Forderung weiblicher Erwerbsarbeit, die im Laufe des Lebens immer wieder ineinandergreifen, sich verhaken oder festklemmen. Die Einsicht, dass beispielsweise frühkindliche Betreuung im Vergleich zu spätkindlicher benachteiligt wird, ist jedoch nicht erst seit der elektronischen Datenverarbeitung bekannt. Schon der wohl bekannteste Ungleichheitsforscher Karl Marx, der selbst um 1880 anhand einer Enquête Ouvrière die Zustände in Pariser Fabriken zu beschreiben und zu verändern suchte, mahnte, dass die Anzahl und Mittel staatlicher Alimentationen für Kinder mit deren Alter steigen. Für den Ausgleich von Ungleichheiten in der postscholaren Phase stehen unterschiedlichste Programme bereit: Es gibt erste, zweite und dritte Bildungswege, aber nur einen oder keinen in die Kindertagesstätte, Kindergarten oder Vorschule. Die Politik mag hier eine Wählerschaft vermuten, die sich nur selten an ihre frühen und kurzen Kindheitsjahre erinnert. Und wenn die Kinder erst einmal in Arbeit sind, vielleicht vergisst auch die Mutter die damit verbundenen materiellen und immateriellen Entbehrungen?

Vielleicht sind Bildungsinvestitionen in gewissen (vermeintlich technologiereichen) Wirtschaftssektoren auch teurer als in anderen (technologieärmeren)? Wenn ein Kuchen verteilt wird, bekommt der, der am lautesten schreit bekanntlich das größte Stück. Aber eigentlich schreien Kinder auch lauter als Schüler, Studenten, Arbeitnehmer oder Arbeitslose, zumindest aus Sicht der Mütter. Das ist kein politisches Plädoyer für ein für oder wider bestimmter Maßnahmen gegen bestehende und kommende Ungleichheiten. Bildungsmöglichkeiten – d.h. familiäre, freund- oder partnerschaftliche, schulische oder betriebliche – sind nicht zuletzt aufgrund ihrer so genannten Multiplikatorwirkung ein zu hohes Gut und Geschenk, als dass man sie gegeneinander ausspielen sollte oder rein quantitativ aufwägen könnte. Zu verwoben sind Lebensläufe allein schon mit wiederum ineinander verwobenen politischen Programmen wie Kinder-, Eltern-, Arbeitslosen-, Pflege-, Witwen- oder Krankengeld. Politik ist dabei Folge und Ursache von Ungleichheit wie Gleichheit zugleich.

Eine Kurzgeschichte der Bedingungsfaktoren weiblicher Erwerbsarbeit könnte überspitzt in einem Satz lauten: Zuerst durften sie nicht, dann konnten sie und dann wollten sie nicht (mehr). Über diese biografische und historische Tragik hinaus lassen sich die drei genannten Modalverben dürfen, können, wollen (nicht) aber auch den gängigen Disziplinen, denen sich Erklärungsversuche für geschlechtsspezifisch ungleiche Handlungsmöglichkeiten bedienen, zuordnen: Dürfen bezieht sich dann auf moralische, kulturelle und rechtliche Normen und Wertvorstellungen. Können verweist auf die biologischen, sozialpolitischen und wirtschaftlichen Barrieren, und Wollen auf die psychologischen und anthropologischen Erklärungs- und Beschreibungsversuche erfolgloser oder gar gänzlich gescheiterter Lebensentwürfe.[1]

Die Gemengelage an theoretischen Angeboten fokussiert dabei v.a. auf Ursachen für typische und atypische Verläufe weiblicher Erwerbsverläufe, die erst im Kontrast zur männlichen Normalbiografie als Abweichung konstruierbar und erkennbar werden. Unerklärt bleiben dagegen die Folgen: Aus sozialen Heterogenitäten müssen nicht zwangsläufig auch soziale Ungleichheiten resultieren. Dazwischen liegen keine kausalen Moderatorvariablen, sondern ungleich wirkende selektive Mechanismen. Beispiele sind persönliche und politische Skripte oder mediale Framingprozesse, die bestimmte Ungleichheiten wiederum erst in konsensbasierte Ungerechtigkeitsbegriffe übersetzbar und gesellschaftlich anschlussfähig und beobachtbar machen.

Dürfen, können und wollen verweisen dann nicht nur auf die interdisziplinären Stränge der Ungleichheitsforschung, sondern lassen sich auch als unterschiedliche Ausprägungen von Anpassungen auf unterschiedliche Gesetzestexte, Gelegenheiten und Gepflogenheiten interpretieren – sei es intra- oder intergenerational: Wer nicht darf, will aber. Wer nicht kann, will auch irgendwann nicht mehr. Und wer nicht will, kann auch nicht. Erst aus dieser Perspektive wird deutlich, dass sowohl Mann als auch Frau dem Wechselspiel von Möglichkeiten und Bedingungen von Herkunft, Bildung, Alter, Status oder Religion unterliegen UND sich dabei aber auch innerhalb der Kategorien bereits ungleiche Unterschiede ergeben dürfen, können oder wollen.

Foto: Marion Doss

[1] Ralf Dahrendorf unterscheidet beispielsweise bei denen an eine soziale Position gerichteten Erwartungen zwischen den der Gewohnheit folgenden Kann-, der Sitte verpflichteten Soll- sowie den rechtlich gesetzen „Muss-Erwartungen“ (vgl. 1964: 26-33. In: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. 4., erweiterte Auflag. Köln und Opladen: Westdt. Verlag)


 

Veröffentlicht von Rena Schwarting

Dr. Rena Schwarting ist International Postdoctoral Fellow am Seminar für Soziologie der Universität St. Gallen (Schweiz) und Gastwissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Politik der Digitalisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Schwerpunkte ihrer Forschungen sind Organisationsbildungen und Entscheidungsverfahren sowie der Einsatz von digitalen Technologien in und durch Organisationen. www.renaschwarting.de

2 Kommentare

  1. Stefan Schulz sagt:

    Haha, sehr gut! ;-)

  2. […] Ausrichtung) nicht vor einer Aufstiegsschranke stehen bleiben müssen, weil andere verhindern, dass sie dies dürfen, können und […]

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