
In einer meiner ersten Uni-Veranstaltungen, erstes oder zweites Semester, in einem Sozialpsychologieseminar, hatten wir mit der Dozentin festgestellt, dass es im Grunde keinen Altruismus gibt, weil sich jedes derartige Verhalten auf Egoismus zurückführen lässt. Glücklicherweise war das ein Ausflug in ein fremdes Fach, mein Studium war das der Soziologie. Obwohl ich, um den familiären Fragen auszuweichen, lange behauptet hatte, ich „studiere im Grunde nur Quatsch“, wusste ich ab diesem Seminar, dass ich gerade keinen Quatsch studiere und dass ein Merkmal dafür die Einsicht war, dass es auf gute Fragen eben nicht zwingend gute Antworten gibt. Wer seitdem Obiges (oder Ähnliches) behauptet, wird mit Skepsis beobachtet. Nicht, weil es inhaltlich falsch sein kann, sondern weil schon das Behaupten als solches falsch ist. Altruismus ist einer dieser Begriffe, der zwar pragmatisch benutzt werden kann, der aber keiner inhaltlichen Überprüfung standhält. Wir wissen nicht, was er sagt; wir können es uns nur immer wieder neu fragen.
Also: Gibt es Altruismus, und was hat es mit ihm auf sich? Helmut Mayer führte ein bemerkenswertes Interview mit dem Verhaltensforscher Michael Tomasello. Affen sind demnach zwar in der Lage, Perspektiven eines anderen zu übernehmen, doch sie tun dies nur in Konkurrenzsituationen. In Situationen in denen ihnen, aus unserer Perspektive, Kooperation weiterhelfen würde, verfallen sie in sozial hoffnungslosen Egoismus. Das ist vielleicht „echter“ Egoismus, weil ein Erkennen des anderen vorangeht, aber daran nicht konstruktiv angeschlossen wird.
Sollte man es so verstehen, fielen Altruismus und Kooperation begrifflich zusammen. Soziologisch korrekt wäre natürlich, jetzt anzumerken, dass mit Altruismus ein „selbstloses“ Verhalten gemeint ist. Im guten Sinne alter Theorien müsste aufgerechnet werden, ob ein Verhalten einem anderem mehr nützt als einem selbst. Bei (negativer) Asymmetrie des Nutzens läge Altruismus vor, bei symmetrischer Nutzenausbeute Kooperation. Aber wer denkt so? Der beobachtende Forscher vielleicht, der handelnde Alltagsbewältiger nicht. Er handelt einfach, ohne sich Gedanken zur zwischenmenschlichen Nutzenkalkulation zu machen und: Man opfert sich viel häufiger als man vermutet. Werden wir auf der Straße um Hilfe gebeten, helfen wir, und stellen unser Handeln für kurze Zeit ganz dem Nutzen eines anderen zur Verfügung, während wir Zeit und Kraft verbrauchen statt investieren, und nicht auch noch kalkulieren.
Nimmt man die Unterscheidung Bekannte/Unbekannte auf, kann man das Argument weitertreiben. Bekannten gegenüber sind wir um ein vielfaches hilfsbereiter. Natürlich weil immer zu vermuten ist, dass man sich wieder sieht und in kommenden Situationen die Rollen des Hilfsbedürftigen und Hilfsbereiten vertauscht sein könnten. Doch Menschen sterben auch füreinander, oder: gerade füreinander. Vor 200 Jahren kämpfte man im Krieg noch in Reihen. Unbekannte standen sich nicht nur gegenüber, sondern auch nebeneinander. Heute sind alle modernen Armeen in Primärgruppen eingeteilt und beuten damit ganz andere Potenziale aus. Soldaten müssen nicht mehr zum Sterben für ihr Vaterland gezwungen werden, sondern sie sterben spontan und freiwillig für ihre Kameraden. Nicht sehr selten werden Soldaten nicht hinterrücks getötet, sondern entscheiden quasi selbst über ihren Tod. Als die Primärgruppe als Ordnungsprinzip in den Armeen installiert wurde, machte man sich ein soziales Prinzip zunutze, von dem wir kaum wissen, wie es funktioniert.
Krieg betrifft extreme Situationen, aber in ihnen wird eben deutlich, was auch sonst gilt: „Im tiefsten Sinne sind wir soziale Wesen.“ Und wir wissen nicht, warum; prinzipiell nicht und auch ganz individuell nicht. Es sind mindestens zwei Sonderwege, die nur der Mensch beschreitet: Er ist zur Reflexion in der Lage und er kennt im Grunde keine klare Grenze zwischen Ich und Du. In der Liebe, also nicht sehr weit vom Krieg weg, ist es noch am auffälligsten: „Ich liebe dich“ ist die Formel, die „Wir“, und damit eine ganze eigenartige Grenzziehung, ergibt. Doch anders als die Popkultur es uns vorgaukelt, ist das „dich“ in der Formel nie eindeutig definierbar. Liebe ist auch ein Gefühl, das kommt und geht, so flüchtig wie Wut, Freude und Bestürzung; ohne nur bloße Zuneigung zu sein und ohne nur auf Personen zu zielen. Haben wir nur ein Gespräch geführt, ist die Welt schon eine andere, weil wir von uns aus eine neue Grenze zu ihr (der Welt) gezogen haben. Jemand wurde in unser Ich-Konzept aufgenommen oder ausgeschlossen. Und zwar ohne, dass man selbst darüber befindet.
Man kann sich darauf einigen, das Ich-Konzept prinzipiell umzubauen, um bei der obigen Feststellung zum totalitären Egoismus zu bleiben. Doch es hilft überhaupt nicht weiter, den Unterschied kognitiver und kommunikativer Systeme hier zu verwischen. Das „Ich“ ist nicht nur ein Wahrnehmungsapparat, der sich eben freut, wenn er anderen hilft; und nur deswegen hilft.
Es bleiben nur Fragen. Die Welt als Wille und Vorstellung, Wille und Vorstellungen als Wünsche, die über unsere physischen Grenzen hinausreichen und situationsabhängig flexibel sind – und kaum kommunikativ expliziert werden müssen. Herr Tomasello beschließt das oben verlinkte Interview mit einem Verweis auf seine aktuelle Forschung. Er möchte seine Erkenntnisse zu den Formen der Kooperation ins Verhältnis setzen „zur Natur menschlicher Moralität“. Ich habe lange keine derart interessante Fragestellung mehr gehört. Natur als quasi Gegenbegriff zur Kultur; Moral als die generalisierten Bedingungen der Achtung; Achtung als das primäre Ordnungsprinzip von Interaktion; Interaktion als Kommunikation unter Anwesenden; Anwesende als sich reflexiv Wahrnehmende, verstrickt in die einzige Möglichkeit, die Transformation von Unbekannte in Bekannte zu bewältigen; usw. Schon die spontane „Assoziologie“ verspricht viel.
(Bild: Paul Stevenson)
Update (19:30): Malte Welding behandelt die Frage: „Kann ich alleine mehr ich selbst sein?„
Schreibe einen Kommentar