Vergangene Woche fand in Bielefeld eine Tagung mit dem Titel „Dealing with the Disasters of Others“ statt*. Darin gab es einen Vortrag des britischen Historikers Stephen Mosley über „Disaster in Slow Motion„. In englischen Städten starben zum Ende des 19. Jahrhunderts etwa 100 von 100.000 Menschen an Bronchitis, weil die Städte von den Industrieanlagen und privaten Schornsteinen zugequalmt waren. Die Todesrate durch Luftverschmutzung war zwanzig Mal so hoch wie zu gleicher Zeit in anderen europäischen Ländern. Die Luftverschmutzung war fünfmal tödlicher als Krankheiten und Epidemien, um die sich damals die Medizin bereits im industriellen Maßstab kümmerte. 1905 hat man aus Fog und Smoke das Wort Smog geschöpft. Und am interessantesten: Der Zeitgeist hat diesen Zustand honoriert. Auf Panorama-Postkarten wurde der Smog betont, es gab Gedichte über „schmutzige Städte, die gedeihen“ und den „profitable dirt“, weil man sich darauf einigte: „Where There’s Smoke, There’s Money“.
Zur Sozialen Frage gesellte sich also ein Problem, dass einfach in der Luft lag und keinen direkten Schuldigen kannte. Denn es waren hier nicht die Fabrikbesitzer, die ihre Arbeiter ins Verderben schickten, sondern eben auch die Frauen zuhause, die, insbesondere montags, zum Waschtag, das Übel verursachten. Erst nach und nach fand ein Besinnungswandel statt. Die Gewerkschaften riefen die working class zu Veranstaltungen in Gemeindehäusern zusammen um sie darüber aufzuklären, welche gesundheitlichen Folgen der Smog hat und wie man sich vor ihm schützt. Die Aushänge unterscheiden sich nur in der Aufmachung von heutigen Aufrufen zu Veranstaltungen, die über Atomanlagen und Fluglärm aufklären.
Was wurde in den letzten einhundert Jahren erreicht? Die zweite Soziale Frage, die heutige Katastrophe der working class, gibt es (für uns) nur noch virtuell. Der Lebensstandard unserer „Wissensgesellschaft“ ruht noch immer auf Ausbeutung und der Nichtbeachtung vieler Facetten der Menschenwürde. Nur handelt es sich diesmal um die Katastrophe der anderen. Rechnerisch kommen wahrscheinlich auf zehn Technikkäufer in Europa ein Arbeitssklave in China. Auf jeden millionenschweren Softwareartisten in Amerika kommen einhundert kasernierte Hardewarebauer. Und wahrscheinlich verdient jeder der maßgeblich an der Kreation beteiligt ist mehr als alle, die die Geräte zusammenbauen, zusammen. Und das Zahlenverhältnis ist wahrscheinlich irgendwo bei 1 zu 100.000 zu verorten. 13 Mrd. Quartalsgewinn (Apple) macht, bei geschätzten 100.000 Foxconn-Mitarbeitern (Apple-Anteil), ein Jahresgewinn pro Person von etwa einer halben Million Dollar. Könnte man 10% davon als Lohn für Arbeit an die Menschen weitergeben? Nein, das macht man nicht.
Folgt man der Diskussion, gibt es dafür auch gute Gründe. Man kann Menschen, die 18 Stunden am Tag ohne Tageslicht und mit gefährlichen Substanzen arbeiten das Geld nicht geben weil… Weil es nicht üblich ist. Es ist nicht nur eine Katastrophe der anderen, sondern auch eine in slow motion. Alle wissen bescheid, alles bleibt wie es ist. Die deutschen Apple-Fanboys werden zu dem komplizierten Argumentationsstunt gezwungen die übliche „Apple ist besser, schöner und vor allem ganz anders“-Semantik in eine „Nicht nur Apple“-Rhetorik zu biegen. Doch gerade hier gilt, dass Apple hervorsticht. Apple war Vorreiter aller Entwicklungen, die derzeit in der Technologiebranche beobachtbar sind und dazu zählt auch die Deindustrialisierung der Entwicklerstandorte und die Kasernierung der Handarbeiter am anderen Ende der Welt.
Während die deutschen Apple-Fanboys (namentlich Tim Pritlove, mobilemacs und Martin Pittenauer, fanbóys) für ihren amerikanischen Podcast-Kollegen John C. Dvorak nur Hohn und Spott übrig haben, fiel dieser jüngst einer jungen Amerikanerin, die in erstaunlichem Ausmaß mit deutschem Zynismus ausgestattet ist, mit dem bemerkenswerten Satz ins Wort: „Capitalism is supposed to be fair!“
Nun kann man sich darüber streiten, ob er recht hat und wie man Moral und Achtung auch in Chinas Wirtschaft installieren kann. Doch man sollte die Zeit nicht weiter verschwenden. In allen großen Firmen, die hier mitschuldig sind, sitzen Menschen, die sehr genau beobachten wie man im Internet und sonst überall über sie spricht und die Veränderung setzt umso schneller ein, desto zügiger man den Zynismus ablegt! Auch Tim Pritlove trägt Verantwortung und es ist nicht schwer, in einem Podcast mal kurz zu sagen: „Was Apple macht, ist falsch und sollte geändert werden. Möglichst bald.“
(Bild: Alatryste)
* Besprechung von mir heute in der F.A.Z.
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