Wer arbeitet wirklich seine Readitlater-Stapel ab?

Das kann man so sehen. Ich habe es die vergangenen Jahre auch so gesehen, doch im Urlaub hab ich eine andere Beobachtung gemacht. Ich hatte nämlich nur zweimal am Tag Internet. Am Anfang, wenn wir das Hotel verlassen haben und an dem Haus vorbei radelten, das freies Wlan hatte und manchmal am Abend, wenn wir dort wieder vorbei kamen.

Und nachdem ich mir mehrere Wochen Gedanken darüber machte, wie sie nun zu lesen ist, die iPad-App der New York Times, hab ich es im Urlaub festgestellt: Als Tages- und Abendzeitung. Die NYT wird digital publiziert wie die Website, alles ist im Fluss. Wenn Texte fertig sind, landen sie im Internet. Öffnet man die App, findet man stündlich eine neue Zeitung vor. Allerdings bekommt man als Leser kaum eine Handreichung, hinter welcher der Überschriften sich die langen Denkerstücke, die Meldungen und die Kommentare finden. Nur die externen Opinions werden klar vom Rest unterschieden. Ich finde das nicht gut. Ich erwarte von einer Zeitung nicht nur Texte, sondern auch die Struktur eines Nachrichtentages thematisch, autorenbezogen, genre- und pfadabhängig sortiert.

Im Grunde liest sich das Internet besser, wenn man sein elektronisches Gerät für 15 Minuten in den Wlan-Wind hängt, die Apps sich alle auf den neusten Stand bringen, und man den so erreichten Füllstand als Ausgangspunkt für den Nachrichtenkonsum der nächsten Stunden akzeptiert, der dann nur durch Gelesen-Markierungen verändert wird. Denn der Fluss, der heute nicht mehr plätschert, sondern tobt, spült die Leitartikel davon, wenn sie älter als 90 Minuten sind, und lenkt die Aufmerksamkeit auf die kleinen Meinungsstücke, die im Fünfminutentakt kommen.

Die deutschsprachigen Zeitungen haben das Prinzip der Andruckzeit ins digitale übernommen, Springer, die so alles ausprobieren, hat laut Döpfner festgestellt, dass die Menschen die alte Art der Zeitung (Welt-App) der Flussidee (Bild-App) auch digital vorziehen, das wundert mich nicht. Die Sonne gibt den Takt vor, geht sie auf, beginnt der Tag.

Für Twitter funktioniert es so natürlich nicht, aber man darf sich nicht überrennen lassen. Es gibt zwei Testfragen, die der eigenen Orientierung dienen: 1. Man liest eine Zeitung, blättert sie direkt im Anschluss noch einmal durch und versucht sich allein anhand der Überschriften zu erinnern, was man gerade gelesen hat. 2. Man verfolgt den Twitterstrom und versucht sich am Abend anlasslos zu erinnern, was man den Tag über durch Twitter erfahren und gelernt hat. Die Erkenntnisse des Medienkonsums bestehen häufig darin, dass es witzig war, im Übrigen aber nichts Besonderes passiert ist. Das ist nicht verkehrt, es ist das Erfolgsmodell der Tagesschau bis heute. Doch es ist auch mehr möglich.

Denn durch den häufigen Wegfall der aufwendigen Verbreitungstechniken sind die grundlegenden Limitierungen nicht aufgehoben worden. Auch wenn sich Medien heute überall konsumieren lassen, ist das Lesen nur die eine Seite. Das Gelesene muss auch geschrieben werden. Und gibt man sich nicht mit ereignisorientierten Skriptergebnissen zufrieden, sondern möchte Denkerstücke lesen, die ihren thematischen Anlass nicht einmal als Suchbegriff mit sich führen, darf man sich nicht nur im Fluss der maschinenlesbaren Teasertexte treiben lassen.

Was daraus für den Alltag folgt, weiß ich nicht. Auch ich werde meine technischen Geräte nicht im Flugmodus betreiben. Aber solange die Technik so tut, als gäbe es keine Limits mehr, werde ich über die Disziplinierung meines Gehirns nachdenken.

(Bild: portable_soul)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

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