In einem bemerkenswerten kleinen Text zum Thema Hochfrequenzhandel äußerte sich heute Reto Francioni, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Börse AG, auf den Wirtschaftsseiten der F.A.Z. zu Wunsch und Wirklichkeit seines Handelsplatzes, den er inzwischen, folgerichtig, „Handelsplattform“ nennt. Wie ist das also mit dem HFT?
„Es wird – oftmals durchaus zu Recht – gefragt, welchen Nutzen der Hochfrequenzhandel für die Volkswirtschaft hat.“
Auf die Berücksichtigung dieser Frage folgt keine direkte Antwort, um die Volkswirtschaft geht es im fortlaufenden Text nämlich nicht mehr. Stattdessen werden die Vorzüge des HFT dargestellt.
„Elektronische Märkte haben gegenüber Präsenzsystemen, bei denen Aufträge von Maklern auf Zuruf ausgeführt werden, einen wesentlichen Vorteil: Sie erlauben praktisch uneingeschränkte Transparenz für alle Marktteilnehmer und verhindern so, dass Einzelne Intransparenzen für sich ausnutzen. HFT ist eine Technologie, die die am Markt vorhandenen Informationen im höchstmöglichen Maße nutzt.“
Man konnte Ende 2008, Anfang 2009 kurzzeitig den Eindruck gewinnen, dass sich die Händler und Wirtschaftswissenschaftler von der Idee der totalen Transparenz am Markt verabschieden. Denn der empirische Gehalt hat für diese Idee immer gefehlt und das hat sich bis heute nicht geändert. Es ist sogar noch schlimmer geworden, denn die Händler auf dem Börsenparkett, die es heute kaum noch gibt, waren Menschen mit Feierabend, Interessen und Freunden – sie unterschieden sich im Wissen, das sie von der Straße in die Börsenräume hineinbrachten. Dass die Börse „ganz viel Psychologie“ sei, das stimmte zu ihrer Zeit noch. Der HFT ist jedoch beinah ausschließlich selbstreferenziell. Welche marktrelevanten Nachrichten passieren schon in der Zeit zwischen 12:17:18:159 Uhr und 12:17:18:161 Uhr? Nicht viel, nur die Börsenkurse zucken in dieser kurzen Zeitspanne, der Rest der Welt geht in den zwei Hundertstelsekunden einen unmerklichen Schritt weiter.
Information, die sowieso nie in gottgegebener Reinform für alle die gleiche ist, ist nicht einmal mehr ein Kriterium, es geht nur noch um die Zeit. Die Millionen- und Milliardenaufwendungen, die heute in die Börseninfrastruktur investiert werden, dienen nicht der Versorgung mit Informationen, sondern der Absonderung von Orders. Wer der Erste ist, gewinnt. Wer der Erste ist, hatte recht. Und Recht wollen viele haben, sagt Francioni.
„Gemessen an der Zahl der ausgeführten Geschäfte, beträgt er auf Xetra, dem elektronischen Kassamarkt der Deutschen Börse, derzeit rund 40 Prozent. Dieser hohe Anteil unterstreicht, dass Firmen, die Hochfrequenzhandel betreiben, durch ihr Auftreten als Handelspartner wesentlich zu Preisfindung und Kapitalallokation an öffentlich zugänglichen Märkten beitragen“
Na gut, kann sein. Aber worin besteht der Vorteil genau (abgesehen davon, dass „öffentlich“ ein eher hinterfragungswürdiger Begriff an dieser Stelle ist)? Francioni sagt, der elektronische Handel ist besonders attraktiv für „Liquiditätsanbieter“, die an den kleinen Unterschieden von Ankaufs- und Verkaufspreisen verdienen. Soweit so unspektakulär. Aber Stichwort Liquidität:
„Höhere Liquidität wiederum senkt die Volatilität der Märkte, das heißt die Schwankungen der Aktienkurse. Von der höheren Liquidität und der dadurch besseren Preisqualität profitieren natürlich alle Anleger sowie auch die Realindustrie“
Das heißt übersetzt, das Prinzip, das die Börse maßgeblich bestimmt, ist die sogenannte „Weisheit der Masse“. Wenn sich nicht nur 5, sondern 500 mit der Beantwortung der Frage beschäftigen, wie schwer der Bulle ist, dann kommt man dem wahren Ergebnis erschreckend nahe.
Zum einen also geht der Börsenchef davon aus, dass es so etwas wie „echte Preise“ gäbe (der Bulle hat zwar ein messbares, über Zeit stabiles Gewicht, dem aber kein Preis auf natürlichem Wege folgt), die durch die Börse dann ermittelt werden können. Zum anderen übersieht er, dass ein – so gedachter – endgültiger Preis ja im Börsengeschäft gar keine Rolle spielt. Denn die Börse ist ja nur der Weg zu ihm, zu diesem Fabelpreis. Und diese Weisheit der Vielen ist ja deswegen so spektakulär, weil sie – was im Börsenhandel gerade nicht geschieht – die Limitation des Einzelnen, der sich mit den vielen anderen auf dem Weg befindet, übersieht. (Genau das Übersehen, der Fokus auf das Ergebnis, ist ja gerade der Punkt.)
Es ist ziemlich witzig, dass der Text nun darauf hinausläuft, dass der Börsenchef im letzten Textdrittel – trotz der Transparenzidee und trotz der schönen Liquiditäts/Volatilitäts-Wunderprinzipien – ausschließlich nach Möglichkeiten der Regulierung durch den Börsenhausherr (Plattformanbieter) sucht. Er begrüße den Vorschlag der Bundesregierung für ein „Gesetz zur Vermeidung von Gefahren und Missbräuchen im Hochfrequenzhandel“. Und jetzt raten wir, wo die Gefahren und Missbräuche herkommen. Antwort:
„Nun können Menschen nicht nur als Händler durch Fehleingaben Märkte aus der Balance bringen – sie können auch durch Fehler in der Programmierung Algorithmen aktivieren, die dann nicht so funktionieren, wie sie eigentlich sollten.“
Es bleibt also dabei. Egal welche Wunder die Wirklichkeit bereithält, man bleibt unbeirrt: Transparenz, Rationalität, Profit; die unsichtbare Hand; der maximale, rationale Markt. Allerdings, jetzt, da Information durch Zeit abgelöst wurde, ist wenigstens das Limit klar: Schneller als mit 300.000 Kilometer pro Sekunde wird nichts gehen, bei Lichtgeschwindigkeit ist Schluß. Wenn HFT – Francioni sagt, er hat den Begriff 2006 das erste Mal gehört – sich als ebenso irrationale, limitierte und fehlerhafte Art des Handelns herausstellt, wie jede andere zuvor, wird es kein weiteres Update mehr geben. Warphandel bleibt ein Märchen.
(Bild: Rick, der sich Gedanken darüber macht, wie ein Teilchen aussähe, wenn es schneller als Licht wäre.)
“Höhere Liquidität wiederum senkt die Volatilität der Märkte, das heißt die Schwankungen der Aktienkurse. Von der höheren Liquidität und der dadurch besseren Preisqualität profitieren natürlich alle Anleger sowie auch die Realindustrie”
Das heißt übersetzt, das Prinzip, das die Börse maßgeblich bestimmt, ist die sogenannte “Weisheit der Masse”.
Verstehe ich nicht. Höhere Liquidität bedeutet doch nicht automatisch mehr Marktteilnehmer, oder was ist hier mit „Masse“ gemeint?
Was soll denn mit ‚höherer Liquidität‘ sonst gemeint sein, wenn nicht mehr Geld im Markt durch entweder mehr Teilnehmer oder mehr Geld pro Teilnehmer?
Und was soll ‚Masse‘ schon bedeuten? (Vielleicht hätte ich korrekter Weise von der „Weisheit der Vielen“ sprechen sollen, dann wäre klar gewesen dass sie der „Dummheit der Wenigen“ gegenübersteht.)
„entweder mehr Teilnehmer oder mehr Geld pro Teilnehmer“ ja eben, beides mit Masse im Sinne von Weisheit der Vielen zu bezeichnen, leuchtet mir nicht ein. Bzw.: Ersteres ja, letzteres nein. Ich frage also nach Deinem Massebegriff. (Aus Interesse, nicht Dich um zu ärgern.)
Habe keinen besonderen „Massebegriff“, es geht nur um die Unterscheidung Viele/Wenige. Weiss auch nicht, warum ich „Masse“ statt „Viele“ geschrieben habe. Aber, gemeint ist: Mehr Geld bzw. mehr Transaktionen führen zu weniger Volatilität.
Warphandel hätte Einstein folgend den interessanten Nebeneffekt, das er in der Zeit rückwärts laufen würde. Ich würde zu vergangenen Preisen kaufen können!
Die Volkswirte haben über die Jahre eine erstaunliche Fähigkeit entwickelt, in ihren Theorien die reale Außenwelt auszublenden. Insofern würde ich mich nicht wundern, wenn am Warphandel nicht schon längst geforscht wird, weil dieser sicher noch und effizienter transparenter ist, als das HFT, weil er ja sogar zukünftige Marktentwicklungen einbeziehen kann!